9. Die Lehre des Dschuang Dsï der Brunnenfrosch

[188] Der Philosoph Gung Sun Lung befragte den Prinzen Mau von We und sprach: »Von früher Jugend auf habe ich die Lehren der alten Könige gelernt; seit ich erwachsen bin, durchschaue ich die Tugenden der Güte und Pflicht; ich erkenne Übereinstimmung und Abweichung der Dinge; ich vermag die Begriffe von ihren Objekten zu trennen; So-Sein und Nicht-So-Sein, Möglichkeit und Nicht-Möglichkeit, all die Weisheit der verschiedenen Schulen habe ich mühevoll erlernt und habe erschöpft, was alle an klugen Reden vorzubringen wissen, so daß ich wohl von mir behaupten kann,[188] daß ich die höchste Stufe der Weisheit erklommen. Nun habe ich da die Worte des Dschuang Dsï gehört, die mich in ungeheures Staunen versetzen. Ich weiß nicht, ob er seinen Gedanken nicht den richtigen Ausdruck zu geben weiß, oder ob meine Erkenntnis ihm nicht zu folgen vermag. Ich ermangle nun vollständig der Worte und wage, um Auskunft zu bitten.«

Der Prinz Mau lehnte sich auf seinen Tisch, atmete tief, blickte zum Himmel empor und sprach lächelnd: »Kennt Ihr nicht die Geschichte vom Frosch im alten Brunnenloch, der einst zu einer Schildkröte des Ostmeeres sprach: ›Wie groß ist doch meine Freude! Ich kann emporspringen auf den Rand des Brunnens. Will ich wieder hinunter, so kann ich auf den zerbrochenen Ziegelstücken der Brunnenwand ausruhen. Ich begebe mich ins Wasser, ziehe meine Beine an mich, halte mein Kinn steif und wühle im Schlamm; so kann ich tauchen, bis meine Füße und Zehen ganz bedeckt sind. Wenn ich um mich blicke, so sehe ich, daß von all den Muscheln, Krabben und Kaulquappen in ihren Fähigkeiten mir keine gleichkommt. Auf diese Weise das Wasser eines ganzen Loches zur Verfügung zu haben und all das Behagen des alten Brunnens nach Belieben auszukosten: das gehört zum Höchsten. Wollt Ihr nicht, mein Herr, zuweilen kommen und Euch die Sache besehen?‹ – Als aber die Schildkröte des Ostmeeres ihren linken Fuß noch nicht im Wasser hatte, da war der rechte schon stecken geblieben. Darauf zog sie sich vorsichtig wieder zurück und erzählte ihm vom Meer, das weit über tausend Meilen groß und weit über tausend Klafter tief sei. Als zu Zeiten des Herrschers Yü neun Jahre unter zehn Wassersnot geherrscht, da sei das Wasser des Meeres nicht größer geworden; als zu Zeiten des Herrschers Tang von acht Jahren je sieben große Dürre gewesen, da sei es nicht von seinen Ufern zurückgewichen. Alle äußeren Einflüsse, ob sie lang oder kurz wirkten, ob sie groß oder klein seien, brächten keine Veränderungen hervor: das sei die Freude des Ostmeeres. – Als der Frosch vom alten Brunnen das hörte, da erschrak er sehr und verlor vor Überraschung fast das Bewußtsein.[189]

Nun ist Eure Weisheit noch nicht einmal so weit, daß Ihr die Grenzen von Behauptung und Leugnung erkennt, und doch wollt Ihr Euch eine Ansicht bilden über die Worte des Dschuang Dsï. Das ist gerade, wie wenn man einer Mücke einen Berg aufladen wollte oder einen Tausendfuß mit dem gelben Fluß um die Wette laufen ließe. Es geht notwendig über ihre Kraft. Nun ist Eure Weisheit noch nicht einmal so weit, daß Ihr die Ausdrücke wirklich tiefer Wissenschaft versteht, und doch bildet Ihr Euch etwas ein auf Euren Modescharfsinn. Macht Ihr es da nicht gerade so wie der Frosch im alten Brunnen? Jener Meister steht bald tief drunten unter den Geheimnissen der Unterwelt, bald steigt er empor in die höchsten Höhen des Himmels.

Er kennt nicht Süden noch Norden; frei bewegt er sich nach allen Richtungen und taucht hinab in unermeßliche Tiefen. Er kennt nicht Osten noch Westen; er beginnt beim tiefsten Geheimnis und kehrt zurück zum allumfassenden Verständnis. Wenn Ihr nun in Eurer Hilflosigkeit ihn zu erforschen strebt und über ihn zu diskutieren sucht, so ist das gerade, als wollte man den Himmel überschauen durch eine Röhre, oder als wollte man mit der Spitze einer Ahle die Erde bedecken. Diese Werkzeuge sind zu klein. Geht weiter, Herr! Kennt Ihr nicht die Geschichte von jenen Schülern, die in die Hauptstadt zogen, um zu lernen, und ehe sie gelernt, was dort zu lernen war, ihre alten Kenntnisse verlernt hatten? Wenn Ihr jetzt nicht geht, so ist zu fürchten, daß Ihr auch Eure früheren Fähigkeiten vergeßt und Euren Beruf verliert.«

Gung Sun Lung stand da mit offenem Mund, nicht fähig, ihn zu schließen; die Zunge klebte ihm am Gaumen. So lief er weg.

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 188-190.
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