In allen, wie zu unsern Zeiten stehen und standen sich in der Erforschung des Alterthums zwei Ansichten feindlich gegenüber; man könnte die eine die priesterliche und die andere die des Laien nennen. Während der Priester seine Macht und sein Wirken einer persönlichen, über der Natur stehenden und sie unumschränkt beherrschenden Kraft zuschreibt, fühlt und behauptet der Laie, dass man die eigene beschränkte Kraft spannen müsse und solle, um das Ziel zu erreichen, dass kein Gott dem Menschen helfe, wenn er sich selbst nicht rühre und rathe. Während die Alterthumsforschung auf dem priesterlichen Standpuncte in dem Beginne, wie in dem Laufe der Zeiten eine Allmacht findet oder voraussetzt, die sich des sündigen, unvermögenden Menschen erbarmt, die ihm Geheimnisse offenbart, unumgänglich nothwendige zu seinem Wohlergehen, die er aber nimmermehr durch den eigenen Geist gefunden hätte, sieht der Alterthumsforscher auf dem Standpuncte des Laien in dem Anfange und Wechsel der Zeiten bloss Menschen und menschliches Wirken. Leichten Schrittes überschreitet die priesterliche Ansicht alle neunfach umflochtene Räthsel in der Culturgeschichte des Menschengeschlechtes: sie setzt lehrend und warnend den Herrn ans[1] Ende der Zeiten; sie findet ihn überall und in allen Jahrhunderten nachhelfend und verbessernd die unvollkommene Schöpfung. Mühevoll und langsam sucht hingegen der Laie die mannichfachen Kräfte und wundervollen Anlagen der Menschen zu erforschen: er setzt sich's zur Aufgabe, nachzuweisen, wie jene Thatsache das Erzeugniss dieser Kraft sey, wie aus jener Anlage naturgemäss diese Fähigkeit sich entwickelt habe; er strebt, mit einem Worte, das vielfach verschlungene Gewebe zwischen Leidenschaft und Vernunft, zwischen Licht und Finsterniss zu entwirren. Der Priester erniedrigt die Gottheit zum Menschen und der Laie erhebt den Menschen zur Gottheit.
Zeigt sich diese zwiefache Ansicht in den Forschungen über den Bildungsgang derjenigen Nationen, deren zahlreiche Denkmäler aller Art unserm Geiste näher stehen und allen Kundigen zugänglich sind; findet der Eine hier die deutlichsten Spuren einer grossartigen urzeitlichen Cultur, wo der Andere ein blosses Barbarengetriebe wahrnimmt und Pfaffentrug: wie viel mehr muss diess bei der geistigen Geschichte eines Landes oder Volkes der Fall seyn, dessen Quellen nur so Wenigen zugänglich sind, und selbst diesen Wenigen im Verhältnisse zu der unermesslichen Literatur des Mittelreiches nur nach einem sehr geringen Theile, wo es also gar leicht ist, an die Stelle der Thatsachen Vermuthungen zu setzen. Die Geschichte der Chinesischen Civilisation, Religion oder Philosophie (Wörter und Begriffe, welche in China mehr als in irgend einem andern Lande gleichbedeutend sind) hat auch in der That ganz eigene Schwierigkeiten, und die eingebornen Weltweisen und Alterthumsforscher sind selbst über die wichtigsten Puncte verschiedener Ansicht. Wie sind die King, die heiligen oder classischen Schriften, entstanden? Wie sind sie unter allen Schicksalen, die das Reich und die Literatur betroffen haben, erhalten und überliefert worden? Welche Kapitel sind den Begebenheiten, von denen sie melden, gleichzeitig und welche sind später? Wie vielerlei Recensionen giebt es und welche Commentatoren werden für die besten gehalten? Denn auch den gelehrtesten Chinesen würde Vieles ohne die Ausleger in den kanonischen Büchern unverständlich seyn. Alle diese Fragen müssten erst mit Hülfe der vortrefflichen kritischen und literarischen Vorarbeiten der einheimischen Gelehrten beantwortet werden, ehe man es wagen könnte, aus den verschiedenen, in weit aus einander gelegenen Zeiten entstandenen Kapiteln der verschiedenartigen King ein System zusammenzusetzen, um dieses dann für die Lehre eines unbestimmten Alterthums,[2] für die angestammte Weisheit des Yao und Schun auszugeben. Die Sprache der King, was bei ihrer kritischen Würdigung nicht übersehen werden dürfte, kann zu keinen Zeiten, so wie wir sie hier in den Characteren abgebildet sehen, gesprochen worden seyn; die Chinesen würden diese Charactere so wenig, wie sie dieselben jetzt verstehen, auch vor 3000 Jahren als gesprochenes Idiom verstanden haben. Der im Allgemeinen sicherlich richtige Grundsatz: man schreibt, wie man spricht, scheint in China, ausser in Romanen und in andern für das grössere Publicum bestimmten literarischen Erzeugnissen, niemals existirt zu haben; denn man schrieb ja nicht, wie bei den meisten andern Völkern, für das Ohr, sondern für das Auge. Schreibe ich z.B. Sse mit Buchstaben, so kann diess Wort, selbst mit Bezeichnung des Accents, gar Vielerlei bedeuten; zeichne ich aber den Character hin, so kann der Sehende weder über die Bedeutung des Wortes, noch über manche es begleitende Nebenumstände, die nicht eigends erwähnt zu werden brauchen, mehr in Zweifel seyn. Der Hörende wäre unschlüssig, welches Sse ich meine, wenn ich nicht durch den Zusatz eines Synonymen diess andeuten würde. Hieraus erhellt hinlänglich, dass eine geschriebene Rede deutlich seyn kann, während dieselbe für das Ohr ganz unverständlich ist. Man wende nicht ein, der Deutsche verstehe heutigen Tages auch die Sprache des Ulphilas nicht mehr, noch verstehe der Armenier ohne gelehrte Bildung die Sprache seiner Classiker aus dem fünften und sechsten Jahrhundert. Deutsche und Armenier verstehen nicht die Monumente ihrer Vorfahren, weil sich Wörter und Grammatik durchaus verändert haben. Die Wörter der King sind aber heutigen Tages, mit wenigen allgemein bekannten Ausnahmen, noch dieselben, und die Grammatik, d.h. was wir Chinesische Grammatik nennen, nämlich die Lehre von den Partikeln und der Wortfolge ist, der Hauptsache nach, auch dieselbe; sie weicht nur da vorzüglich ab, wo der sogenannte neue Styl die lebende Rede nachbildet.
Die bekannte Zerstörung und Wiederherstellung der alten feudalistischen Literatur übergehen wir hier als hinlänglich bekannte Thatsachen, besonders da der Iking, das wichtigste aller Bücher in philosophischer Beziehung, weil es den streng monarchischen Plänen des Schihoangti nicht entgegenstand, verschont wurde. Sind aber, fragen wir ängstlich, die Reden und Verordnungen, die im Schuking den alten Kaisern und Staatsbeamten in den Mund gelegt werden, wirklich von ihnen gesprochen und verkündet worden? Was hat Confucius von den alten Reichshistoriographen (die Geschichtschreibung[3] ist in China so alt, als das Reich selbst) vorgefunden? was liess er unverändert und welche Veränderungen dünkten ihm unumgänglich nöthig? Es ist wohl nicht minder schwer, die eingeflochtenen oder untergeschobenen Stücke des die zerstreuten Reste alter Ueberlieferungen zu einem Ganzen ordnenden Schuking zu unterscheiden, als es schwer ist, die vorsätzlich oder zufällig in der Ilias und Odyssee sich findenden apokryphischen Verse herauszufinden. Confucius, der seine Lehre auf die King gründete, hat wohl Nichts in seiner Recension aufgenommen, was ihr hätte widersprechen können. Wir wissen, sagt Longobardi in seiner berühmten Abhandlung, auf die wir unten wieder zurückkommen werden, dass Confucius viele Irrthümer der King beseitigte, und auch nach ihm war des Verbesserns kein Ende. Vieles dieser Sammelwerke, King genannt, wird demnach vor dem Richterstuhle einer scharfen Kritik bloss als die Lehre des Confucius betrachtet werden können. Die Koua des Fohi, so wie die später hinzugeschriebenen räthselhaften Wörter des Wenwang konnte ohnediess Jeder nach Belieben auslegen, und wirklich hatten auch, was schon aus dem Zeugnisse des redlichen und gelehrten Wisdelou hervorging, die Dynastieen Hia und Schang besondere Auslegungen besessen, die sich aber gegen die grossen Namen des Wenwang, Tscheoukong und Confucius nicht behaupten konnten. In Betreff des Schuking wäre es wohl vonnöthen, über jedes Kapitel eine besondere kritische Untersuchung anzustellen, die Angaben der Chinesischen Commentatoren genau zu vergleichen, die selbst, wie z.B. die Schüler Tschuhi's, auf die Verschiedenheiten des Styls aufmerksam machen, und die heutigen Tagen in den verschiedenen Ausgaben noch vorkommenden Varianten zu untersuchen.
Das Buch der Gesänge (Schiking) übergehen wir, weil es nicht unmittelbar mit unserm Gegenstande zusammenhängt und schon an einem andern Orte ausführlich besprochen wurde. Der Schiking ist ein poetisches Product, das man nur auxiliarisch als einen Beweis für die Denkweise eines Zeitalters anführen kann. Diese Chinesischen Volkslieder, die ältesten' geschriebenen Monumente, welche die Geschichte kennt, sind voll von moralischen Gedanken und zarten Gefühlen; sie tragen ein ganz anderes Gepräge, als die späteren, in einem beschränkten Ideenkreise sich bewegenden poetischen Erzeugnisse des Mittelreiches. Hier finden sich schon die bittersten Klagen über den verdorbenen oder gesunkenen Zustand des Menschengeschlechtes; es spricht sich hier eine Sehnsucht aus nach Menschen und Zeiten, welche vielleicht ausserhalb der dichterischen[4] Phantasie nie existirt haben, eine Sehnsucht, von der in der dünkelhaften, alles Andere verachtenden Selbstgenügsamkeit der modernen Chinesen kaum eine Spur zurückgeblieben ist.
