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Die neue sogenannte »Vaterlandspartei« begründet ihre Existenz damit: die heutige Zusammensetzung des Reichstags und infolgedessen auch dessen Beschlüsse in der Friedensfrage entsprächen nicht »der Volksstimmung«. Nun gäbe es ja ein einfaches Mittel, die Wahrheit dieser Behauptung zu kontrollieren: die Volksabstimmung. Durch sie könnte insbesondere auch das kämpfende Heer, welches ja schließlich für all dies bramarbasierende Schwadronieren mit seinem Blut einzustehen hat, zur Meinungsäußerung veranlaßt werden. Rein politisch empfiehlt sich die Technik der Volksabstimmung in vieler Hinsicht gewiß wenig. Aber wenn diese Agitation so fortgeht, könnte ja schließlich die Probe gemacht werden.
Die politischen Motive der Reichstagsentschließung2 lagen auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen, insbesondere derjenigen zu unseren Bundesgenossen. Was unsere Kriegsredner immer wieder vergessen, ist: wir führen einen Bundeskrieg und müssen, wie der Admiral im Geschwaderverband, unsere Ziele nach der Offensivkraft und dem Offensivwillen der in dieser Hinsicht »schwächsten Schiffe« richten. Von den verbündeten Mächten kämpft Bulgarien gemäß den Bündniszusagen für die Herstellung derjenigen, auch dem Nationalitätsverhältnis entsprechenden Machtverteilung auf dem Balkan, die schon der Friede von San Stefano festgelegt hatte, mit jenen Kompensationen im Nordosten und Nordwesten, welche durch die zuletzt im Übereinkommen mit der Türkei von 1915 festgelegte, andersartige Grenze im Süden bedingt sind. Österreich-Ungarn und die Türkei kämpfen ausschließlich um die Sicherung der Integrität ihres Gebiets, und Österreich-Ungarn hatte sich sogar, auf deutschen Wunsch, seinerzeit zu gewissen Konzessionen an Italien bereit erklärt. Für Deutschlands Sicherheit und Unversehrtheit werden alle Verbündeten[229] ebenso solidarisch und unbegrenzt kämpfen, wie wir für ihre Ziele. Es ist aber ebensowenig daran zu denken, daß Österreich und die Türkei unbegrenzt für ein deutsches Belgien kämpfen werden, wie wir etwa für ein österreichisches Venedig oder für ein türkisches Persien. An diese nüchterne Tatsache sind unsere politischen Phantasten auch öffentlich erinnert worden. Aber obwohl sie schlechthin ausschlaggebend für unsere Friedenspolitik ist, haben jene Herren noch immer nichts gelernt. Die Friedensentschließung des Reichstags gab gegenüber dem fortwährenden rein demagogisch und innerpolitisch bedingten Gerede der Rechtsparteien unseren Verbündeten die Sicherheit, daß ihnen nichts anderes als die Erfüllung jener Bündnispflicht zugemutet werde, daß also die gemeinsame Absicht: keinen Eroberungskrieg zu führen, von uns genau ebenso ehrlich wie von Österreich-Ungarn gemeint sei und innegehalten werde. Daß für Deutschland die Herrschaft über Belgien bei schwersten politischen Nachteilen ausschließlich militärische Bedeutung hätte, daß sie deshalb aufgegeben werden sollte, falls ein Friede zustande käme, welcher die Gewähr der Dauer in sich trüge, – dies stand bei Politikern von Augenmaß längst vor der Friedenskundgebung des Reichstags fest. Die Frage ist, ob ein solcher Friede möglich ist. Und eben darauf wünscht diese Kundgebung eine ehrliche Probe zu machen.
Es ist ein politisch bedenkliches Unterfangen, wenn Militärs a.D., und seien sie als solche noch so bedeutend, Dörchläuchtings und dergleichen unverantwortliche Amateurpolitiker sich herausnehmen, an dem festen Vertrauensverhältnis innerhalb des Bündnisses, um dessen gewissenhafte Pflege sich, wie bei aller sonstigen Gegnerschaft anerkannt werden muß, auch der bayerische Ministerpräsident Graf HERTLING nicht unerhebliche Verdienste erworben hat, leichtfertig zu rütteln. Zumal der Zweck auch hier wieder kein nationaler, sondern rein innerpolitische Demagogie ist. Schon die Vorgänge bei der Friedensentschließung selbst zeigten das. Wirklich gegen ihren sachlichen Inhalt stimmten nur etwa achtzig Reichstagsmitglieder. Nicht nur Linke und Zentrum, sondern bekanntlich auch ein Teil der konservativen Partei hat in aller Form für sie gestimmt. Die Nationalliberalen aber mußten, da ein Teil ihrer angesehensten Mitglieder das gleiche tun wollte, zunächst die Abstimmung freigeben (als Partei der »Individualitäten«, wie sie das für ihre Mitglieder motivierten). Erst später einigten sie sich auf eine eigene Entschließung, deren Unterschied von jener der Mehrheit man allenfalls mit dem Mikroskop[230] entdecken kann. Auch dies wurde mit Opportunitätsgründen (Möglichkeit der »Mißdeutung«) motiviert und den Mehrheitsparteien gegenüber eine Loyalitätserklärung abgegeben. Dennoch hat ein Teil der norddeutschen nationalliberalen Presse leider in schwer illoyaler Art sich an der Hetze gegen den Reichstag beteiligt.
