List

[115] List, Friedrich, deutscher Nationalökonom, geb. 6. August 1789 in Reutlingen, wurde nach Bestehen der höheren Prüfungen 1817 zum Professor der Staatswissenschaften an der Universität Tübingen ernannt, jedoch seiner politischen Anschauungen wegen 1819 aus dem Staatsdienst entlassen. In diesem Jahre gründete L. in Frankfurt a. M. den deutschen Handels- und Gewerbeverein, der für die Gründung des deutschen Zollvereins von großem Einfluß gewesen ist.

1821 wurde L. zum Landtagsabgeordneten gewählt, aber infolge einer regierungsfeindlichen Denkschrift von der Kammer ausgeschlossen und zu langer Festungshaft verurteilt, entfloh jedoch und lebte 3 Jahre in Straßburg und in der Schweiz.

Nach Württemberg zurückgekehrt, brachte er 4 Monate in Haft zu, ward sodann in Freiheit gesetzt, aber nach Amerika verbannt. Dort landete er im Juni 1825. Hier war L. 1825–1830 als Landwirt, Unternehmer und Schriftsteller tätig und beobachtete das in raschem Aufblühen begriffene Eisenbahnwesen der Vereinigten Staaten.

Dies führte L. zu der Überzeugung, wie fördersam auf die gewerbliche Entwicklung, auf das ganze geistige und politische Leben, auf den geselligen Verkehr und die Leistungsfähigkeit eines Volkes, namentlich des deutschen, ein einheitlich ausgebildetes Eisenbahnsystem – im Gegensatz zu bloß stückweisen Schienenwegen – bei angemessenen Tarifen wirken müsse. Waren doch zu jener Zeit die Massenerzeugnisse, wie Steine, Kohlen, Eisen, Holz, auch Vieh und Getreide, vom großen Verkehr fast ausgeschlossen.

Zur Schaffung von Eisenbahnen in seinem Vaterlande trat L. 1828 von Reading (Pennsylvanien) aus mit dem Münchener Akademiker Josef v. Baader in Briefwechsel. In den in Hamburg erschienenen »Mitteilungen aus Amerika« begründete L. seine Vorschläge über ein bayrisches Eisenbahnsystem, sowie die Eisenbahnverbindungen Süddeutschlands mit den Hansastädten über Frankfurt und Leipzig. Als Hauptlinien Bayerns empfahl er die Linien Bamberg-Nürnberg-Donauwörth-Augsburg mit Abzweigungen nach Bayreuth und an die Tauber, Würzburg-Nürnberg-Regensburg-München und Günzburg-Augsburg-München-Salzburg. Hieran reihten sich Vorschläge für Bahnverbindungen zwischen Rhein und Weser, Hannover und den Hansastädten, selbst nach der pfälzischen kohlenreichen Saargegend.

L. rief selbst eine der ersten Lokomotiveisenbahnen Nordamerikas ins Leben. Er hatte 1828 auf einem Ausfluge in die »Blauen Berge« ein mächtiges Steinkohlenlager entdeckt und nebst vielen Holzländereien angekauft. Er gründete eine Gesellschaft zur Ausbeutung der Kohlenlager. Das Unternehmen gelang so vollständig, daß L. bald eine Eisenbahn (Holzbahn mit Plattenschienen) herstellen mußte, um das Kohlenbergwerk mit dem Schuylkillkanal (zwischen Tamaqua und Port Clinton in Pennsylvanien) zu verbinden. Die Bahn wurde im Herbst 1831 feierlich eingeweiht.

Trotz dieser Erfolge fühlte L. einen unwiderstehlichen Drang zur Rückkehr nach seinem Vaterlande, um für ein deutsches Eisenbahnsystem einzutreten. 1831 führte L. den Vorsatz aus. Zunächst nahm er seinen Wohnsitz in Paris. Hier entwickelte L. in der »Revue[115] encyclopédique« die Grundzüge eines nationalen Transportsystems, brachte auch vor dem belgischen Gesandten zum erstenmal die Vorteile einer Eisenbahn Köln-Antwerpen zur Sprache – ohne Erfolg. Nochmals begibt er sich nach Amerika und kehrt demnächst mit seiner Familie nach Deutschland zurück. Nach einjährigem Aufenthalt in Hamburg, wo er für seine Pläne keinen fruchtbaren Boden fand, siedelte er im Sommer 1833 nach Leipzig über.