Zur Erforschung der alten Religion und Sitte ist aber ein anderes Werk von der grössten Wichtigkeit, obgleich ihm selbst einheimische Kritiker den Titel eines King abgesprochen haben. Die Missionare, die freilich ganz andere Zwecke hatten, haben dieses Werk viel zu wenig beachtet und nur gelegentlich in ihren Streitschriften über die sogenannten Chinesischen Cerimonieen Einzelnes daraus angeführt. Dieses für den einheimischen Chinesen, wie für den Fremden höchst wichtige Buch ist der Sittencodex (Liky) des Reiches. Die Sammlung hat im Laufe der Zeiten, was bei einem Sittencodex auch in China ganz natürlich ist, mancherlei Veränderungen erfahren, und das relative Alter der einzelnen Theile müsste vermittelst der Nachrichten, die sich bei den verschiedenen Commentatoren finden, erst erhärtet werden; denn der so allgemein verbreiteten Meinung von der Unwandelbarkeit der Chinesischen Formen muss der Kundige durchaus widersprechen. Wie demjenigen, der auf einem hohen Berge sich befindet, in der Ferne Alles eben und rund erscheint, so demjenigen, der nur das Hervorstechende, die Aussenseiten ferner Zeiten und Völker betrachtet. Selbst in den wichtigsten Staatseinrichtungen fanden im Gegentheile auch in China Veränderungen Statt im Laufe der Zeiten. Unter allen Dynastieen bis auf die Ming (1369 n. Chr. Geb.) opferte man den fünf ersten fabelhaften Kaisern; die Ming und ihre Nachfolger unterliessen diese Opfer, ja, selbst in dem Hauptopfer, das die Kaiser dem Vater-Himmel und der Mutter-Erde darzubringen pflegten, finden Verschiedenheiten Statt unter den verschiedenen Dynastien1. Die erste Sammlung der Reichssitten wird, wie vieles Andere, dem vollkommenen Weisen (Schingschin), dem hochgefeierten Tscheoukong zugeschrieben, der nach dem Chinesischen »Geschichtsspiegel« 1105 v. Chr. Geb. gestorben ist; er hat die Koua des Fohi erklärt; er soll auch den Conpass erfunden haben, und seine astronomischen Beobachtungen wurden von Laplace richtig befunden2. Der gelehrte Uebersetzer des Schuking bemerkt mit Recht nach den Chinesischen Commentatoren, dass in dem Schuking selbst schon ein Rituale d.h. eine Sittensammlung erwähnt werde. In dem Kapitel Lokao sagt nämlich [5] Tscheoukong zu seinem Onkel Tschingwang nach der wörtlichen Uebersetzung des Chinesischen Textes: »O König, beginne das Werk, erfülle die Sitte, opfere in der neuen Stadt durchaus den Benannten und nicht Benannten,« d.h. nach den Auslegern den in dem Rituale benannten und nicht benannten Geistern. So ist die Stelle auch in der Mandschu-Uebersetzung aufgefasst. Man hält allgemein dafür, dass die Sittensammlung, Liky genannt, wie wir sie jetzt besitzen, von den Gelehrten unter der grossen Dynastie Han, kurz vor und bald nach Christi Geburt, zusammengetragen wurde; doch finden sich in ihr bei Weitem ältere Stücke, wie diess aus der Literargeschichte des Liky bei Matuanlin erhellt. – Neben dieser, wegen ihres Alterthums sehr geachteten Sammlung, Liky genannt, giebt es zwei andere: das Tscheouli und das Ili3, so wie einzelne, theils von Privatpersonen, theils vom Sittentribunal (Lipu) selbst veranlasste Sammlungen und Auszüge zu besonderen Zwecken, wie man z.B. in gewissen Theilen von Deutschland allerlei Sittenspiegel hat für Haus und Land, für den guten Jüngling und die gute Tochter, nur mit dem wichtigen Unterschiede, dass in andern Ländern diese Sitten gar häufig nicht befolgt und unbestraft übertreten werden, während in China die Unterlassung herkömmlicher Sitten nicht selten als ein Verbrechen betrachtet wird. Eines dieser neben dem Liky in grossem Ansehen stehenden Rituale ist der Hausspiegel (Kiali) des berühmten Tschuhi; er bildet einen Theil der offiziellen Sammlung des Wissenswürdigsten aus dem Reiche der Natur und des Geistes (Sing li ta tsuen) und ward von den spätem Gelehrten vielfach commentirt. – Wir glaubten uns hier deshalb so weitläufig über den Liky erklären zu müssen, weil man dessen Wichtigkeit bis jetzt nicht gehörig erwogen zu haben scheint. Eine gute Uebersetzung und Bearbeitung dieses Werkes wird uns das alte China besser kennen lehren, als alle Reisen und unfruchtbare Gesandtschaften. Denn für den Chinesen giebt es nichts Wichtigeres, als seinen Sittenspiegel, und es ist ein vortreffliches Wort, was uns Prémare aus den Werken des Ngheouyang tse mitgetheilt hat. »Durch die Sitten,« sagt dieser berühmte Ausleger der King, »zügeln die vollkommenen Menschen die[6] Leidenschaften und schlechten Neigungen des Volkes.« Das drei und zwanzigste Buch des Liky selbst beginnt mit folgendem Kernspruch: »Beobachtung der Sitte erzeugt Ueberfluss, Ueberfluss erzeugt Tugend4.«
Neben den drei King (I, Schu und Schy) giebt es noch mehrere alte Bücher, die, wie der Liky selbst, hier und da ebenfalls King genannt werden; man gebraucht dann King in einer weitern Bedeutung, in dem Gegensatze nämlich zu der Tradition, der fabelhaften oder unsichern Ueberlieferung, Tschuan, in welchem Sinne das Chinesische Sprüchwort sagt: »Glaube den King,« d.h. der sichern Lehre, »glaube aber nicht den Tschuan,« d.h. der Tradition. Es giebt Sammelwerke, die den Titel führen: Sammlung der 13 King, und mit den Scholien aller ältern und neuern Commentatoren versehen sind5. Nach den kanonischen Werken kommen die Bücher des Confucius und seiner Schüler: die grosse Lehre (Ta hio), wovon nur das erste Kapitel von Confucius herrührt, die andern zehn aber von seinem Schüler Thsengtse sind; die feste Mitte, von dem Enkel des Confucius, Tsesse und die Memorabilien des Chinesischen Weisen, Lunyu überschrieben, die nach seinem Tode von seinen Schülern zusammengetragen wurden. Die grosse Lehre und die feste Mitte waren ursprünglich bloss einzelne Kapitel des Liky, die erste war in dem 42sten und die zweite in dem 31sten Kapitel enthalten. Das vierte der hochgeachteten vier Bücher rührt von einem mehr als hundert Jahre nach Confucius lebenden Philosophen her, von dem in Wiederholungen sich allzu sehr gefallenden Mencius. Ausser diesen vier Büchern und den historischen Werken dieser Schule giebt es noch mehrere, dem Confucius und seiner Schule ebenfalls zugeschriebene philosophisch-moralische Werke, wie das Hitse, das sich hinter dem Iking befindet, und die Hausgespräche, Kiagu überschrieben. Das Hitse enthält, was sein Name bedeutet, einen kurzen Auszug, ein Compendium der Lehren des I, und wird von allen Commentatoren und Literatoren für ein ächtes Werk des Confucius gehalten. Die Hausgespräche werden aber von den einheimischen Kritikern selbst für verdächtig erklärt; ein Commentator Changmingpie sagt, nach dem Zeugnisse des grossen Kenners der Chinesischen Sprache und Literatur, des Jesuiten Philipucci6, man könne nur mit der grössten[7] Vorsicht dieses Werkes sich bedienen; denn es rühre nicht unmittelbar von Confucius her, noch wisse man eigentlich, welche Hausgespräche man für die ächten zu halten habe, da mehrere ganz verschiedene Werke unter diesem Titel vorhanden seyen.
Von allen unter Kong tse's Namen vorhandenen philosophisch-moralischen Schriften rührt bloss das erste Kapitel der grossen Lehre oder des grossen Unterrichtes von dem vollkommnen Weisen selbst her. Es möge deshalb dieses vielfach bewunderte und commentirte Meisterstück der Chinesischen Philosophie und Sprache in einer wörtlich treuen Uebersetzung hier folgen: »Die Norm der grossen Lehre besteht in klarer Erkenntniss der Tugend; sie besteht in der Verbesserung des Volkes; sie besteht in der Beharrlichkeit im Guten. Aus der vollen Beharrlichkeit erfolgt Sicherheit, durch Sicherheit wird Ruhe möglich; aus der Ruhe erfolgt Bestimmtheit, aus Bestimmtheit tiefe Forschung und aus tiefer Forschung erfolgt die Kraft des Handelns. Dinge haben einen Ursprung und ein Endziel; Handlungen haben einen Endzweck und ein Beginnen; der diess Erkennende, das Erste und das Letzte, nähert sich der Norm.«
»Wollten die Alten die Tugend hell leuchten lassen im Reiche, begannen sie zuerst ihre Provinz zu ordnen; wollten sie ihre Provinz ordnen, begannen sie zuerst mit der Bestellung ihres Hauses; wollten sie ihr Haus bestellen, begannen sie zuerst mit der richtigen Haltung des Körpers; wollten sie ihren Körper richtig halten, begannen sie zuerst mit der Erstarkung ihres Geistes; wollten sie ihren Geist erstarken, begannen sie zuerst mit der Vervollkommnung ihres Willens; wollten sie ihren Willen vervollkommnen, begannen sie mit der vollkommenen Ausbildung ihrer Erkenntnisskraft; die vollkommene Ausbildung der Erkenntnisskraft besteht aber in der Erforschung der Dinge.«
»Auf die Erforschung der Dinge erfolgt die vollkommene Ausbildung der Erkenntnisskraft: auf die vollkommene Ausbildung der Erkenntnisskraft erfolgt die Vervollkommnung des Willens; auf die Vervollkommnung des Willens erfolgt die Erstarkung des Geistes; auf die Erstarkung des Geistes erfolgt das richtige Verhalten des Körpers; auf das richtige Verhalten des Körpers erfolgt die Bestellung des Hauses; auf die Bestellung des Hauses erfolgt Ordnung in der Provinz; auf die Ordnung der Provinz erfolgt Ruhe im Reiche. Von dem Kaiser bis zum Letzten im Volke, für Alle ist diess das einzige Princip: richtiges Verhalten des Körpers. Dass die Wurzel lose sey und die Zweige in Ordnung, das ist nicht[8] möglich; dass jene schwächlich und diese kräftig, dass jene kräftig und diese schwächlich seyen, das ist nicht möglich.«
So viel von den Quellen zur Erkenntniss der alten Philosophie und Religion des Mittelreiches, nach den Ansichten der Schukiao oder der Schule der Gelehrten.
