[234] Arbeitseinstellungen (strikes; grèves; scioperi). A. bilden ein Mittel, um Verbesserung der Arbeitsbedingungen, insbesondere Lohnerhöhungen durchzusetzen. Das den Arbeitern gewährte Koalitionsrecht, d.h. das Recht, sich zur Erzielung günstigerer Arbeitsbedingungen zusammenzutun und auch A. zu diesem Zwecke zu verabreden, hat zu einer außerordentlich weitgehenden Organisierung der Arbeiter zu Verbänden und Syndikaten geführt. Die Macht, die die Arbeiter hierdurch erlangt haben, hat in den letzten Jahren zu einer Organisation der Arbeitgeber geführt, die auf diese Weise begonnen haben, den Kampf gegen die Arbeiterorganisationen gemeinsam zuführen. Eines der wichtigsten Kampfmittel ist die Arbeiteraussperrung geworden. Für den Eisenbahnbetrieb besteht diese Kampfmöglichkeit aber nicht. Je länger die Eisenbahnen bestehen, je engmaschiger ihr Netz wird, umsomehr wird die Eisenbahn zu einem unentbehrlichen Faktor für die Lebensmöglichkeit eines Volkes. Der Stillstand des Eisenbahnverkehrs ist heutzutage einfach undenkbar. Für die Eisenbahnverwaltungen besteht deshalb die physische Unmöglichkeit, den Verkehr stillzulegen: eine Aussperrung des Personals ist ausgeschlossen. Angesichts der durch diese Sachlage bedingten Gefahr für die nationalen Lebensbedingungen hat sich denn auch in einer Reihe von Staaten die Überzeugung durchgerungen, daß auf gesetzgeberischem Wege der Gefahr eines Ausstandes des Eisenbahnpersonals entgegenzuwirken ist. Zum Teil handelt es sich hier um Androhung krimineller Strafen, zum Teil um Androhung der Entlassung, zum Teil endlich ist für Streitigkeiten zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ein besonderes Verfahren vorgeschrieben, während dessen die Arbeitseinstellung verboten ist. Teilweise beschränkt sich die Gesetzgebung auf den Kreis der Eisenbahnbediensteten, teilweise umfaßt sie zugleich andere Betriebe, deren Bedeutung für das öffentliche Leben ebenfalls von besonderer Bedeutung ist (z.B. Beleuchtungsanstalten, Wasserzufuhr, Post und Telegraphie), teilweise endlich erstreckt sie sich auf A. aller Art.
In England bedrohen die Eisenbahngesetze aus den Jahren 1840 und 1842 Handlungen oder Unterlassungen von Eisenbahnbediensteten, durch die Personen gefährdet, Bahnanlagen beschädigt, Zugfahrten aufgehalten oder gehindert werden können, mit Haft oder Gefängnis bis zu 2 Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 10 ₤. Das Verschwörungs- und Vermögensschutzgesetz von 1875 ferner setzt auf den Bruch des Dienstvertrages mit der wahrscheinlichen Folge der Gefährdung von Menschenleben oder Schädigung von Personen und Sachen Gefängnisstrafe bis zu 3 Monaten oder Geldstrafe bis zu 20 ₤.
Das niederländische Strafgesetzbuch von 1903 bedroht die Dienstverweigerung von Eisenbahnbediensteten in der Absicht, den Eisenbahnverkehr zu stören, mit Gefängnis bis zu 6 Monaten oder Geldstrafe bis zu 300 Gulden. Auf die Verschwörung von drei oder mehr Bediensteten zu dem gleichen Zweck steht Gefängnis bis zu 2 Jahren. Wird die Störung des Eisenbahnverkehrs erreicht, so verdoppelt sich die Strafandrohung.
In Rußland setzt ein kaiserlicher Ukas vom Jahre 1905 für verabredete Arbeitsniederlegung von Eisenbahnbediensteten 3 Wochen bis 3 Monate Haft oder 416 Monate Gefängnis, für Aufreizung zu solcher A. 8 bis 16 Monate Gefängnis fest.
