Fenrir

[203] Fenrir oder Fenris (Nord. M.), ein Wolf, der schreckliche Sohn des bösen Loke und der Riesin Angerbode. Die Asen wussten, was ihnen von den Kindern dieses Paares drohe, darum zogen sie den Wolf F. bei sich auf, um wo möglich seine Wildheit zu mässigen, welche so furchtbar war, dass nur ein einziger Ase, der starke und weise Tyr, es wagte, dem Unthier Futter zu bringen. Die Götter wollten ihn zu binden versuchen, und legten ihm zwei mächtig starke Ketten, Leding und Droma, nach einander an, doch beidemale hatte er sich kaum ausgedehnt, als sie zersprangen; nun liessen die Asen durch Frei's Diener, Skirner, bei den Schwarzelfen ein Band bestellen, das aus Seide zu bestehen schien, aber aus dem Schall eines Katzentrittes, dem Bart eines Weibes, den Wurzeln eines Berges, dem Hauche eines Fisches, dem Speichel eines Vogels und den Sehnen eines Bären gemacht war: dieses hiess Gleipner. Es fühlte sich leicht an, doch wollte, als man es dem Wolf anzulegen gedachte, dieser den Versuch nicht gestatten, obwohl er wusste, dass er, seit er die beiden Bänder Leding und Droma gesprengt, viel stärker geworden. Die Asen sprachen ihm zu, und sagten, wenn er nicht einiger Gefahr sich unterziehen wolle, werde er schwerlich berühmt werden; das Band sei zwar stärker, als es scheine, doch würden sie ihn losbinden, wenn er zu schwach wäre, sich davon zu befreien. Wenn ich mich nicht selbst befreie, erwiderte F., so weiss ich wohl, was mir bevorsteht, darum komme es mir nicht an die Füsse, denn nachdem ich schon so starke Bande gesprengt, ist von diesem Bande wenig Ehre für mich zu erwarten, es muss also Zauber dabei im Spiele sein; wenn ihr es jedoch ehrlich meint, so lege mir, zum Pfande, dass ich nicht gefesselt bleiben soll, einer von euch die Hand in den Rachen. Nach langem Weigern that endlich Tyr, was F. begehrte, und nun liess dieser sich geduldig binden; sobald er sich aber zu strecken anfing, empfand er, dass das locker umgelegte Band sich fester ziehe und ihn um so mehr schnüre, je stärker er sich anstrenge; da lachten die Asen schadenfroh: nur Tyr lachte nicht, denn ihm war die Hand abgebissen. Seit dieser Zeit ist Tyr einhändig. Sie hätten nun das Unthier erlegen können, doch die Heiligkeit des Ortes hinderte sie daran, sie nahmen also das Ende des Bandes Gleipner, welches Gelgia hiess, zogen es durch einen Felsen, Gjol, hämmerten mittelst eines andern Felsens, Twite, jenen ersten noch tiefer in den Erdboden, und da F. immer nach allem sich Nahenden schnappte, steckten sie ein Schwert in seinen Rachen, so dass dessen Heft im oberen, die Klinge aber im untern Kiefer steckte, und er nun unschädlich ist, doch leider nur bis zum Ragnarokr, dann kann auch das[203] mächtige Band Gleipner ihn nicht mehr halten; sein Körper ist so gewachsen, dass beim Aufsperren des Rachens er Himmel und Erde zugleich berührt; er macht sich los, er reinigt sich mit seiner Schwester, der Midgardsschlange, und den Söhnen Surturs zum Kriege wider die Asen, verschlingt die Sonne, verschlingt selbst den Gott Odin, aber nun reisst der Urgott Allvadur ihm den Rachen dergestalt von einander, dass er getödtet wird. Odin geht aus seinem Grabe hervor, und die Welt wird neu und anders gestaltet. F. hatte mit der Riesin Güge zwei Söhne, Skoll und Hate, erzeugt. Skoll verfolgt beim Ragnarokr die Sonne, Hate verschlingt den Mond.

Quelle:
Vollmer, Wilhelm: Wörterbuch der Mythologie. Stuttgart 1874, S. 203-204.
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