Wenn wir uns jetzt zur Geschichte der Philosophie selbst wenden, so müssen wir unumwunden gestehen, dass wir, so weit die Traditionen, die geschichtlichen Denkmäler der Menschheit im Allgemeinen und China's im Besondern reichen, in den Urzeiten weder eine verwilderte, noch eine durch unmittelbare Führung der Gottheit geleitete Menschheit finden können. Wir finden den Menschen am Anfange der Sinnlichkeit und den Lüsten huldigend, aber begabt mit dem angebornen Gefühle von Gerechtigkeit und Sittlichkeit, so wie Berichte und Sagen über die Vorkehrungen zur Erhaltung und Erstarkung dieser Grundpfeiler der Gesellschaft. Dieser Ansicht huldigen auch viele Chinesische Schriftsteller. »Am Anfange bei dem Werden der Menschen,« sagt einer derselben, »waren sie von den Geflügeln und andern Thieren nicht unterschieden: sie kannten wohl ihre Mutter, nicht aber ihren Vater; sie kannten wohl die Liebe, sie kannten aber nicht die Sitten; wann sie schliefen, schnarchten sie; wann sie aufwachten, räusperten sie sich; hatten sie Hunger, rissen sie den Frass an sich; hatten sie genug, warfen sie ihn weg; sie assen rohes Fleisch sammt den Haaren und tranken Blut; ihre Kleider waren die Felle wilder Thiere.«
Die Gesellschaft ist aber so alt, als das Individuum, wie schon Aristoteles in seinem unsterblichen Terke über die Staatsweisheit lehrte. In der Gesellschaft finden sich durch Körper und Geisteskraft Hervorragende, so wie Minderbegabte, die sich den gleichsam von der Natur selbst ihnen gesetzten Herren gewöhnlich gern unterwerfen. Es war die Pflicht der Machthaber, die Erziehung des Menschengeschlechtes nach diesen angebornen Normen der Gerechtigkeit und Sittlichkeit zu leiten und die Widerstrebenden durch Zwangsmittel diesen Naturgesetzen zu unterwerfen, und nirgendwo scheinen die Herrscher mehr nach dieser ewigen Richtschnur aller Regierungen gehandelt zu haben, als in China. Dieser Handlungsweise stellten sich aber bald zwei grosse, schwer zu umgehende Hindernisse entgegen: die Natur der Machthaber und die Natur der Untergebenen. Eine Gesellschaft, geordnet nach den erhabenen Normen der Gerechtigkeit und Sittlichkeit, erheischt nothwendig, dass alle Untergebene zu dem Heilsamen dieser Ideen sich emporschwingen und dass die Machthaber[9] ihre Habsucht und Begierden zügeln. Beides fand sich nicht und wird sich niemals finden. Viele der Untergebenen werden ohne Furcht und Zwang weder gerecht noch sittlich leben, und die Machthaber glauben nicht durch die Ehre allein für die Mühen der Leitung entschädigt zu seyn. Die dunklen Gefühle und Ahnungen der menschlichen Brust werden deshalb in lebendige, über dem Menschen stehende und mit unumschränktem Willen ihn beherrschende Gestalten umgeschaffen: die Götter treten heraus ins wirkliche Leben, menschlich handelnd und denkend; nur durch die Kraft ragen sie hervor über das hinfällige Geschlecht; sie belohnen und strafen bald nach Verdienst, bald nach Willkür, – – und die Erde ist an den Himmel geknüpft, das Vergängliche und Nichtige ist mit dem Ewigen und Unschätzbaren verbunden. Die Machthaber sind jetzt der Mühe überhoben, nach dem streng austheilenden Gefühle von Gerechtigkeit und Sittlichkeit zu handeln; sie sind bloss die gehorsamen Diener einer übermenschlichen Kraft, eines allgewaltigen, grimmigen Gottes. Wehe dem, der, von eigener Einsicht oder eigenem Gefühle geleitet, dieser Allmacht zu widerstreben wagt! Sollte ihn das rächende Schwert hienieden nicht erreichen, da drüben harren Hölle und Teufel mit geöffnetem Rachen, um den Bösewicht, der sich selbst vertraut, zu verschlingen. Hierarchie zeugt deshalb immerdar von einem schon gesunkenen Zustande der bürgerlichen Gesellschaft, – wenn auch gewöhnlich mit Sittlichkeit verbunden; sie verträgt sich nimmermehr mit der zweiten Grundsäule der Gesellschaft, mit der gleich austheilenden Gerechtigkeit und Geistesfreiheit. Denn was ist, worin besteht der besondere Zustand der Gesellschaft, den man Hierarchie zu nennen pflegt? Hierarchie ist die Herrschaft eines erblichen, oder durch besondere Cerimonieen die Genossen erkührenden Standes, der unumschränkt herrscht über die geistigen und leiblichen Güter der Gesellschaft, der kein Gesetz erkennt, ausser das unerbittlich göttliche, das er sich selbst gegeben; er bewahrt durchgängig die geistigen Schätze der Gesellschaft und theilt den übrigen Genossen davon nur so Viel mit, als er seinen Zwecken, seiner Selbsterhaltung angemessen findet. Priesterliche Herrschaft ist deshalb eine unumschränkte, auf übernatürliche Macht fussende Herrschaft; priesterliche Weisheit ist deshalb eine beschränkte, im Herkömmlichen beharrliche und neidische Weisheit. Und solch eine Herrschaft, solch eine Weisheit soll, wie mehrere Missionare und einzelne Gelehrte behaupten, im alten China sich gefunden haben? in China, in dessen Sprache weder Mohammedaner, noch Christen ein Wort fanden, um den theologischen Begriff der[10] Gottheit, als einer von der Natur unabhängigen und sie regierenden Macht, zu bezeichnen?
Nein und nimmermehr, von einer Theokratie oder von einer theokratischen Weisheit sind in China so wenig Spuren, wie von den Nachkommen Noa's und von der Verbindung der Stammväter des Chinesischen Volkes mit den heiligen Patriarchen. Wenn irgendwo in einem Lande, so geht und ging in China Alles menschlich zu, und diess ist eben das höchst Merkwürdige, China vor allen andern Ländern der Erde Heraushebende und Characterisirende. Während in der Geschichte der meisten Nationen der Erde abwechselnd bald Menschen, bald Götter auftreten, steht hier der Mensch bloss dem Menschen gegenüber; was geschieht, geschieht durch Menschenhand, nicht durch Beihülfe einer äusserlichen, ihm fremden Macht, sondern durch die ihm eigenthümliche angeborne Kraft. Die höchste Spannung seiner geistigen Kräfte steigert ihn nicht allein zu einem vollkommenen Geschöpfe (Schingschin), in der Volksansicht wird er sogar eine Art höherer Wesen. So wird in der Chinesischen Urgeschichte, Tsu schu überschrieben, erzählt: ein gewisser Keoulong sey nach seinem Tode zur Würde des Erdgeistes emporgehoben, und ein Anderer, Tehu mit Namen, sey in den Genius der Früchte verwandelt worden.
Nie und nimmermehr ist dem Chinesischen Volke ein Gott erschienen; von einer Offenbarung ist keine Spur bei dieser prosaischen Nation. Die Wörter Gott, Seele, Geist, als etwas von der Materie ganz Unabhängiges und sie willkürlich Beherrschendes, kennt die Chinesische Sprache gar nicht. Ein einziges Band umschlingt, nach den Ansichten der Weisen dieses Landes, alles Seyende, das Reich der Natur und das Reich des Geistes; der Bruch, die Störung der angemessenen Thätigkeit eines Gliedes bringt Unordnung in die ganze Kette des Seyenden. Die geistigen und moralischen Kräfte gebieten aber den physischen: wer Tugend und Sitte beleidigt, stört die glückliche Ordnung der Elemente, er bringt Unheil über die Gesellschaft und ist ihr deshalb verantwortlich. So innig ist dieser Ideengang mit der Sprache selbst verwachsen, dass es unmöglich ist, den ersten Vers der Genesis ohne weitläuftige Umschreibung ins Chinesische so zu übersetzen, dass er wirklich Chinesisch ist. Denn hoa, das Wort für schaffen, bedeutet eigentlich auf eine spontane, unbewusste Weise vom Nichtseyn zum Seyn übergehen, und tsáo, welches in der Bibelübersetzung von D. Morrison vorkommt, wird von den Chinesen bloss in der Bedeutung von anders machen aus einem Etwas, nie aber in dem Sinne von schaffen, dem Machen aus einem[11] Nichts, gebraucht. So heisst es wörtlich im Hitse: »Das ruhende und bewegende Princip (In und Iang) nennt man Tao,« oder nach dem Commentare, »die umkreisende Bewegung des ruhenden und bewegenden Princips bildet die Ordnung (Tao).« Ihre gegenseitige Verbindung heisst schaffen (nach dem Commentare), ihre Vollendung ist das Geschaffene, die Natur; das immerwährende Werden heisst Wandelung, I, wovon der Iking (Buch der Wandelungen) seinen Namen hat. In diesem Sinne heisst es an einer andern Stelle des Hitse, um anzuzeigen, dass Alles seiner Natur gemäss, ohne irgend eine ausser ihm seyende und dieses All beherrschende Kraft, aus sich selbst wird: »Der Himmel ist 1, die Erde 2, der Himmel 3, die Erde 4, der Himmel 5, die Erde 6 u.s.w.«
Die Jesuiten verfuhren in China und in vielen andern Ländern, wie die Kirche selbst im Laufe vieler Jahrhunderte: man wusste wohl, dass man den Menschen gar leicht taufen könne, dass man aber des Menschen Geist, seine durch Erziehung und Unterricht ihm gewordene zweite Natur durch äussere Cerimonieen keinesweges so schnell umformen würde; man suchte deshalb, so weit man schicklicher Weise es thun konnte, sich zu assimiliren. Man suchte dem Profanen einen heiligen Sinn unterzuschieben und das Heilige mit den vorhandenen Ansichten und Gebräuchen auszugleichen. Diesen klug berechneten Vorkehrungen ist zum Theil das Umsichgreifen des Christenthums in den ersten Jahrhunderten, nebst den Erfolgen der Jesuitischen Mission in China zuzuschreiben. Die beschränkten Frommen erhoben über dieses von den Jesuiten bloss erneuerte Verfahren einen gewaltigen Lärm, und diese mussten sich endlich, im Laufe des mit der grössten Erbitterung geführten Streites, über die sogenannten Chinesischen Cerimonieen in ihren Vertheidigungsschriften (indem sie den deutlichen Beweisen ihrer Gegner Nichts mehr entgegenstellen konnten) mit deutlichen Worten auf diese herkömmliche Politik der Kirche und der Apostel berufen. Häufig führten sie den Spruch des Paulus im Munde: »Ich komme, um euch den unbekannten Gott zu deuten.« Die merkwürdigsten Aeusserungen dieser Art finden sich bei dem Französischen Jesuiten le Comte, einem der einsichtsvollsten und talentreichsten Mitglieder der an ausgezeichneten Köpfen so reichen Chinesischen Jesuitenmission.7
Dieser mit der grössten Erbitterung geführte Streit über die sogenannten Chinesischen Cerimonieen ward durch die Art[12] und Weise, wie die Jesuiten sich vertheidigten, in einen wissenschaftlichen umgewandelt, und deshalb sollte er von Niemanden, der über die Geschichte des menschlichen Geistes in China Untersuchungen anstellt, umgangen werden. Ehe aber noch fremde Ordensleute in den Streit sich mischten, waren die Jesuiten selbst über die religiösen Ansichten der Chinesen getheilter Meinung. Ricci, der Gründer der Jesuitenmission in China, gab wohl zu, dass die jetzigen Chinesen durchaus Atheisten wären, doch hätten nach ihm die Alten unter dem Namen Schangty den erhabenen, unsterblichen Gott verstanden. Sein Nachfolger, der auch von Juvencius gepriesene Longobardi, war durchaus anderer Meinung. In einer kleinen, die Geschichte der verschiedenen Ansichten in China kurz aus einander setzenden Abhandlung8 suchte er seine Ansicht, dass die Chinesen nie und zu keinen Zeiten Gott, den Allmächtigen, erkannt hätten, durchzuführen. Longobardi hat seinen Satz mit solch überwiegender Geisteskraft und Gelehrsamkeit verfochten, dass wir nicht einsehen, wie von irgend einer Seite her etwas Erhebliches dagegen eingewendet werden könnte. Des heiligen Gehorsams ungeachtet, den jeder Jesuit seinen Obern schuldig ist, erschütterten die Gründe Longobardi's doch so viele fromme, in die ganze Politik des Ordens vielleicht nicht eingeweihete Väter, dass der dritte Vorsteher der Mission, der Nachfolger Longobardi's, der Spanier Hurtado, seines Vorgängers Werk ins Feuer werfen liess, um allen unnützen Grübeleien und Gewissensbissen mit einem Male ein Ende zu machen9. Der Orden erklärte sich von nun an für die sogenannte alte Weisheit der Chinesen, die sie aus irgend einer antediluvianischen Verbindung mit den Biblischen Erzvätern errettet hätten. Andere stiegen nun bis zur Sündfluth empor und meinten, Noa's Kinder seyen die ersten Weisen des Landes gewesen; noch[13] Andere wollten zwischen Jao, Noa oder gar Jehova eine ganz besondere Aehnlichkeit finden. So leicht findet man, was man sucht und wünscht.