In den Vereinigten Staaten von Nordamerika gehört die Materie zur Zuständigkeit der Einzelstaaten. In New Yersey verfallen nach dem Gesetz, betreffend die Eisenbahnbediensteten, die letzteren in eine Geldstrafe von 100500 $ oder in eine Gefängnisstrafe bis zu 6 Monaten, wenn sie streiken oder einen Streik unterstützen. Die Behinderung der Eisenbahnbediensteten an der Ausübung ihrer Pflicht oder Störung des Zugverkehres in der Absicht, einen Streik zu unterstützen, wird mit Geldstrafe bis zu 500 $ oder mit Gefängnis bis zu 1 Jahr geahndet. In etwa 24 Staaten der Union ist auf das Instichlassen der Lokomotive zu gunsten einer Abrede und auf böswillige Unterbrechung oder Verhinderung des Zugverkehres Gefängnisstrafe von 20 bis 90 Tagen oder Geldstrafe von 20200 $ gesetzt.
In Frankreich bedrohte bereits das Bahnpolizeigesetz vom 20. Juli 1845 jeden Lokomotivbeamten und Bremser, der seinen Zug auf der Fahrt im Stich ließ, mit Gefängnis von 6 Monaten bis zu 2 Jahren. Durch einen der Kammer vorgelegten Gesetzentwurf soll diese Strafe auf alle bei der Zugförderung und Sicherung des Zugverkehres beschäftigten Personen erstreckt werden, die ihren Posten verlassen, ihren Dienst nachlässig versehen[234] oder ohne Entschuldigung dem Dienste fern bleiben.
In Victoria (Australien) wurde durch das Eisenbahnstreikgesetz von 1903 die Dienstentlassung gegen alle diejenigen ausgesprochen, die sich an dem Ausstand im Mai jenes Jahres beteiligt hatten.
In einer Reihe anderer Staaten sind die gesetzgeberischen Maßnahmen nicht nur auf den Eisenbahnverkehr beschränkt.
In Italien setzt das Strafgesetzbuch vom Jahre 1889 5003000 £ Geldstrafe und zeitweise Amtsenthebung auf das gemeinsame Verlassen des Dienstes durch öffentliche Beamte auf Grund einer Verabredung von drei oder mehr Personen. Dienstentlassung oder Disziplinarstrafe steht auf das Fernbleiben der Eisenbahnbediensteten vom Dienst, Unterbrechung und Störung des regelmäßigen Betriebes (Obstruktion). Die Eisenbahngesetze von 1905 und 1907 legen allen Eisenbahnbediensteten den Charakter von öffentlichen Beamten bei.
In Ungarn unterliegen nach dem Strafgesetzbuch von 1878 öffentliche Beamte, die den Dienst verweigern, einer Gefängnisstrafe bis zu 3 Monaten. Wird die Dienstverweigerung von zwei oder mehreren auf Grund gemeinschaftlicher Verabredung begangen, so erhöht sich die Strafe auf Kerker bis zu 3 Jahren.
Von Schweizer Kantonen hat Zürich in sein Strafgesetzbuch von 1908 Gefängnis oder Geldstrafe bis zu 1000 Fr. aufgenommen für vorsätzliche Pflichtverletzung der Angestellten öffentlicher Staats- und Gemeindebetriebe, wenn dadurch Leib oder Leben von Personen oder wertvolles öffentliches oder privates Gut gefährdet wird.
Das rumänische Vereinsgesetz von 1909 verbietet den Beamten und Arbeitern von Behörden und Unternehmungen, die öffentlichen Versorgungszwecken dienen, den Ausstand bei Strafe der Dienstentlassung unter Verlust der Pensionsansprüche.
In Neusüdwales sind Ausstände, durch welche die Öffentlichkeit ganz oder größtenteils der Versorgung mit notwendigen Lebensbedürfnissen beraubt würde, insbesondere auch Ausstände in staatlichen Verkehrsanstalten, durch das Gesetz über gewerbliche Streitigkeiten von 1908 bei Gefängnisstrafe bis zu 2 Monaten oder Geldstrafe bis zu 1000 ₤ verboten. Eine Novelle hierzu vom 20. Dezember 1909 bedroht Versammlungen von zwei oder mehr Personen zur Herbeiführung, Unterstützung, Fortsetzung oder Leitung eines solchen Ausstandes mit Gefängnis bis zu 12 Monaten.
Wieder andere Staaten suchen dem Streik dadurch vorzubeugen, daß sie die Behandlung der Streitigkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern in geordnete Bahnen lenken und während dieses Verfahrens die A. verbieten. Nebenher gehen dabei mehrfach Strafandrohungen gegen Antreiben zum Streik durch Außenstehende.