Hier veröffentlichte L. 1833 die Aufsehen erregende Flugschrift »Über ein sächsisches Eisenbahnsystem als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahnsystems und insbesondere über die Anlegung einer Eisenbahn von Leipzig nach Dresden«; er wußte den Bankier Wilhelm Seyfferth und die Kaufleute Harkort, Karl Lampe und Albert Dufour-Feronce, den Regierungskommissär von Langen und durch zahlreiche Zeitungsaufsätze weitere Kreise für die Ausführung der Leipzig-Dresdener Bahn zu gewinnen.

Auf einem obiger Schrift beigehefteten Kärtchen hatte L. bereits 600 deutsche Meilen Schienenstraßen verzeichnet, die Linien Basel-Karlsruhe-Frankfurt a. M.-Gotha-Leipzig-Berlin, Stettin-Berlin-Magdeburg-Braunschweig-Hannover-Minden-Köln, Leipzig-Dresden-Prag, Thüringen-Bamberg-Nürnberg-Augsburg-München-Lindau, Karlsruhe-Stuttgart-Augsburg, Hamburg-Berlin-Breslau und Berlin-Thorn-Danzig. Außerdem enthielt die Schrift die Skizze eines sächsischen Dampfwagenzugs, sowie einen von L. verfaßten, nach Form und Inhalt den »Eisenbahnakten« der Engländer und Amerikaner nachgebildeten Gesetzentwurf in 27 Artikeln über Bildung einer Aktiengesellschaft zur Erbauung der Leipzig-Dresdener Eisenbahn und von Schienenwegen im Königreich Sachsen überhaupt.

Es gelang L. allmählich, die Bevölkerung Leipzigs über die Bedeutung der Eisenbahn aufzuklären.

Im Mai 1834 verfaßte er die die Aufforderung zur Bildung eines Eisenbahnkomitees enthaltende, die einschlägigen Verhältnisse meisterhaft darlegende und durch überzeugende Berechnungen das Vertrauen des Publikums erweckende Schrift »Aufruf an unsere Mitbürger in Sachsen«, die Anlage der Eisenbahn zwischen Dresden und Leipzig betreffend, in der er nochmals in eindringlichen Worten die großen Erfolge der Eisenbahnen in England und Amerika beleuchtete.

Er war die Seele des am 3. April 1834 zusammengetretenen Eisenbahnkomitees, in das er – angeblich als Ausländer – nicht gewählt, sondern dem er nur beigezogen worden war. Er stellte das Programm für die Tätigkeit des Komitees auf; er bereitete den Plan vor, begutachtete das Enteignungsgesetz u.s.w. Auch die sieben öffentlichen Berichte des unter Harkorts Vorsitz gebildeten Eisenbahnausschusses, die vom Juli 1834 bis Mai 1835 erschienen, haben L. zum Verfasser; es finden sich darin auch allgemeinere Fragen behandelt, z.B. die Vorteile der Eisenbahnen in Kriegszeiten, die verschiedenen Arten und Kosten des Oberbaues, die nichtigen Bedenken wegen Mitbewerb von Straßendampfwagen.

Seine Verdienste um das Zustandekommen der Leipzig-Dresdener Bahn wurden nicht gewürdigt, er wurde mehr und mehr zurückgedrängt, erhielt auch in dem im Juni 1835 gewählten Direktorium keinen Platz und wurde mit einem sog. Ehrengeschenk von zweimal 2000 Talern abgefunden. Im Jahre 1837 verließ er Leipzig.

Unter dem Titel: »Über die Herstellung eines preußischen Eisenbahnsystems« übersendete er eine die Bahnverbindung zwischen Leipzig, Magdeburg, Berlin und Hamburg bezweckende Denkschrift an den König und den Kronprinzen von Preußen und begab sich im Frühjahr 1835 selbst nach Berlin, wo er mit den angesehensten Mitgliedern des Berliner Handelsstandes zusammentrat und ehrenvolle Aufnahme fand.

Seinem Gesuch um Konzessionierung insbesondere einer Eisenbahn von Magdeburg nach Leipzig wurde nicht stattgegeben.

Wegen einer Schienenverbindung Mannheim-Basel hatte sich L. im Verein mit Kommerzienrat Newhouse mit einer Denkschrift an die badische Ständeversammlung gewendet, allein ohne viel Erfolg, da die großherzogliche Regierung sich bereits mit der Herstellung dieser Linie, u.zw. in Staatsregie, beschäftigte.