Wo ist aber diese alte Weisheit der heiligen Erzväter bei den Chinesen zu suchen? »Man sehe nur zu,« sagte der Orden, »die Wörter Tian, Ty und Schangty in den King bedeuten keineswegs, was die heutigen atheopolitischen Gelehrten darunter verstehen; diese Ketzer sind herabgesunken von der erhabenen Weisheit ihrer Ahnen; die alten Chinesen erkannten Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde« ...... Es gehört wohl ein bedeutender Grad von Selbstgefühl dazu, um uns keines härteren Ausdrucks zu bedienen, einer der weisesten Nationen der Erde gegenüber geradezu die Behauptung aufstellen zu wollen, sie habe das Verständniss ihrer alten Urkunden verloren, sie sey, wovon sie sich selbst nie Etwas hat träumen lassen, im Laufe der Zeiten von der hohen geistigen Ausbildung ihrer Ahnen herabgesunken und den Schlingen des Bösen anheim gefallen. Bedenkt man noch, dass seit den ältesten Zeiten Geschichte und Moral das Lieblingsstudium der Nation waren, dass zu keiner Periode dieses ältesten Reiches der Erde die Literatur und alte Tradition ganz vernachlässigt, dass auch unter Todesgefahren deren Reste in dem Gedächtnisse des Volkes und durch den Eifer der Gelehrten treu der Nachwelt überliefert wurden; bedenkt man, dass diese Reste für die Gelehrtesten der Nation höchst schwierig sind und in einzelnen Stellen ohne die bei ältern Commentatoren sich vorfindenden Traditionen ganz unverständlich wären; erwägt man diess Alles reiflich im Geiste: so gehört wohl keine geringe Vermessenheit dazu, Etwas in diesen Monumenten, Etwas in der Geschichte dieser Nation finden zu wollen, was von Niemanden der einheimischen Forscher und zu keiner Zeit darin gefunden worden ist. Mit Recht sagten deshalb die Gegner der Jesuiten, dass die Väter den alten Chinesen einen Glauben angedichtet hätten, der ihnen niemals in den Sinn gekommen wäre, dessen sich die sogenannten Gelehrten sogar geschämt haben würden10. Wie aber die frommen Väter die alten Texte ihren Absichten gemäss auszulegen verstanden, davon möge ein Beispiel hinreichen. In dem ersten Kapitel des Schuking, Jaotien, d.h. Norm des Jao, überschrieben, heisst es nach der wörtlichen grammatischen Uebersetzung des Chinesischen[14] Textes: »Der Kaiser (Jao) sprach: Ich will ihn (den Schun) prüfen durch die Vermittelung des Weibes; ich will sehen, ob er gezügelt wird vermittelst zweier Frauen; ich will ihm geben und überliefern zwei Frauen nach Kunischui (dem Wohnorte Schuns); Hausfrauen, heget Hochachtung, sagte der Kaiser, und ehret,« nämlich den Gatten. Die Ausleger sagen, es handele sich hier von den zwei Töchtern Jao's, die dieser seinem erwählten Nachfolger, um ihn zu prüfen, ob er zur Regierung des Reiches tauglich sey, zur Ehe gegeben habe. Die Chinesen kommen immer, wenn von der Ehe die Rede ist, auf dieses älteste Beispiel der Bigamie zurück, und ihre Romanschreiber gebrauchen häufig aus einer Nachahmung Jao's eine doppelte Heirath, um ihre Intrigue zu einem glücklichen Ende zu bringen. Man kann sich demnach leicht denken, dass den Christlichen Missionaren dieser Text nicht wenig verhasst seyn musste. Die Jesuiten suchten ihn deshalb durch eine geschickte Erklärung zu umgehen. Erl, sagte der Jesuit Alani, heisse nicht zwei, sondern die zweite, und es kümmert ihn wenig, dass in diesem Falle die Ordinalpartikel ty, welche die Stelle des Deutschen te und des Griechischen τος vertritt, nicht hätte fehlen dürfen; es kümmert ihn wenig, dass man selbst die Namen der beiden Töchter Jao's kennt. Glaubt man nun dem Berichte des Jesuiten Magaillans, so hat diese der gemeinsten Regel der Grammatik und der bestimmten Tradition widersprechende Erklärung bei den einheimischen Gelehrten vielen Beifall gefunden11.
In der Jugend des menschlichen Geschlechts begnügte man sich mit dem Beispiele der Ahnen. Bewundert gehen sie von Mund zu Mund, die Sprüche der Altvordern, die ein Allen inwohnendes, aber dunkles Gefühl zur Klarheit erheben. Moralische Sprüche, die uns gemein und alltäglich klingen, galten in frühern Jahrhunderten für das Höchste des menschlichen Geistes. Und dreht sich denn nicht in der That um die erhabenen Sprüche der sogenannten sieben Weisen Griechenlands, um die zehn Gebote und um die Moral des Confucius der Angelpunct der Welt? Viele Völker bewahrten die Geschichten und Vorschriften der Ahnen theils bloss in verschiedenen, dem treuen Gedächtnisse überlieferten Liedern, theils verzeichneten sie dieselben auf besondere Denkmäler als[15] Musterbild für die folgenden Geschlechter. In Indien, wie in China, in Judäa, wie in Persien, finden wir an der Spitze der Zeiten entweder solche vollständige, hochgeachtete Werke, aus denen die besondere Civilisation dieser Völker geflossen, oder bloss Sagen und Fragmente eines umfassenden Ganzen. Diese Werke geben uns gleichsam die Idee, welche diese Völker im Laufe der Zeiten lebendig darzustellen übernommen haben. Griechenland und Rom, und diess ist der Grundunterschied zwischen dem Orient und dem classischen Alterthum, Griechenland und Rom waren durch keine heilige Gesetzgebung in Bande geschlagen, Griechenland bildete sich nach seinem Homer und Rom nach Griechenland, – beider Losungswort war deshalb auch Freiheit. Anders der Orient: nicht die menschliche Natur, sondern die heiligen Bücher galten ihm für den Angelpunct seines geistigen und politischen Lebens. Diese heiligen Bücher der verschiedenen Nationen des Orients bestehen aus Bruchstücken und Traditionen aus verschiedenen Zeiten; die Widersprüche zwischen den einzelnen Theilen sind manchmal offenkundig, obgleich man durch spätere Umarbeitungen dem Ganzen mehr Uebereinstimmung, mehr Harmonie einzuhauchen strebte. Kanonische Bücher dieser Art sind die drei King (I, Schu und Schi) der Chinesen; sie enthalten Vorfälle, geistige, physische und moralische Wahrnehmungen aus verschiedenen Zeiten, durch die aber unverkennbar die oben berührte Grundidee sich durchzieht: es herrscht eine nothwendige unverkennbare Wechselwirkung zwischen der moralischen und physischen Weltordnung. Ihres Wortgeizes halber sind diese Monumente des Chinesischen Alterthums dunkler, als die der andern Orientalischen Nationen; sie ragen aber vor allen andern hervor durch den gesunden Verstand und die Klarheit der Ansicht, die durchgängig in ihnen waltet. Der nüchterne Bewohner des Mittelreiches weiss Nichts von jenen abentheuerlichen, phantasievollen Bildern und Vergleichungen der Indier und Perser, welche später die unverständige Masse und habsüchtige Priester zu herabwürdigenden Dogmen umgestalteten; bis zum Widerwillen wiederholt der Chinese immerdar seine klugen auswendig gelernten Sprüchlein und lächelt über Alle, die über Dinge Etwas wissen wollen, die man weder greifen noch fassen kann. Von einem über der Natur stehenden und sie beherrschenden Gott hat der Chinese keine Ahnung; Böses und Gutes erzeugt der Mensch selbst durch seine, vermöge einer nothwendigen, den Gegenständen selbst inwohnenden Ordnung, Tugenden und Laster. Das Denken wird in einem der ältesten Stücke des Schu eben so zu den körperlichen Verrichtungen[16] gerechnet, wie Hören, Sehen und Sprechen12. Doch man höre das ganze Princip der grossen Lehre, nach der wörtlichen Uebersetzung des Chinesischen Textes, der sich im Deutschen ganz anders ausnimmt, als in dem phrasenvollen Französischen Idiom. »Kitse sprach13: Diess sind die trefflichen Wirkungen. Er sprach: Herrscht Ehrfurcht, alsdann erfolgt Regen zu seiner Zeit; herrscht eine treffliche Regierung, alsdann erfolgt heiteres Wetter zu seiner Zeit; Weisheit, alsdann Wärme zu seiner Zeit; Einsicht, alsdann Frost zu seiner Zeit; Vollkommenheit, alsdann Wind zu seiner Zeit. Kitse sprach: Diess sind die schlechten Wirkungen. Er sprach: Herrscht Wildheit, alsdann erfolgt immerwährender Regen; herrscht Falschheit, alsdann erfolgt immerwährend heiteres Wetter; Trägheit, alsdann immerwährende Hitze; Eilfertigkeit, alsdann immerwährender Frost; Verstocktheit, alsdann immerwährender Wind. O Könige, untersuchet doch das Jahr; höhere Beamte, untersuchet doch den Monat; niedere Beamte, untersuchet doch den Tag. Herrscht keine Abweichung in den Zeiten des Jahres, des Monats und des Tages; reifen alle Früchte: so ist die Regierung erleuchtet, es sind die Regierenden vortrefflich und die Familien (der Staat) in Ruhe. War Abweichung in den Zeiten des Tages, des Monats und des Jahres, und reiften nicht alle Früchte: so umlagert Dunkelheit die Regierung, sie ist nicht erleuchtet, die Regierenden sind niedrig gesinnt und die Familien (der Staat) nicht in Ruhe.« – Nach dieser Grundansicht des Chinesischen Alterthums, die Alles dasjenige, was man im eigentlichen Sinne Glauben und Religion nennt, ausschliesst, müssen alle Stellen, wo von einer Beziehung des Himmels zu den Sterblichen die Rede ist, verstanden und erklärt werden. Man möge sich nicht wundern über die Redensarten: Der Himmel verleiht diess oder jenes seinem Sohne, dem Kaiser, den Trefflichen u.s.w., Redensarten, die so häufig in dem Schu vorkommen. Können doch die entschlossensten systematischen Materialisten sich der Ausdrücke nicht ganz entschlagen, die dem Wortsinne nach auf eine vom Weltgebäude unabhängige und dieses leitende Kraft hinzielen! Diess ist eben das unerklärbare Wunder der menschlichen Natur, dass in dem Gefühle eine Kraft lebt, die der Geist vergebens zu erfassen strebt, dass deshalb auch den kältesten Forscher das Gefühl gleichsam unbewusst[17] beschleicht, und dass die Sprache, das allgemeine Gefühl der Menschheit, ihn zwingt das anzuerkennen, wogegen sein Geigt sich vergebens sträubt. Wahrhaftig, umsonst heisst es nicht: Den Einfältigen wird das Himmelreich.
