Die ausgabe des Yâjnavalkya, welche ich hiermit den freunden des indischen alterthums übergebe, war ursprünglich bestimmt, eine sammlung zu eröffnen, in welcher ich wo möglich alle indischen gesetzbücher, ausser dem des Manu, im original mit deutscher übersetzung vereinigen wollte. Noch ehe ich im stande bin ein bestimmtes versprechen zu geben über die ausführung dieses planes, benutze ich die sich darbietende gelegenheit, dieses einzelne gesetzbuch herauszugeben.
Aus der grossen zahl dieser gesetzbücher sind bis jetzt nur diejenigen durch europäische bearbeitung unserer bekanntschaft theilweise näher gebracht, welche das eigentliche recht als einen bestandtheil enthalten, und dadurch wichtig sind für die praktischen juristen in Indien. Es scheint aber jetzt zeit zu sein, die litteratur der gesetzbücher in ihrem ganzen umfange in den bereich der forschung zu ziehen. Ein vergleichendes studium derselben muss nothwendig resultate gewähren, welche nicht wenig beitragen werden zur erkenntniss der entwickelung des indischen lebens. Indem ich mir vorbehalte, die bisherigen ergebnisse meiner studien auf diesem gebiete in einer reihe von abhandlungen über die litteratur der gesetzbücher im allgemeinen und über einzelne materien derselben mitzutheilen, will ich mich hier auf die nöthigsten andeutungen über das vorliegende gesetzbuch beschränken.
Das gesetzbuch des Yâjnavalkya ist, eben so wie die gesetzbücher des Manu und mehrerer anderer gesetzgeber, in verschiedenen redaktionen vorhanden gewesen, und wahrscheinlich noch vorhanden. Die indischen juristen citiren einen Brihad Yâjnavalkya und einen Vriddha Yâjnavalkya. In welchem verhältnisse die so bezeichneten gesetzbücher zu dem vorliegenden stehen, lässt sich aus den wenigen citaten, welche sich aus ihnen vorfinden, nicht bestimmen. Die in Europa vorhandenen hülfsmittel dürften auch wohl überhaupt nicht zur lösung dieser frage hinreichen. Bei ihrer wichtigkeit für die geschichte dieses zweiges der Sanskrit-litteratur ist es wünschenswerth, dass in Indien selbst nach den verschiedenen redaktionen der gesetzbücher geforscht werde. Aus dem gebrauche, welchen die indischen juristen von diesen verschiedenen redaktionen machen, geht hervor, dass diejenigen redaktionen der gesetzbücher, welche bloss mit dem namen ihrer verfasser, ohne weiteren zusatz bezeichnet werden, für das praktische leben schon seit langer zeit von überwiegender geltung waren.
Yâjnavalkya's gesetzbuch ist von mehreren commentatoren erläutert worden1. Als den ältesten commentar[4] nennt man den des Aparârka. Der verfasser stammte aus der königlichen familie der Silâras. Auf seinen ausführlichen commentar soll sich, nach Ellis, meistens Vijnâneśvara in seiner Mitâksharâ beziehen, wenn er meinungen anführt, ohne zu sagen, woher er sie nimmt. Als ein neuerer und kurzer commentar wird der des Śûlapâńi2 erwähnt, Dîpakalikâ betitelt. Er steht bei der bengalischen rechtsschule in besonderem ansehen, und wird daher auch häufig in Raghunandana's Smrititattva citirt. Ausser diesen werden noch commentare zu Yâjnavalkya's gesetzbuche von Devabodha und Viśvarûpa erwähnt. Wichtiger aber, als die genannten commentare ist die berühmte Mitâksharâ von Vijnâneśvara. Sie ist mehr als ein blosser commentar zum Yâjnavalkya. Sie hat sein gesetzbuch zur grundlage, beschränkt sich aber nicht darauf, dasselbe zu erklären, sondern discutirt zweifelhafte stellen ausführlich und scharfsinnig, und ergänzt da, wo nach dem standpunkte ihrer zeit irgend eine lücke erscheint, aus einer reichen litteratur von gesetzbüchern und anderen werken, so dass sie eine getreue darstellung des ganzen inhalts des gesetzes gewährt, wie sich derselbe zu ihrer zeit gestaltet hatte. Vijnâneśvara soll zu einer durch Śankara gestifteten sekte von Sannyâsins gehört haben, und da ein commentar zur Mitâksharâ wahrscheinlich im 14. Jahrhundert geschrieben ist, so würde die abfassung der Mitâksharâ zwischen das 9. und 14.Jahrhundert n. Ch. G. fallen3. Ihr ansehen ist gross und[5] weit verbreitet; sie gilt, wie Colebrooke4 sagt, in allen indischen rechtsschulen, von Benares bis zur südspitze Indiens, als die hauptgrundlage der von ihnen befolgten lehren, und als eine autorität, von welcher sie selten abweichen.