Das immer weitere Reden über den Frieden bei uns ist nachgerade gewiß durchaus unerwünscht und schädlich. Allein die Schuld liegt ausschließlich an der Hetze der Gegner der Friedensentschließung. Es ist wahrlich eine schwere Verantwortung, durch derartige Hetzereien in der Öffentlichkeit das Vertrauen sowohl der Bundesgenossen wie des deutschen Volkes in die Aufrichtigkeit des deutschen Friedenswillens zu erschüttern und überdies die Ehrlichkeit der Probe zu gefährden und dadurch deren günstige Wirkung, wenn sie fehlschlägt, auf die Kriegsentschlossenheit des deutschen Volkes in Frage zu stellen. Vollends unglaublich ist freilich die dreiste Behauptung: die Frie densentschließung habe »die Stimmung im Lande verdorben«. Soweit dies zeitweilig überhaupt zutraf, war bekanntlich etwas ganz anderes daran schuld: die Enttäuschung der ununterrichteten Massen über das Ausbleiben der in frevelhafter Art, wieder und wieder mit der größten Bestimmtheit und unter Berufung auf angebliche Informationen eines Admirals von den Politikern der Rechten, von Herrn von HEYDEBRAND noch im Sommer 1917, öffentlich in sichere Aussicht gestellten Kapitulation Englands in diesem Herbst. Da die Admiralität etwas Ähnliches nie behauptet hat, ist es jetzt an der Zeit, öffentlich und auch im Reichstag zu fragen: wer war jener angebliche Admiral? Heraus mit ihm! Er melde sich öffentlich, – wenn er nämlich existiert! Wir wünschen keine politisierenden Militärs und keine Neuauflage der gleichen leichtfertigen Demagogie unter neuer Maske. Will es die Verblendung der Gegner, dann muß natürlich der Krieg auch um den Preis noch so schwerer Lasten noch bis zu jenem keineswegs nahen Zeitpunkt fortgeführt werden, zu welchem nach unserer jetzigen, auf Erfahrung gestützten Kenntnis der Tauchbootkrieg die Offensivkraft und schließlich auch die Defensivkraft des Feindes militärisch entscheidend geschwächt haben wird. Aber nicht nur den Verbündeten, sondern auch dem eigenen Heer draußen schuldete der Reichstag die Sicherheit, daß der Krieg nicht einen Tag länger geführt wird, als es für Deutschlands Ehre und Zukunft unerläßlich ist.
Dies Vertrauen bringt den Herren von der »Vaterlandspartei« kein Urteilsfähiger entgegen. Um es unmöglich zu machen, dazu genügt[231] schon das einzige Ziel, das ihnen wirklich innerlich offensichtlich am Herzen liegt: der Widerstand gegen die unabweisliche innere Neuordnung, deren alsbaldige Durchführung allein den heimkehrenden Kriegern die Gewähr geben kann, daß bei den sofort nach dem Krieg erfolgenden Wahlen nicht die Kriegsgewinnmacher allein die Herrschaft in Händen haben und die Krieger im führenden Staate Deutschlands unvertreten bleiben. Nie wieder würde die Nation so, wie 1914, gegen den Feind zu führen sein, wenn feierlich gegebene Versprechungen nicht voll und loyal erfüllt würden. Nie wieder ist Weltpolitik in Zukunft überhaupt möglich, wenn das frühere Regime, unter dessen diplomatischen Niederlagen wir in den Krieg eintraten und welches uns während des Krieges noch immer neue diplomatische Niederlagen eingetragen hat, wiederkehrt. Da liegt das Interesse des Vaterlandes. Niemals freilich wird im Falle der Neuordnung das Schicksal des Reiches in der Hand jener Demagogen liegen, deren unverantwortlich lärmendes Gebaren an seinem Teil dazu beigetragen hat, fast die ganze Welt gegen uns in einer widernatürlichen Koalition zusammenzuschmieden. Da liegt das Interesse derjenigen, welche den Namen des Vaterlandes zu einer demagogischen Parteifirma herabwürdigen, gegen die Neuordnung. Die Nation aber wird zwischen Vaterland und »Vaterlandspartei« zu wählen wissen.[232]
1 Münchener Neueste Nachrichten vom 30. September 1917.
2 Siehe Anm. 2 auf Seite 216 sowie Anm. 2 auf Seite 226. (D.H.)
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