Der forschende, zur Reife gedeihende Menschengeist begnügt sich aber nicht mit unzusammenhängenden, für den practischen Bedarf bloss berechneten Aphorismen; er begnügt sich nicht mit unentwickelten Andeutungen, dem blossen Nothbehelf, um in der Gesellschaft glücklich leben zu können. Der Mensch fühlt den Drang, über sich und seinen Zusammenhang mit den Dingen Aufschluss zu erhalten: in seinem unwiderstehlichen Durste des Wissens ergreift er bald diesen, bald jenen Satz, spinnt ihn aus, fein und wundersam; er folgert aus dem Gegebenen das Unbekannte, oder erklärt die Räthsel des Gegebenen durch ein willkürlich Gesetztes. Jetzt erst hat die Geschichte der Philosophie im eigentlichen Sinne des Wortes begonnen. Wie die politische Geschichte das Treiben der Menschheit im Staate, die Blüthe und den Untergang der Reiche nach ihren wechselseitigen Ursachen darstellt, so die Geschichte der Philosophie das Treiben der Menschheit im Geiste, das Entstehen und Verschwinden neuer Systeme und deren gegenseitige relative Wahrheit. Wie die politische Geschichte nur nebenher und gleichsam bloss als etwas Esoterisches diejenigen Völker und Menschenfamilien betrachtet, die sich zur Höhe eines geordneten Staates noch nicht emporgeschwungen haben, so die Geschichte der Philosophie die einzelnen erhabenen Sprüche der Väter und die Anschauungen oder Phantasiebilder der Dichter und Seher. Die eine ist die Geschichte der Staaten und die andere die Geschichte der Systeme. Diesem nach können wir die Geschichte der Chinesischen Philosophie erst unter des Song, zwischen 954 und 1279 nach Christi Geburt, anfangen lassen. Die kanonischen Bücher enthalten so wenig ein philosophisches System, als die fünf Bücher Mosis, oder die Weda's der Hindu ein System enthalten. Aus der Bibel und aus den Weda's entwickelten sich die Christliche und die Indische Civilisation, die Christlichen und die Brahmanischen Philosopheme; auf die King fussen die Chinesischen, den Europäischen beinahe gleichzeitigen Scholastiker. Man könnte wohl, wenn uns überhaupt bei der äusserst mangelhaftes Kenntniss der ungeheuern Chinesischen Literatur in diesen Dingen ein Urtheil zusteht, vier Hauptepochen der Cultur und Literatur unterscheiden: die erste und, so viel wir wissen, älteste, gleich nach der Thronbesteigung der Familie Tscheou, unter Tscheoukong gegen 1100 v. Chr. Geb.; die zweite, unter den sogenannten Orientalischen Tscheou,[18] gegen 500 v. Chr. Geb., – Lao tse und Kong tse sammt ihren Schulen; die dritte, unter den Han, kurz vor und bald nach Chr. Geb. (vorzüglich unter Hanwuty), – Wiederherstellung der alten Literatur und Hereinbrechen einer neuen, der Buddhistischen, die, wie wir schon mehrmals zu bemerken Gelegenheit hatten, auf die einheimische von bedeutendem Einflusse gewesen ist; endlich die vierte, unter den Song, die bis auf den heutigen Tag noch fortdauert, – neuerwachte philosophische Speculation, Tscheou tse, die beiden Tsching tse, Schao kang tsie und vor Allen Tschuhi, Wenkong, Fürst des Wissens, genannt.
Dem allgemein verbreiteten Vorurtheile, dass China, seit den ältesten Zeiten in den herkömmlichen politischen und geistigen Formen erstarrt, dass das Mittelreich den wechselnden Lauf der Zeiten selbst ohne allen Wechsel durchschritten habe, wird demnach widersprochen werden müssen. Das Mittelreich zeigt nicht weniger geistige und politische Revolutionen, als andere Theile der Welt. Man wende nicht ein, China sey doch immer China geblieben, während andere Länder der Erde im Laufe der Jahrhunderte gänzlich umgestaltet worden; denn China blieb ebenfalls nur in so weit China, als es, wie viele andere Länder der Erde uns zeigen, die Fundamente seiner eigenthümlichen, über ganz Ostasien sich erstreckenden Civilisation, trotz allen Einwirkungen von Aussen her, treu bewahrte. Die Principe dieser Civilisation, die eines sind mit denen von Tugend und Gerechtigkeit, sind aber so alt, als das Mittelreich selbst: dessen ungeachtet hat China neben ihnen, wie Europa neben den feststehenden Principen des Christenthums, eine ganz eigene, theils aus diesen Principen selbst, theils im Gegensatze mit ihnen sich entwickelnde Geistesgeschichte, die nicht weniger verschiedene Phasen und mannichfache Erscheinungen darbietet, als die Entwickelungsgeschichte des menschlichen Geistes in den westlichen Ländern.
Philosophische Ansichten und Systeme sind aber in China in Beziehung auf das allgemeine Wohl bei Weitem wichtiger, als in den andern Ländern der gebildeten Welt; hier kennt man keine Trennung zwischen Religion und Philosophie, zwischen Glauben und Wissen: das im Reiche anerkannte philosophische System, die Staatsphilosophie, vertritt die Stelle der Staatsreligion, die Glaubenslehren anderer Reiche. Wie die Philosophen des Europäischen Mittelalters die heiligen Schriften zum Fundamente ihres Lehrsystems gebrauchten; wie die philosophischen Theologen oder theologischen Philosophen heutigen Tages die Worte der Offenbarung so drehen und wenden, bis sie sich zum Procrustesbette ihrer speculativen[19] Vernunft bequemen: so die Philosophen des Mittelreiches die Worte der King und des vollkommenen Weisen, des Kong tse. Wie nun jeder dogmatisirende Gottesgelehrte oder Weltweise seine Erklärungsversuche aller Räthsel des Daseyns, des Glaubens und des Denkens für die einzig gültigen und haltbaren ausgeben möchte: so jede philosophische Schule des Mittelreiches ihre Erklärung der kanonischen Bücher. Diese kanonischen Bücher gelten aber keinesweges für Offenbarungen eines höhern, übermenschlichen Wesens; sie enthalten auch weder Wunder, noch sonst, einigen Aberglauben ausgenommen, irgend Etwas, das den Gesetzen der menschlichen Vernunft entgegen wäre. Es ist deshalb den Denkern des Mittelreiches viel leichter, ihre Ansichten mit denen des Alterthums auszugleichen und in eine gewisse Harmonie zu bringen, als denen anderer Nationen.
Aus dieser Janusgestalt der Chinesischen Weisheit, dass sie nämlich Beides, Glauben und Wissen, in sich verschliesst, erklärt sich auch die eigenthümliche Behandlung der Geschichte der Philosophie bei den einheimischen Gelehrten und Weltweisen. Sie zerfällt nämlich, ungefähr wie eine Christliche Kirchengeschichte, in zwei durchaus getrennte Theile: in die Geschichte der wahren Lehre und in die Geschichte der ketzerischen Ansichten. Jede neue Schule überschreitet leichten Schrittes, wie die Reformation einer bestehenden Kirche, die grosse Kluft aller Jahrhunderte, alle dahingeflossene Zeiten zwischen Kong tse und dem Gründer des neuen Lehrsystems. Nach der langen Zeit, die seit Kong tse und Meng tse verflossen, behauptet sie wohl, sey ihr Haupt wiederum der Erste oder Einzige, der die wahre Lehre des weisen Alterthums erkannt und gelehrt habe. Diess behaupten die Anhänger aller Schulen und diess behaupten auch die Anhänger Tschuhi's. Zu keiner Zeit sey aber, sagen sie, der Sinn der alten, wahren Lehre ganz verschollen, und sie haben, wie andere Kirchen, Verzeichnisse der heiligen, aber unterdrückten Zeugen für Wahrheit und Recht nach ihrem Sinne aus allen Jahrhunderten.
Tschuhi erklärt sich hierüber in seiner Geschichte der wahren Lehre14 folgendermassen: »Von Jao und Schun bis auf uns ward die wahre Lehre immerdar überliefert von den Weisen und Trefflichen aller Zeiten, – diess nennt man die überlieferte Weisheit. Wenn kein Kong tse geboren worden wäre, woher hätten die Nachkommen klares Wissen hernehmen sollen? So wäre auch nach Kong tse, ohne Meng tse, klares[20] Wissen unmöglich gewesen. Nach Meng tse vergingen tausend Jahre, bis die Tsching tse, der ältere und der jüngere Bruder, durch gründliche Wissenschaft die Vernunft erleuchteten. Man kann aus den Geschichtsbüchern ersehen, dass die Gelehrten von den Han und Tang abwärts die wahre Lehre hätten zu Grunde gehen lassen, wenn nicht Hanwenkong gewesen wäre. Kong, Meng, Tsching und Tschang (die beiden Letzteren blüheten unter der Familie Song) sind die vier berühmten Stützen unserer Lehre. Die Weisheit und die Untersuchung des Grundes aller Dinge ruht auf diesem festen Fundament; alle jene andern Lehrer haben sicherlich geirrt. Nur diese vier verehrt man als die Grundpfeiler der Weisheit; ihre Entfernung (in der Zeit) von Fohi will wenig sagen, sie verbindet das gleiche Princip.«
»Den Anfang der wahren Lehre zu ergründen, ist schwer; der Ursprung bleibt immer dunkel. Von Jao und Schun bis zu Kong und Meng sind ungefähr 2000 Jahre. In der Zeit von Mengschy (schy heisst Familie und wird, wie tse, hinter die Eigennamen gesetzt) bis auf uns war es bald helle, bald dunkel; die Dunkelheit dauerte 1500 Jahre und das Licht kaum 100. Kaum hatte Tsching tse vollendet, so klagte man diesen vollkommenen Lehrer an, und es war demnach nicht anders möglich, als dass die Tradition sich verwischen musste; sie blühete nicht, wohl aber die Masse der Wunderdinge der Anhänger des Lao tse und der Buddhisten. Und so ward die Tradition auch in diesem Jahrhundert verkannt.«
»Die Tradition ging von Kong tse über auf Meng tse. Als Meng tse starb, war Niemand fähig die Tradition fortzupflanzen. – – Wie ist nun diese Weisheit, diese Tradition beschaffen? ihr Fundament ward noch nicht erläutert, worin besteht die tiefe Lehre des Meng tse?
Antwort. Menschlichkeit und Gerechtigkeit, diess ist Alles.
Frage. Wodurch wird Menschlichkeit und Gerechtigkeit nach Meng tse?