Es giebt mehrere commentare zur Mitâksharâ. Colebrooke hat vier erwähnt gefunden5, nennt aber nur drei namentlich: die Subodhinî von Viśveśvara Bhatta, nach Colebrooke's vermuthung aus dem 14. jahrhundert; einen neueren commentar von Bâlam Bhatta, und die Pratîtâksharâ von Nanda-Pańdita, dem verfasser des bekannten werkes über Adoption, Dattaka Mîmânsâ, und eines commentars zu Vishńu's Dharma Śâstra, betitelt Vaijayantî.
Von diesen zur erklärung des vorliegenden gesetzbuches dienenden werken hat mir keines, ausser der Mitâksharâ, zu gebote gestanden. Obgleich ich hinreichende gelegenheit gehabt habe, mich von Vijnâneśvara's gründlichkeit im allgemeinen zu überzeugen, bin ich doch seinen erklärungen stets nur nach strenger prüfung gefolgt. Man kann auch, wenn es sich um das verständniss der älteren gesetzbücher handelt, nicht vorsichtig genug sein in der benutzung der werke späterer juristen, weil der standpunkt derselben sie an einer unbefangenen, genauen auffassung der gesetzbücher hindert. Das bewusstsein einer allmähligen weiterbildung des gesetzes ist den Indiern nicht zu jeder zeit fremd gewesen, wie schon aus den verschiedenen gesetzstellen hervorgeht, welche Sir William Jones seiner übersetzung des Manu angehängt hat. In Parâśara's gesetzbuch heisst es (1, 22), dass die gesetze der verschiedenen zeitalter verschieden[6] sind, und zwar wird (1, 24) Manu's gesetzbuch dem Krita Yuga zugeschrieben, Gautama's dem Treta Yuga, Śankha's und Likhita's dem Dvâpara Yuga, und endlich Parâśara's gesetz dem Kali Yuga. Den späteren juristen aber erscheint die ganze Smriti, d.h. die aus der vorzeit überlieferte gesetzlitteratur, wie eine einheit, innerhalb welcher sie sich keinen widerspruch denken können. Um daher die wirklich vorhandenen verschiedenheiten und widersprüche zwischen einzelnen gesetzbüchern zu entfernen, nehmen sie nicht selten ihre zuflucht zu den gezwungensten erklärungen einzelner stellen der gesetzbücher.
Ein beispiel mag als beweis für diese behauptung dienen.
Yâjnavalkya leitet seine vorschriften über die gottesurtheile (2, 95) mit folgenden worten ein: »Wage, feuer, wasser, gift und das weihwasser sind hier die gottesurtheile zur reinigung; diese werden bei grossen anklagen angewandt, wenn der kläger zu einer geldstrafe bereit ist.« Dann giebt er einige allgemeine bestimmungen über die anwendung der gottesurtheile, und beschreibt endlich das verfahren bei jedem einzelnen derselben. Bei unbefangener betrachtung dieses ganzen abschnittes (2, 95 –113) lässt sich wohl nicht zweifeln, dass Yâjnavalkya die anwendung der gottesurtheile überhaupt nur bei grossen anklagen gestatten will, und dass er nur die fünf genannten arten von gottesurtheilen kennt. Auf dieselben fünf arten beschränken sich auch andere gesetzgeber, z.B. Vishńu, Śankha und Nârada. Dagegen finden sich in den gesetzbüchern[7] des Brihaspati und Pitâmaha neun verschiedene arten von gottesurtheilen erwähnt. Vijnâneśvara erkennt aber hierin keine verschiedenheit, welche sich erklären liesse durch die annahme, dass die zahl der gottesurtheile im laufe der zeit vermehrt worden sei, sondern er weiss die verschiedenen gesetzgeber auf andere weise zur übereinstimmung zu bringen. Yâjnavalkya, sagt er, führt die fünf oben genannten gottesurtheile an, nicht als wenn nur diese fünf existirten, sondern indem er hinzufügt: »diese werden bei grossen anklagen angewandt,« deutet er an, dass die übrigen bei geringen anklagen angewandt werden.
Ich könnte andere beispiele anführen, in welchen nicht bloss dem sinne, sondern auch den worten noch grössere gewalt angethan wird. Das obige beispiel wird aber hinreichen, um zu zeigen, dass man sich in der erklärung der alten gesetzbücher der leitung der indischen juristen nicht unbedenklich überlassen kann.