Als Mittelpunkt aller Eisenbahnbestrebungen schuf L. in richtiger Erkenntnis des praktischen Werts einer gut geleiteten Presse das »Eisenbahnjournal« oder »Nationalmagazin für neue Erfindungen, Entdeckungen und Fortschritte im Handel und Gewerbe, in der Land- und Hauswirtschaft, in öffentlichen Unternehmungen und Anstalten, sowie für Statistik, Nationalökonomie und Finanzwesen« (Altona und Leipzig bei Hammerich).

Das Verbot des Journals in Österreich, wo es viel gelesen ward, zwang L., die Zeitung aufzugeben.

Ende 1837 siedelte er über Brüssel nach Paris über, wo er die früheren Entwürfe zu einem französischen Eisenbahnnetz wieder aufnahm; 1840 kehrte er wieder nach Deutschland zurück, zunächst nach Leipzig und[116] Weimar. Durch öffentliche Besprechungen und persönliche Vorstellungen setzte er es durch, daß die Bahn Halle-Kassel dem ursprünglichen Plan entgegen in einer sieben Meilen größeren Linie über Naumburg, Weimar, Erfurt, Gotha und Eisenach geführt wurde, eine Tat, die in den thüringischen Staaten allseitige Anerkennung fand; ja die juristische Fakultät der Universität Jena verlieh L. »wegen seiner Verdienste um die Sache des deutschen Handelsvereines und des deutschen Eisenbahnsystems« die Würde eines Ehrendoktors.

Da L. auch in Thüringen keinen materiellen Erfolg zu verzeichnen hatte, nahm er bleibenden Aufenthalt in Augsburg, um durch die »Allgemeine Zeitung« für die deutschen wirtschaftlichen Aufgaben, insbesondere für ein großes, allgemeines Transportsystem zu wirken. In Augsburg schrieb L. 1841 sein bedeutendstes, unvollendet gebliebenes Werk »Nationales System der politischen Ökonomie«, das 1877 in siebenter Auflage erschien.

1841, als bereits die Bahnen Leipzig-Dresden, Leipzig-Magdeburg, Basel-Straßburg, Mannheim-Heidelberg im Betrieb standen, zog L. wiederum nach Württemberg und ergriff hier die Feder vornehmlich für ein württembergisches Staatseisenbahnnetz in der Schrift: »Das deutsche Eisenbahnsystem als Mittel zur Vervollkommnung der deutschen Industrie, des deutschen Zollvereines und des deutschen Nationalverbandes überhaupt«.

Man überhäufte L. in Württemberg mit Ehrenbezeugungen, ohne daß es ihm gelang, eine feste Anstellung zu erhalten; ebensowenig glückte ihm diese Absicht in Bayern, wo er im Herbst 1845 weilte.

Geistige Überanstrengung, Sorge um die Zukunft seiner Familie, körperliches Leiden und die Angriffe auf seine Person trieben ihn zum Selbstmord. Am 30. November 1846 machte er in Kufstein seinem Leben ein Ende. In Deutschland wurden Sammlungen eröffnet; seine Hinterbliebenen erhielten ein Ehrengeschenk, ihm selbst wurde in seiner Vaterstadt ein Denkmal errichtet. Sein hundertjähriger Geburtstag wurde 1889 festlich begangen.

In Kufstein wurde L. gleichfalls ein Denkmal errichtet und die Errichtung eines solchen vor dem neuen Bahnhof in Leipzig ist in Vorbereitung.

Literatur: Häuser, Friedrich Lists gesammelte Schriften. Stuttgart 1850; Die Leipzig-Dresdener Bahn in den ersten 25 Jahren ihres Bestehens. Leipzig 1864. – Goldschmidt, Friedrich List, Deutschlands großer Volkswirt. Berlin 1878. – Niedermüller, Die Leipzig-Dresdener Bahn, ein Werk Friedrich Lists. Leipzig 1880. – Krause, Friedrich List und die erste große Eisenbahn Deutschlands. Leipzig 1887. – Marggraff, Friedrich List, der Vorkämpfer der deutschen Eisenbahnen. Ztg. d. VDEV. 1889.

Quelle:
Röll, Freiherr von: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Band 7. Berlin, Wien 1915, S. 115-117.
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