Antwort. Die Menschlichkeit sey im Herzen des Menschen, die Gerechtigkeit der Weg des Menschen. Auch heisst es: Ist das Herz voller Mitleiden, so folgt man der Menschlichkeit; ist das Herz zugleich auch voll von Wahrhaftigkeit, so folgt man der Gerechtigkeit15.«
Tschuhi ward geboren im Jahre 1129 unserer Zeitrechnung in dem Districte Hoeytscheou der Provinz Kiangnan.[21] Sein Vater, hiess Tschusong16 und befand sich, obgleich er Statthalter war von Taotscheou, in sehr beschränkten Vermögensumständen. Nichts desto weniger gab er dem Sohne, dessen ausserordentliche Geistesgaben er schon frühe bemerkt hatte, bei seinen Lebzeiten eine sehr gute Erziehung, und er befahl ihm noch auf dem Todtenbette, diejenigen Lehrer aufzusuchen, welche er (der Vater) für die gelehrtesten seiner Zeit erkannte, namentlich Huhien, Lieou mien tschy und Lieou tse hoey. Tschuhi widmete sich unter diesen Männern so eifrig allen Zweigen der Chinesischen Wissenschaft, dass er schon im ein und zwanzigsten Jahre seines Alters das erste Examen mit Glück und Auszeichnung bestehen konnte. Er gab aber sein erstes, unbedeutendes Amt bald wieder auf, um ganz den Wissenschaften leben zu können. In seiner Jugend wohnte er in Tschong ngan in der Provinz Fokien; später zog er sich nach Kaoting zurück, in dem Bezirke Kien yang, und erfreute sich bald eines grossen Rufes und einer grossen Menge Schüler, worunter viele namentlich angeführt werden17. In der Folgezeit, als der Ruhm des Mannes schon im ganzen Reiche erschollen war, wurden Tschuhi viele und mitunter sehr wichtige Stellen in den Provinzen übertragen; nur wenige Tage konnte er aber das wichtigste seiner Aemter bei Hofe, nämlich dem Kaiser selbst die King zu erklären, behaupten. Ihm und seiner Schule stand eine mächtige, wie es scheint, nicht minder gelehrte Partei gegenüber, welche die Lehren dieses Fürsten der Wissenschaft theils als lächerliche, theils als schädliche Neuerungen betrachtete. Der Kampf dieser zwei sich entgegengesetzten politischen Parteien und philosophischen Schulen, so wie überhaupt die ganze geistige Bewegung China's unter den Song ist von dem grössten Interesse, und könnte, wenn man durch Vergleichung der Werke dieser beiden Schulen die eigentlichen Streitpuncte genau bestimmen würde, ein neues Licht verbreiten über die ganze Geistesgeschichte Ostasiens. Unsere Vorarbeiten sind bis jetzt noch zu mangelhaft, um etwas Genügendes hierüber berichten zu können. Wir wissen nur, dass die dem Tschuhi entgegengesetzte Schule den berühmten Wangngansche (†1080 unserer Zeitrechnung) als ihr Haupt anerkannte, – ein Mann, der, wenn auch an Gelehrsamkeit, doch nicht an Einsicht in die Staatsverhältnisse dem Gründer der neuen Schule nachzustehen scheint. Wangngansche führte unter Schintsong der Songdynastie grosse Verbesserungen[22] ein in der Staatsverwaltung, schrieb Commentare über die drei King und liess ein ausführliches Wörterbuch ausarbeiten; seine Verbesserungen wurden aber später vernachlässigt und der Gebrauch seiner Commentare und seines Wörterbuches verboten. Sie sollen, wie seine Gegner behaupten, Buddhistische Irrthümer enthalten haben18.
Gegen äusserliche Ehrenbezeigungen war der Meister der neuern Staatsphilosophie des Mittelreiches höchst gleichgültig; von seiner Mässigkeit und Enthaltsamkeit in allen sinnlichen Genüssen werden ganz unglaubliche Dinge erzählt. Nahm er ein Staatsamt an, so geschah diess bloss, um Gelegenheit zu haben, seine Maximen ins Leben einzuführen, um Tugend und Gerechtigkeit nach seinem Sinne zu handhaben. In seinen Reden, auch mit den höchsten Personen, herrscht eine derbe Offenheit, die man wohl schwerlich an einem andern Hofe, wo Gelehrsamkeit weniger geachtet ist, als an dem Chinesischen, geduldet haben würde. So sagte er dem Kaiser, der ihm die wichtige Statthalterschaft von Tschekiang übertrug, in klaren Worten, »dass Seine Majestät in der Wahl der Beamten weder der Vernunft, noch der Gerechtigkeit folge, ja, dass man sich sogar fürchte oder scheue, rechtlichen und festen Männern Stellen zu übertragen; und warum diess? weil sich solche Charactere den Günstlingen entgegenstemmen würden, die Alles in Verwirrung bringen und denen Seine Majestät von Jugend auf gewohnt sey Vertrauen zu schenken.« Zu andern Zeiten, wann Tschuhi glaubte, dass seine Dienste unter den bestehenden Verhältnissen durchaus unwirksam bleiben würden, konnte ihn kein Zureden bewegen, ein Amt zu übernehmen. Bei einer solchen Gelegenheit gestand er dem Minister unumwunden, »dass er deshalb kein Amt annehme, um seiner Tugend und Rechtlichkeit Nichts zu vergeben19.«
Nachdem Tschuhi abwechselnd bald die Gunst, bald die Missgunst des kaiserlichen Hofes erfahren hatte, erfreute er sich gegen das Ende seines Lebens des Triumphes, als Erklärer der King an den Hof berufen zu werden. Er konnte sich aber nur 46 Tage gegen die geheimen und listigen Umtriebe seiner Feinde in diesem für ihn so wichtigen Amte erhalten. »Man müsse bei der Erklärung der King,« sagte er, »keine Stelle übergehen, bevor man deren Sinn nicht genau erfasst habe; diess sey aber nicht möglich ohne anhaltende[23] Aufmerksamkeit, die ihre Schwierigkeiten habe und bloss die Frucht sey eines festen, unerschütterlichen Willens. Der Geist der Menschen ist sehr fein und äusserst beweglich. Heftet er sich an äußerliche, sinnliche Gegenstände, so sieht man es der Person und Gestalt des Menschen alsbald an, dass der Gebieter abwesend ist. Vergebens sitzt man dann gebückten Körpers und die Augen auf die Bücher geheftet. Wie wird ein Solcher, der sich selbst nicht zu zügeln weiss, die Gedanken der alten Weisen erfassen und für seine Handlungsweise daraus eine Norm abziehen können? Der Weise, sagt Kong tse, bleibt ohne Fleiss und Aufmerksamkeit nicht lange weise20.« – Tschuhi starb bald nach seiner Entlassung vom Hofe, im ein und siebzigsten Jahre seines Alters, im fünften Monate des Jahres 1200 nach Christi Geburt.
Tschuhi ist der Aristoteles des Mittelreiches; seine Schriften umfassen den ganzen Glauben und das ganze Wissen seiner Zeit und Nation. Er war Philosoph, Historiker und Literator im ausgebreitetsten Sinne des Wortes; er schrieb über alle Theile der Chinesischen Weltweisheit eigene systematische Werke, und untersuchte historisch und kritisch die Ansichten der frühern Weltweisen lind Religionsstifter. Tschuhi versah das hochgeschätzte Compendium der Chinesischen Geschichte von Schemakuang und Lieouschu mit einem nach der Weise des Tschun tsieou verfertigten Inhaltsverzeichnisse21, und nach der Anleitung des Tsching tse brachte er die vier Bücher in die Ordnung, in welcher sie jetzt gewöhnlich vorkommen; er arbeitete zu allen kanonischen Büchern Commentare aus und übertrug die Vollendung mancher Arbeit, wie den Commentar zum Schuking, seinen Schülern. Ueberdiess schrieb er über jeden Gegenstand des Lebens und der Wissenschaft besondere Lehrbücher, Werke über Erziehung, über die Regierungskunst, über die Gesetze und Sitten, über die Sprache und Dichtkunst. Eine Uebersicht seiner sämmtlichen Werke wird ein treues Bild geben, sowohl von der Vielseitigkeit des Mannes, als von demjenigen, was man unter dem Ausdrucke: Chinesische Civilisation und Literatur, zu verstehen hat.
Tschuhi oder Tschu tse's sämmtliche Werke befinden sich in einer schönen Ausgabe auf der königlichen Bibliothek zu Paris und in der des Sir George Staunton zu London, die jetzt das Eigenthum der Asiatischen Gesellschaft ist, und[24] in meiner Sammlung. In dem Pariser Exemplare fehlen leider! mehrere Bände; das Londoner und das meinige sind vollständig. Der Titel heisst: Sämmtliche Werke Tschu tse's: über den Vorbereitungsunterricht, die vier Bücher, die fünf King und die Philosophie. Die Vorrede ist unterzeichnet vom 42sten Jahre der Periode Kangsi (1703 unserer Zeitrechnung), im Jahre Kueisse (dem 30sten) des sechzigjährigen Cyclus, im sechsten Monate des Sommers.
Der Vorbereitungsunterricht umfasst sechs Bücher. Das Verhältniss dieses Chinesischen Gymnasialunterrichtes zu dem der hohen Schulen (des Siaohio zum Tahio) wollen wir Tschuhi selbst aus einander setzen lassen. »Die Alten,« so beginnt der Chinesische Philosoph sein Werk, »begannen mit den frühesten Jahren den Vorbereitungsunterricht, nämlich den Unterricht in Betreff der äusserlichen Handlungen, wie den in Betreff der Sitten und der Musik, im Fechten und Turnen, im Lesen und Rechnen. Der Vorbereitungsunterricht bezweckt Rechtlichkeit und Aufrichtigkeit. Mit sechzehn oder siebzehn Jahren beginnt der grosse Unterricht, d.h. der Unterricht für die Ausbildung des Geistes, für die Einsicht in die Natur der Dinge ...... Die Alten begannen von früh an den Vorbereitungsunterricht, und er war vollendet mit der gehörigen Einsicht in die Handlungen. Mit den vollen Jahren begann der grosse Unterricht, aber nur für diejenigen, welche sie zu Lehrern bilden wollten; denn alle Menschen taugen nicht dazu, die grosse Lehre zu fassen.«
»Frage. Der grosse und der kleine Unterricht, sind diess nicht zwei durchaus getrennte Theile? Der kleine Unterricht ist der Unterricht für die Handlungen, der grosse Unterricht für die Ausbildung des Geistes zur Einsicht in die Handlungen; oder ist dem nicht so?«
»Antwort. Sie sind bloss Eines und Dasselbe. Der kleine Unterricht giebt eine Anweisung, nach der Ordnung zu leben und in dieser Ordnung fortzuschreiten; bestimmte Einsicht aber in den Grund dieser Ordnung verleiht bloss der grosse Unterricht. Er ist die oberste Vollendung aller Normen und die feinste Ausbildung des Geistes; er lehrt, warum man der Ordnung nachzuleben, warum man in der Ordnung fortzuschreiten habe.« (Buch 1. Bl. 1ff.) – Das erste der sechs Bücher über den Vorbereitungsunterricht handelt im Allgemeinen von dem Umfange dieses Lehrkreises; das zweite von der Nahrung, der Arbeit und Ruhe; das dritte vom Sprechen, Gehen und Stehen; das vierte von den verschiedenen körperlichen Uebungen; das fünfte von dem Betragen und dem Umgange im Allgemeinen; das sechste von der Ordnung, in welcher man[25] die Bücher, vorzüglich die King lesen solle. – Es folgen darauf:
3 Bücher Pädagogik.
10 Bücher Erklärungen über den Lunyu (die Memorabilien des Kong tse).
4 Bücher Erklärungen über Meng tse.
2 Bücher Erklärungen über die unwandelbare Mitte und die grosse Lehre.
7 Bücher Erklärungen über den Iking.
2 Bücher Erklärungen über den Schuking. (Bloss der Anfang ist von ihm. Der Commentar ward vollendet von seinem Schüler Tsaitschin. Die Vorrede findet sich auch übersetzt bei du Halde, II. 608.)