Das historische interesse, welches unsere Sanskrit-studien leitet, zwingt uns vielmehr, in graden gegensatz zu den indischen juristen zu treten. Nur die genaue auffassung der verschiedenheiten zwischen den einzelnen gesetzbüchern kann uns in den stand setzen, die stelle zu bestimmen, welche jedes derselben einnimmt, so wie auch die resultate zu ziehen, welche sich daraus für die entwickelung des indischen lebens ergeben.
Zu einer solchen arbeit habe ich mit der vorliegenden ausgabe des Yâjnavalkya den anfang machen wollen. Ich habe alle sorgfalt angewandt, die vergleichung des Yâjnavalkya mit dem Manu zu erleichtern, durch möglichst genaue anführung der parallel-stellen aus dem gesetzbuche des letzteren. Die vielfache übereinstimmung beider gesetzbücher in sachen wie in ausdrücken führt allerdings zu der[8] annahme, dass Manu's gesetzbuch dem gesetzbuche des Yâjnavalkya als grundlage gedient habe. Neben dieser übereinstimmung treten uns aber auch bedeutende unterschiede entgegen.
Yâjnavalkya enthält zunächst mehrere gegenstände, welche bei Manu gar nicht vorkommen. Als die wichtigsten von diesen erscheinen mir: Die verehrung des Gańeśa (1, 270) und der planeten (1, 284); die ausfertigung von urkunden auf metallplatten über schenkungen von land (1, 318); die einrichtung von klöstern (2, 185). Ob bei Manu eine polemische rücksicht auf die Buddhisten zu finden sei, ist wenigstens zweifelhaft. Ausdrücke wie: leugner, Veda-spötter (Nâstika, Vedanindaka) und ähnliche, sind zu allgemein, um mit sicherheit zu der annahme zu berechtigen. Wenn aber bei Yâjnavalkya ausserdem noch die kahlköpfe, die gelben gewänder, die lehre von dem svabhâva (1, 271. 272. 349) erwähnt werden, so wird sich eine darin liegende beziehung auf die Buddhisten schwerlich leugnen lassen.
Noch wichtiger für die auffassung des verhältnisses beider gesetzgeber zu einander ist die vergleichung derselben in denjenigen materien, welche beiden gemeinschaftlich sind. Wer z.B. das eigentliche recht und das gerichtliche verfahren bei beiden gesetzgebern vergleicht, wird nicht nur im allgemeinen bei Yâjnavalkya einen fortschritt zu grösserer schärfe und bestimmtheit wahrnehmen, sondern auch in vielen einzelnen punkten, in welchen beide wesentliche verschiedenheiten zeigen, Yâjnavalkya's standpunkt als einen späteren erkennen.
Um meine ansicht über das relative alter des Yâjnavalkya hier vollständig auszusprechen, füge ich hinzu, dass aus der vergleichung desselben mit anderen gesetzbüchern,[9] soweit mir diese bis jetzt vergönnt gewesen, es sich mir als wahrscheinlich ergeben hat, dass keins der anderen gesetzbücher in die zeit vor Yâjnavalkya zu stellen sei. Yâjnavalkya's gesetzbuch scheint mir also die nächste stufe nach Manu zu bezeichnen. Ich werde bald gelegenheit haben, die gründe für diese ansicht bei der bearbeitung einzelner rechtsmaterien näher darzulegen.
Schwieriger ist es, über das absolute alter des Yâjnavalkya zu einer entscheidung zu kommen. Die ansicht, welche Schlegel noch vor wenigen jahren mit zuversicht aussprach, dass Manu's gesetzbuch wenigstens tausend jahre vor Ch. G. vorhanden gewesen sei6, findet schon jetzt schwerlich noch einen anhänger. Die ganze litteratur der uns vorliegenden gesetzbücher ist offenbar in eine viel spätere zeit herabzusetzen, wenn auch ihr wesentlicher inhalt schon früher vorhanden war, und ihre vorläufer wahrscheinlich noch zugänglich sind. Was Yâjnavalkya's gesetzbuch betrifft, so ist das zweite buch desselben später wörtlich in das Agni Purâńa aufgenommen worden. Wilson erwähnt in seiner analyse dieses Purâńa, dass sich stellen aus Yâjnaval kya's gesetzbuch in inschriften aus dem 10. jahrhundert nach Ch. G. finden, und dass das gesetzbuch also eine beträchtliche zeit vor das 10. jahrhundert zu setzen sei7. Der umstand, dass sich stellen aus Yâjnavalkya's[10] Gesetzbuch im Panca Tantra finden8, berechtigt uns wohl nicht, das fünfte jahrhundert nach Ch. G. als die späteste grenze der abfassung zu setzen, da es der kritik kaum möglich sein wird, das Panca Tantra in seiner ältesten gestalt herzustellen. Ueber die früheste grenze des Yâjnavalkya lässt sich nur eine wenig sichere vermuthung aufstellen. Wilson hält es für möglich, dass die benennung einer münze, Nâńaka, von den münzen des Kanerki genommen sei9, und da sich dieses wort bei Yâjnavalkya (2, 241) findet, so würden wir etwa das zweite jahrhundert nach Ch. G. als früheste grenze für die abfassung seines gesetzbuches haben.