In Spanien verlangt das Gesetz, betreffend Ausstände und Koalitionen von 1909, daß A., die die Einstellung des Eisenbahnbetriebs oder die Unterbrechung der Licht- oder Wasserzufuhr bezwecken, der Behörde mindestens 8 Tage, Ausstände im Straßenbahnbetrieb mindestens 5 Tage vorher unter Angabe der Gründe anzuzeigen sind. Führer und Anstifter, die die rechtzeitige Anzeige unterlassen, haben strenge Haft verwirkt.
Das türkische Streikgesetz von 1909 schreibt Einigungsverhandlungen vor. Wer an einem Ausstande in einem öffentlichen Dienstzweig (Eisenbahn-, Hafen-, Beleuchtungsdienst etc.) vor Beendigung dieser Verhandlungen oder entgegen dem dabei geschlossenen Vergleich teilnimmt, verfällt in Gefängnisstrafe von 1 Tag bis zu 1 Woche und 25100 Piaster Geldstrafe. Auf die Aufreizung zu einem verbotenen Streik in öffentlichen Dienstzweigen sowie die Beeinträchtigung der Arbeitsfreiheit durch Hetzerei und betrügerische Umtriebe steht 1 Woche bis 6 Monate Gefängnis oder 1 bis 25 türk. Pfund Geldstrafe, und wenn dabei Drohungen und Gewalttätigkeiten angewendet werden, 1 Monat bis 1 Jahr Gefängnis oder 150 Pfund Geldstrafe. Die Bildung von Gewerkvereinen ist dabei den Bediensteten in öffentlichen Dienstzweigen untersagt und auf deren Organisation 1 Woche bis 6 Monate Gefängnis oder 125 Pfund Geldstrafe gesetzt.
In Kanada droht das Streikverhütungsgesetz von 1907 für A. durch Eisenbahnbedienstete vor dem Austrag der obligatorischen Einigungsverhandlungen 1015 $ Geldstrafe für jeden Streiktag und für die Aufreizung dazu 50 bis 1000 $ Geldstrafe an.
In Transvaal ist durch Gesetz von 1909 Geld- oder Arreststrafe auf jeden Ausstand gesetzt, der unternommen wird, bevor das vorgeschriebene Einigungsverfahren stattgefunden hat oder bevor 1 Monat nach Veröffentlichung des Schiedsspruches der Einigungskommission verflossen ist.
In Frankreich ist der Kammer ein Gesetzentwurf unterbreitet, der für Streitigkeiten zwischen Eisenbahngesellschaften und Bediensteten ein Einigungs- und Schiedsverfahren vorschreibt und bei Strafe der Dienstentlassung die A. während des Verfahrens oder entgegen dem Schiedsspruch verbietet. Gegen die Verbände und Syndikate, die zu einem Ausstande[235] auffordern, ihn vorbereiten oder organisieren, werden daneben Strafen von 50200 Fr. oder Gefängnis von 14 Tagen bis zu 3 Monaten angedroht. Diese Strafe soll auf 100300 Fr. oder Gefängnis von 2 Monaten bis zu 1 Jahr verschärft werden, wenn das Vergehen während einer Differenz begangen wird, auf die das Schiedsverfahren Anwendung zu finden hat.
Wenn auch die näheren Beziehungen zum Eisenbahnverkehr hierbei fehlen, sei schließlich erwähnt, daß in einer Reihe von Staaten, u.a. in Deutschland durch die Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869, in Österreich durch das Gesetz vom 7. April 1870 Bestimmungen gegen Mißbrauch des Koalitionsrechtes erlassen sind, die der Hauptsache nach den Zwang zur Teilnahme an A. verbieten und unter Strafe stellen.
A. größeren Umfangs auf den Eisenbahnen gehören immerhin zu den Seltenheiten. Am häufigsten kommen sie in Amerika vor. Dies hängt vielleicht mit dem Umstände zusammen, daß Lohnherabsetzungen und Personalentlassungen bei den schwankenden finanziellen Verhältnissen vieler amerikanischer Bahnen häufig wiederkehren. Amerika ist auch das Ursprungsland der Eisenbahnstreiks. Der erste war wohl ein partieller Streik der Bremser der Ohio-Mississippi-Bahn im Jahre 1876. Im darauffolgenden Jahr entstanden im Osten der Vereinigten Staaten Arbeitsausstände, die sich über die ganze Union verbreiteten und durch eine Reihe von Riesenstreiks viele andere Gewerbe in Mitleidenschaft zogen. Seit jener Zeit hat es auf den verschiedensten Bahnen A. in mehr oder minder großem Umfang gegeben.