1 Buch Erklärungen zum Schiking.
1 Buch Erklärungen über Tchun tsieou.
4 Bücher Erklärungen über den Liky.
1 Buch über Musik.
7 Bücher des Singli, d.h. einer allgemeinen philosophischen Encyklopädie. Dieses Werk bildet die Grundlage von der im vierzehnten Jahrhundert zusammengetragenen philosophisch – moralischen Encyklopädie (Sing ii ta tsuen), die in der Folgezeit im Auszuge ins Mandschu übertragen und daraus durch Herrn von der Gabelentz ins Lateinische übersetzt wurde. Einen Theil davon bildet der oben schon erwähnte Hausspiegel (Kialy).
2 Bücher Naturlehre oder Religionsphilosophie. Das erste Buch enthält das Werk, welches jetzt der gelehrten Welt zum ersten Mal in einer Deutschen Uebersetzung vorgelegt wird, das zweite die Anwendung der im ersten Buche dargelegten allgemeinen Grundsätze auf Astronomie und Physik.
1 Buch von den Genien oder Geistern, den Manen der Verstorbenen, Anweisungen, wie sie zu verehren sind u.s.w.
6 Bücher, eine Geschichte der Schukiao oder der orthodoxen Literaturen enthaltend, worin alle diejenigen aufgeführt werden, die nach Tschuhi's Ansicht die rechte Lehre befolgt haben. Ein Anhänger des Wang ngan sche würde diesen Theil der Chinesischen Literargeschichte freilich ganz anders behandelt haben. Die hier aufgeführten Philosophen kommen grösstentheils in der übersetzten Religionsphilosophie vor; es würde aber zu weit geführt haben, wenn wir über jeden ausführlich hätten sprechen wollen.[26]
3 Bücher von allen Philosophen, d.h. von allen andern Philosophen, die sich nicht zur wahren Lehre bekennen, den heterodoxen Weltweisen, worunter auch Schakia, der Stifter des Buddhismus, begriffen wird. Es folgen Lao tse, Lie tse, Tschuang tse, Me tse, Kuang tse, Kong tsong tse, Schin han, Sun tse, Tong tse, Yang tse, Wen tschong tse, Han tse, der hochgefeierte Ngeou yang sieou (lebte von 1007-1072) und viele andere, deren Namen unbekannter sind. Gegen das Ende dieser Abtheilung folgt eine Auseinandersetzung und Bekämpfung der Lehre des Einsiedlers Schakia (Scheschy).
2 Bücher, die ein Compendium der Geschichte enthalten, von den Tang an abwärts; die Notizen über die Dynastie Song scheinen von einem der Anhänger Tschuhi's herzurühren, der unter den Ming oder noch später gelebt hat.
2 Bücher einer Regierungskunst. Nach der allgemeinen Einleitung folgt eine Erklärung über die verschiedenen Beamten, über die Ministerien, die Abgaben, die Kriegskunst, Gesetzgebung, Erziehungsanstalten u.s.w.
2 Bücher Miscellaneen: eine Art Grammatik, Poetik und Rhetorik, wobei immer historische Notizen eingeflochten und die ausgezeichneten Männer eines jeden Faches angeführt und beurtheilt werden.
Die sämmtlichen Werke Tschuhi's, der nach seinem Tode den Ehrentitel: Wenkong, Fürst der Wissenschaft, erhalten hat, betragen also sechs und sechzig Bände.
Wir wollen nun aus diesem Schatze Ostasiatischer Cultur und Geschichte noch einige für den Mann und für das geistige Treiben seiner Nation höchst bezeichnende Stellen herausheben.
In der Abtheilung über die heterodoxen Philosophen (48stes Buch der sämmtlichen Werke am Anfange) äussert er sich folgendermassen über die Absicht und das Streben Lao tse's: »Die Satzungen des Lao tse bezwecken Demuth und ein gänzliches Versenken in sich selbst; er wollte sichdurchaus nicht mit Regierungsgeschäften befassen und allein dem Geiste leben.«
»Die Satzungen des Lao tse zielen durchaus auf das Leere: auf die Ruhe und Unthätigkeit. Die Aufgabe des Lebens besteht (nach ihm) in einer tiefen Selbstbeschauung. Deshalb heisst sein Ausspruch: Der Weise müsse durch tiefe Demuth dem Volke immerdar als Muster vorleuchten; die Masse der Dinge dürfe ihn nicht aus dem Leeren aufscheuchen, und diess sey seine Regierung. Deshalb pflegte er auch zu sagen:[27] Ich bin nicht, so wenig, wie die Leute, aus denen ich geworden; denn wäre ich nicht, würde es Nichts zu sagen haben, und diess gilt von Jedem.«
Wie ganz anders ist das Bild, welches die Schukiao von einem vollkommenen Weisen aufstellen! Die grosse Lehre besteht nach Tschuhi (7tes Buch der sämmtlichen Werke, Bl. 27a) »in der vollkommenen Erkenntniss geistiger Dinge, in der vollendeten Reife des Geistes; sie erheischt innerliche und äusserliche Bildung, Einsicht zur Leitung der Familie, zur Regierung der Staaten und zur Handhabung der Ordnung im Reiche22.«
Das 65ste Buch der sämmtlichen Werke dieses grossen Mannes ist wegen der vielen sprachlichen und literarischen Notizen äusserst interessant; es ist uns Europäern sehr wichtig zu wissen, wie die Chinesen selbst über die Geschichte ihrer Schreibekunst und Cultur urtheilen. »Der Styl der Alten,« heisst es Buch 65 Bl. 1a, »ist klar, Gedanken und Ausdruck sind durchaus in wechselseitiger Harmonie; der Styl der Spätern ist ebenfalls klar, man merkt ihnen aber eine Absichtlichkeit an, was ihren Werken etwas Unerfreuliches, gleichsam etwas Trauriges giebt. In den ältesten Zeiten sah man nicht auf das Wort: wie man es dachte, sprach man es aus, und deshalb ist es gut; die Spätern sind wie beschränkte Leute, deren Geist an die Scholle gebunden ist und die sich mühen, deshalb haben sie etwas Unerfreuliches.« Tschuhi spricht hierauf über den Styl verschiedener ausgezeichneten Männer. »Der berühmte Geschichtschreiber Schematsien habe wohl einen kräftigen Styl, doch seyen seine Gedanken nicht kernhaft.« – Blatt 146 beginnt die Poetik, die in China, wie bei den alten Griechen, innig mit der Musik in Verbindung steht. Die Musik hat im Mittelreiche einen durchaus sittlichen Character. »Die alten Könige,« heisst es im ersten Buche des Liky, »haben die Sitten und Musik angeordnet, nicht dass sie den Lüsten fröhnen, sondern damit man dadurch die Leidenschaften und bösen Neigungen der Menge zügeln möge.« Die ältesten Gedichte sind nach Tschuhi (Bl. 14b) die aus dem Feudalreiche Tsin, in der schon unter Jao civilisirten Provinz Schensi, und hier wurden auch bei dem Wiederaufleben der Literatur unter Hanwuty die meisten alten Bücher gefunden. Es folgt hierauf eine Darlegung der Verdienste des grossen Dichters Litaype. Von Blatt 22a und weiter steht eine[28] lichtvolle Erklärung und Geschichte der Charactere. Tschuhi weist den Grund der grossen Anzahl von Characteren, welche man Hing sching, Figur und Ton, nennt, sehr gut nach, und setzt hinzu, man nenne diese Klasse auch Kiao yun, den Ton anzeigende: das eine, die Figur, sey ein Merkmal für das Auge, das andere, der Ton, (das Wort selbst) ein Merkmal für das Ohr.
Der Styl Tschuhi's leidet im Ganzen an einer gewissen Weitschweifigkeit, die dem Leser des vorliegenden Werkes häufig genug unangenehm auffallen wird. An logischer Anordnung der Gedanken fehlt es den Chinesen durchgängig; sie wiederholen ihre wenigen Wahrheiten wirklich bis zum Ekel und Ueberdruss23. Man möchte sagen, Leute, welchen die klarsten Dinge so häufig wiederholt werden müssen, seyen gar nicht werth unterrichtet zu werden. Schon aus diesem einzigen Grunde fällt auch alle Vergleichung mit Griechenthum, fallen auch alle Hypothesen von einer Verbindung Ostasiens mit Europa weg. Griechenthum ist Klarheit und ordnender Verstand; niemals hatte aber ein Chinese, auch nur im Entfernsten, eine dunkle Ahnung von den Kategorieen des Meisters aus Stagira.
Desto sicherer ist der durch den Buddhismus vermittelte Einfluss der Indischen Cultur auf China. Die ganze Tonlehre der Sprache und die Syllabirung kamen, wie die Chinesen selbst berichten, aus Indien, dem Vaterlande Buddha's24. Es wurde bekanntlich eine unermessliche Anzahl philosophischer und religiöser Werke aus dem Sanskrit ins Chinesische übertragen, und an ihnen hat sich wahrscheinlich die neuere systematische Chinesische Philosophie herauf- oder ausgebildet. Ist es nicht eine seit dem Jahre 65 nach Christi Geburt zu allen Zeiten erhobene Klage, dass die Gelehrten die angestammte Weisheit des Mittelreiches durch Vermischung mit den Lehren des Buddha verdorben haben? Und zeugt nicht selbst Tschuhi's Philosophie, so sehr er sich dagegen sträuben mag, gar deutlich[29] von dem Einflusse Buddhistischer Ansichten? Tschuhi bekämpft zwar bei jeder Gelegenheit die Anhänger Schakiamuni's, und will zwischen den metaphysischen Ansichten der Schukiao und der Buddhisten einen radicalen Unterschied finden; denn »das Leere der Anhänger des Schakia ist (nach ihm) das durchaus Nichts, nur habe es eine gewisse Norm, ein gewisses vermögendes Princip; wir Schu hingegen nehmen ein letztes Fundament, eine volle Urkraft an (Sämmtliche Werke Buch 49. Bl. 14 und 15): »allein der Meister vergisst nur dabei anzugeben, wie und wodurch denn die volle Urkraft der Schu von dem letzten vermögenden Princip der Anhänger des Schakia verschieden sey. Ist denn nicht Eines wie das Andere eine sich selbst unbewusste, durch einen gewissen Fatalismus wirkende Kraft? Eine unbefangene, kritische Untersuchung der beiden philosophischen Systeme wird wahrscheinlich zu dem Resultate führen, dass man in ihrem speculativen Theile einen wesentlichen Unterschied durchaus nicht nachweisen könne; wohl findet sich aber ein solcher, und zwar ein sehr wesentlicher, in dem practischen Theile, in Allem, was mit Handel und Wandel, mit Leben und Staat in Verbindung steht.