Ueber die kritischen hülfsmittel, welche mir zu gebote standen, geben die kritischen anmerkungen die nöthige auskunft. Der übersetzung hätte ich, ausser den parallelstellen aus Manu, gern einen ausführlichen commentar beigefügt. Aber wenn sich derselbe gleichmässig über das ganze gesetzbuch verbreiten sollte, so hätte ich die herausgabe des buches auf nicht ganz kurze zeit hinausschieben müssen. Ich habe es daher vorgezogen, zunächst das blosse gesetzbuch zu geben, und werde auch, wenn es mir vergönnt ist, mit den übrigen gesetzbüchern so fortfahren, um auf diese weise die grundlage zu einer ausführlichen darstellung des inhalts des indischen Gesetzes vorzubereiten.
[11] Manu's gesetzbuch hat, trotz der mehrfachen bearbeitungen, doch seinem wichtigsten inhalte nach bis jetzt lange nicht die berücksichtigung erfahren, welche es verdient. Wenn ausserdem das interesse auf dem gebiete der indischen litteratur im gegenwärtigen augenblicke sich vorzugsweise auf die wichtigen denkmäler der ältesten zeit wendet, so könnte es scheinen, als hätte ich für die herausgabe dieses gesetzbuches einen ungünstigen zeitpunkt gewählt. Ich fürchte das nicht, sondern hoffe vielmehr, dass die durch vergleichung beider gesetzgeber deutlich hervortretende geschichtliche bewegung nicht nur der gesetzlitteratur überhaupt grössere aufmerksamkeit zuwenden, sondern auch den wunsch erregen wird, die fäden aufzufinden, welche diesen zweig der litteratur mit der ältesten zeit verbinden. Diese aufgabe hat mir bei der beschäftigung mit den gesetzbüchern vor augen gestanden. Möchte es mir vergönnt sein, zu ihrer lösung selbst noch einiges beizutragen.
Breslau,
den 17. august 1849.
A. F. Stenzler.
1 | Ich nehme diese litterarhistorischen notizen aus den vorreden Collebrooke's zu seinen werken: A Digest of Hindu Law, Vol. I-III. London 1801. 8. und: Two Treatises on the Hindu Law of Inheritance. Calcutta 1810. 4. Einiges auch aus dem aufsatze von F.W. Ellis, On the Law Books of the Hindus, in den Transactions of the Literary Society of Madras. P.I. London 1827. 4. |
2 | In der königl. bibliothek zu Berlin, Chambers' sammlung, No. 328, findet sich: Prâyaścitta viveka von Sûlapâńi. Ist das vielleicht ein theil dieses commentares? oder gar der ganze commentar, und die unterschrift nur dem dritten buche angehörend? |
3 | Colebrooke, Inheritance, p. XI. |
4 | Colebrooke, Inheritance, p. IX. |
5 | Ebend. p. IV. |
6 | Zeitschrift f.d.K.d. Morgenl. Bd. III. p. 379. Utrumque librum, et legum codicem et carmen epicum, ut uno verba dicam, quod multorum annorum meditatio me docuit, septimo minimum ante Alexandri Magni aetatem seculo propagatum per Indiam fuisse, certissime statuo. Vel remotior Manûs et Vâlmîcis aetas mihi est indubitata. |
7 | Journ. As. Soc. Beng. Vol. I, p. 84. It is certainly not very modern, as passages have been found on inscriptions in every part of India, dated in the tenth and eleventh centuries. To have been so widely diffused, and to have then attained a general character as an authority, a considerable time must have elapsed, and the work must date therefore long prior to those inscriptions. |
8 | Y. 3, 11 steht PT. śl. 380 (p. 80 in Kosegarten's ausgabe), und Y. 1, 71. steht PT. 3, śl. 212 (p. 188). Auch PT. p. 149, l. 2. scheint sich eher auf Y. 1, 346 als auf Mn. 7, 160 zu beziehen. |
9 | Wilson, Ariana antiqua, p. 364. |
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