In Europa ist es erst in diesem Jahrhundert zu ernsteren A. gekommen. Hervorzuheben ist hier der Eisenbahnausstand in Amsterdam 1903, der zunächst klein anfing, indem die Eisenbahnbediensteten an den Hafengleisen sich mit den streikenden Hafenarbeitern solidarisch erklärten und die Behandlung der von Arbeitswilligen beladenen Wagen verweigerten. Die Bewegung wuchs sich dann allmählich zu einem allgemeinen Sympathiestreik aus, der den ganzen Amsterdamer Verkehr fast vollständig lahm legte.
Eine besondere Natur gewannen die Arbeitsverweigerungen in Italien und Österreich. Hier stellten die Bediensteten die Arbeit nicht ein, legten aber trotzdem den Verkehr ziemlich lahm, indem sie den Dienst durch wirklich oder angeblich genaue instruktionsmäßige Manipulationen, die sie außerdem in langsamster und lässigster Weise betrieben, behinderten und verzögerten. Diese Art des Streiks wird als passive Resistenz oder Obstruktion bezeichnet. In Italien wurden auf diese Weise im Jahre 1904 dem Verkehrsleben tiefe Wunden geschlagen. Im Herbst 1907 wiederholten sich diese Vorkommnisse, allerdings in wesentlich kleinerem Maßstabe. In Österreich wurde Ende 1905 passive Resistenz in weit ausgedehntem Maßstabe geübt, die nicht nur auf die Privatbahnen beschränkt blieb, sondern auch auf die Staatsbahnen übergriff. In beschränktem Umfang kam es dann noch im Jahre 1907 bei mehreren Privatbahnen zu einer Wiederholung der passiven Resistenz.
Ein großer Eisenbahnerstreik fand in der Woche vom 11. bis 18. Oktober 1910 in Frankreich statt. Hier beabsichtigte das Arbeitersyndikat nichts weniger als einen Generalstreik auf allen französischen Bahnen. Ausgebrochen bei der Nordbahn, ergriff der Streik außer diesem Netz nur noch die verstaatlichte Westbahn in großem Umfange. Als besonders bemerkenswerte Begleiterscheinung des Streiks trat die planmäßige Sabotage auf, d.h. im wesentlichen die Unbrauchbarmachung der zum Betriebe notwendigen Anlagen für Nachrichtenübermittelung, Signal- und Weichenstellung. Dabei blieb es aber nicht. Auch eine Reihe gefährlicher Attentate auf die Sicherheit des Zugverkehrs wurde versucht. Dank der energischen Maßnahmen der französischen Regierung, die insbesondere, wie das zuvor schon in Italien und Ungarn geschehen war, die militärpflichtigen Eisenbahnbediensteten einberief und unter dem Zwange des Militärgesetzes anhielt, ihren Dienst zu verrichten, wurde die Bewegung im Keime erstickt, bevor sie noch auf die anderen großen Eisenbahnnetze in nennenswertem Maße übergegriffen hatte.
Der letzte große Eisenbahnerstreik war der englische, derselbe dauerte vom 7. bis 20. August 1911 und ging in einen Generalstreik über, der zu gewaltigen Ausschreitungen und heftigen Zusammenstößen mit der Polizei führte. Über Veranlassung der Regierung wurden von den Eisenbahngesellschaften Unterhandlungen mit den Bediensteten eingeleitet, außerdem wurde Militär in Bereitschaft gestellt, um den Verkehr nach Möglichkeit aufrecht zu erhalten. Am 19. August 1911 führten die Verhandlungen zu einer Verständigung.
Literatur: Roskoschny, Geschichte der Streiks, Berlin 1890. Maximilian Meyer, Statistik der Streiks und Aussperrungen im In- und Auslande, Leipzig 1907. Soz. Rdsch., Nov. 1905 u. Mai 1906. S. Kaff, Das Recht der Eisenbahner, Wien 1907. W. Sombart, Sozialismus und soziale Bewegung, 6. Aufl., Jena 1908. Elsbeth Georgi, Theorie und Praxis des Generalstreiks, Jena 1908. Reichsarbeitsbl., Berlin 19031908.
Leese.
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