Aus den sämmtlichen Werken Tschu tse's wurden verschiedene Auszüge, gleichsam Handencyklopädieen zum allgemeinen, gewöhnlichen Gebrauche zusammengetragen und dann in neuern Zeiten, wie alle vorzüglichere Werke der Chinesen, in die Sprache der regierenden Dynastie, der Mandschu, übersetzt. Eine solche Handencyklopädie, in Mandschuischer und Chinesischer Sprache, besitzt der vormalige Secretair der Asiatischen Gesellschaft zu London, Huttman, und ein gleiches Exemplar ist auf der königlichen Bibliothek zu Berlin. Dieses Werk, worin alle Gegenstände der theoretischen und practischen Philosophie der Chinesen in vierzehn Büchern abgehandelt werden, ward gedruckt im vierzehnten Jahre der Periode Kanghi, d.h. 1675 unserer Zeitrechnung. Das erste Buch enthält die metaphysische Grundlegung und beginnt mit folgendem Fundamentalsatze. »Das Absolute (Tai ky) ist die Urkraft (Li); das ruhende und das bewegende Princip bilden die Urmaterie (Ky). Wenn das bewegende Princip (Jang) sich verzehrt hat, so erfolgt das ruhende (In); aber das bewegende hört deshalb nicht auf. Die Entstehung des ruhenden Princips findet nur durch eine Trennung Statt, das ruhende Princip wird von dem bewegenden gleichsam ausgestossen.«
Was nun die Uebersetzung der vorliegenden Religionsphilosophie betrifft, so ist sie so treu, als ich sie geben konnte. Damit dem Kundigen die Vergleichung mit dem Texte desto[30] leichter werde, ward immer Blatt und Seite des Chinesischen Textes an den Rand gesetzt. Bei der Beurtheilung dieses Werkes bedenke man, dass Tschu tse's Philosophie, nach dem Iking des P. Regis, das erste Chinesische metaphysische Werk ist, welches in eine Europäische Sprache übersetzt wurde, und dass hier weder Jesuiten, noch Dominikaner vorgearbeitet haben. Einzelne Anführungen in Morrisons Wörterbuche ausgenommen, kenne ich auch nicht einen Satz, der früher von irgend Jemanden aus dem vorliegenden Werke übersetzt worden wäre. Der Inhalt und das Gepräge des Werkes im Ganzen sind sicherlich treu wiedergegeben; wer möchte aber behaupten wollen, er habe in allen einzelnen schwierigen Stellen, selbst bei Europäischen Werken, wie in der Metaphysik des Aristoteles, oder der Kritik der reinen Vernunft, den wahren Sinn des Verfassers getroffen? In der That kommt es auch bei einem philosophischen Werke weniger, als bei jedem andern, auf das Einzelne an; die leitende Idee, der Grundgedanke, das ist die Hauptsache, und der philosophische Leser wird nicht selten, von dieser leitenden Idee ausgehend, selbst manche Aeusserungen des Verfassers modificiren und manche Stellen der Uebersetzung verbessern können. Der Philosoph wird sich also dieser Uebersetzung, um sich ein Bild von der herrschenden Chinesischen Staatsweisheit zu machen, mit der grössten Sicherheit bedienen können; dem Sprachgelehrten werde ich aber für die einzelnen etwa vorkommenden Versehen oder Fehler zur Rechenschaft stehen. Ich hätte wohl, ohne den wesentlichen Inhalt zu verkürzen, Manches weglassen und manche Wiederholungen ganz streichen können; ich wollte aber mit Vorbedacht, so weit es sich thun liess, ein Ganzes geben, und ein wesentlicher Theil eines jeden Ganzen ist ja seine Form. Es ward dafür Sorge getragen, was bei philosophischen Werken eine Hauptsache ist, dass dieselben Begriffe immer mit denselben Worten bezeichnet wurden; nur möge man sich nicht an die hier und da vielleicht vorkommende verschiedene Orthographie Chinesischer Wörter stossen. Es ist sehr schwer, hierin etwas Festes und Genügendes aufzustellen; im Grunde ist es auch ganz gleich, ob man schreibt Iang oder Yang, In oder Yn, Tay ky oder Tai ki, Iao oder Yao u.s.w. Jede Umschreibung der Charactere in Lautschrift bleibt doch immer, selbst wenn man die Accente bezeichnen würde, sehr mangelhaft. Die hier und da hinzugefügten Numern der Chinesischen Charactere beziehen sich, wo nicht das Gegentheil ausdrücklich bemerkt ist, auf Morrisons tonisches Wörterbuch. Jedem, der sich mit dem Systeme der Schukiao vertraut machen will, rathe ich übrigens, das Verzeichniss der[31] entgegengesetzten Wörter in Klaproths Nachtrage zu dem Wörterbuche des P. Basilius wiederholt zu durchlesen. Es finden sich hier alle diejenigen Charactere und Begriffe, worauf es vorzüglich ankommt, durch Basilius in Scholastischem Latein erklärt, das sich vortrefflich passt zur Erläuterung der Scholastischen Philosophie der Chinesen.
1 | Schuking nach der Uebersetzung von Gaubil S. 432. Anecdotes sur l'état de la religion dans la Chine, V.S. 56. |
2 | Schuking, S. 214. N. 4. |
3 | Diese drei Sittensammlungen werden häufig zusammengedruckt und mit Abbildungen aller der in ihnen besprochenen heiligen Geräthe und anderer Gegenstände versehen. Solche Ausgaben heissen San li tu, die drei Li mit Abbildungen. In der Ausgabe der dreizehn King mit den ältern Commentatoren nimmt der Li Ki 63 Bücher ein; auf ihn folgt das Tscheou Li in 42 Büchern und dann das I Li in 50 Büchern. Yking ed. Julius Mohl. Stuttgartiae 1824. Vol. I.p. 140. |
4 | Prémare, Notitia linguae Sinicae, p. 159. |
5 | In meiner Chinesischen Bichersammlung befinden sich die zwei grossen Ausgaben der 13 King. |
6 | Vera Sinensium sententia etc. secundum PP. societatis Jesu. Anno 1700, p. 270. |
7 | Des Ceremonies de la Chine par le R.P. Louis le Comte. A Liege 1700 8. |
8 | Longobardi's Aufsatz findet sich im Originale bei Navarette: Tradatos historicos, politicos, ethicos y religiosos de la Monarchia de China. Madrit 1676. fol. S. 246ff. Louis de Cicé, Apostolischer Vicar zu Siam und Japan, hat dieses Büchlein, wie er selbst sagt in seiner Lettre aux RR. PP. Jésuites sur les idolatries de la Chine (ohne Jahreszahl) S. 27. – ins Französische übersetzt, und es ward gedruckt unter dem Titel: Traité sur quelques points de la religion des Chinois, par le R. Père Longobardi. Paris 1701. 12. Man hat auch einen Leipziger Nachdruck davon, mit Anmerkungen von Leibnitz; er befindet sich in dessen Commercium epistolicum. Mosheim in der Erzählung der neuesten Chinesischen Kirchengeschichte, Rostock 1748. 8., (auch als Vorrede des 2. Bandes der Deutschen Uebersetzung von du Halde) giebt eine unparteiische und klare Uebersicht des ganzen Streites. |
9 | Louis de Cicé in dem angeführten Schreiben, S. 29. |
10 | Varo Estratto del trattato circa il culto, offerte, riti che pratticano i Chinesi etc. In Colonia 1700. 8. S. 270. Dasselbe sagen auch Basilius de Glemona und der Bischof Navarette. |
11 | Relation de la Chine. Paris 1688. 4. S. 112. Man sehe auch des gelehrten und redlichen Gaubil Note zu der Stelle des Schuking S. 10. Nr. 1. Das wichtigste Werk, welches bei Gelegenheit des Streites über die Chinesischen Cerimonieen erschienen ist, ist die Philosophia Sinica von Noel. Pragae 1711. 4. |
12 | Schuking, nach der Französischen Uebersetzung S. 166. |
13 | Im Chinesischen wird immer zwischen einem Gliede und dem andern »er sprach« wiederholt, was wir in der Uebersetzung weggelassen haben. |
14 | Alles hierher Gehörige findet man zusammengestellt bei Matuanlin, Bach 210 fg. |
15 | Die Ansicht der Schukino wird ganz geschildert in folgender Stelle des Cicero, de republ. I. 2: Virtus in usu sui tota posita est; usus autem eius est maximus civitatis gubernatio et earum ipsarum rerum, quas isti in angulis personant, reapse, non oratione perfectio. |
16 | Tschu ist der Familienname oder Sing; Hi und Song sind der eigene oder kleine Name (Ming) des Vaters und des Sohnes. Nr. 163 in dem Verzeichnisse der Pesing bei Deguignes. |
17 | Mailla, Hist. génèrale de la Chine, VIII. 600. 644. |
18 | Mailla, a.a.O.S. 305. 310. Sching miao sse tien tu, d.h. Norm der Opfer in den Tempeln der Heiligen mit Abbildungen, gedruckt im Jahre 1826, Buch I. Bl. 41 fg., wo sich auch das Bildniss befindet, das unserm Aufsatze vorgesetzt ist. |
19 | Du Halde, Descr. de la Chine, II. 604. 607. |
20 | Du Halde, a.a.O. 605b. 606a. |
21 | Diess ist der Tong kien kang mou, den Mailla bei seiner Hist. gén. de la Chine zum Grunde gelegt hat. Tschuhi endete den Kangmou 1112. |
22 | Die Staaten (Kue) sind hier die einzelnen Fürstenthümer oder auch Provinzen des ganzen Reiches (Tian hia); das Verhältniss dieser Staaten zum ganzen Chinesischen Staate war zu verschiedenen Zeiten sehr verschieden. |
23 | Hoc scilicet linguae Sinicae proprium est, sagt Prémare in seiner Notitia p. 252.: sensus quidem una et altera littera posset absolvi; sed ad oppositionem vel repetitionem recurrere necesse est, ne cadat oratio et ore hiante spiritus per vim abrumpatur. Dieser grosse Kenner des Chinesischen sagt manchmal selbst (z.B.p. 134.): er wisse nicht, ob dieser oder jener Character dem Sinne des Satzes Etwas gebe oder nehme. |
24 | Morrison (Diction. nach Radicalen Bd. 1. Vorrede, V), wo die auf die Einführung des Tons bezüglichen Stellen aus Kangsi's Wörterbuch übersetzt werden, begeht dabei mehrere Fehler, weil er nicht weiss, dass sich die ganze Chinesische Tonlehre auf die Einrichtung des Sanskritalphabets bezieht. Man muss dieses Alphabet kennen, um die Chinesische Ton- und Sylbenabtheilung zu verstehen. |
Buchempfehlung
E.T.A. Hoffmanns zweiter Erzählzyklus versucht 1817 durch den Hinweis auf den »Verfasser der Fantasiestücke in Callots Manier« an den großen Erfolg des ersten anzuknüpfen. Die Nachtstücke thematisieren vor allem die dunkle Seite der Seele, das Unheimliche und das Grauenvolle. Diese acht Erzählungen sind enthalten: Der Sandmann, Ignaz Denner, Die Jesuiterkirche in G., Das Sanctus, Das öde Haus, Das Majorat, Das Gelübde, Das steinerne Herz
244 Seiten, 8.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro