Quisqueja

[397] Quisqueja (M. der Bewohner von). Diese Insel, eine der grossen Antillen, sonst St. Domingo, jetzt Haiti, war in der Vorzeit bewohnt von einem harmlosen, friedfertigen Volke, welches die grausamen, blutdürstigen Spanier ganz ausgerottet haben. Es betete die Sonne (Tonatiks) und den Mond (Tona) an. Diese wohnten sonst auf der Erde, und zwar auf Q., in einer schönen Höhle, bis sie nach Turëi (dem Himmel) gingen, um von dort herab die Welt zu erleuchten. Die Höhle ist noch jetzt zu sehen: sie hat beinahe 200 Fuss im Durchmesser, und eine Wölbung von 130 Fuss Höhe, von einer solchen Reinheit der Form, dass man nicht zweifeln kann, sie sei durch Kunst erst ausgebildet worden. Die Wände sieht man mit Intaglios bedeckt, Schutzgeister, Genien und Götter darstellend; eine grosse Anzahl gut erhaltener Blenden lässt vermuthen, dass in denselben Götzenstatuen oder andere Heiligthümer gestanden haben. Im Innern sollen deren mehr als tausend, und am Eingange die beiden grössten gestanden haben, welche Sonne und Mond vorstellten. Es scheint diess der einzige Tempel von Q. gewesen zu sein, denn von allen Gegenden der Insel strömten täglich Schaaren der Einwohner hinzu, um daselbst zu beten und ihre Andacht zu verrichten. Sie glaubten, dass die ganze Erde von ihnen aus bevölkert worden sei, und nach ihren Traditionen waren die ersten Menschen in zweien Höhlen des Berges Kauta, eingeschlossen, wo ein Riese sie bewachte, dieser jedoch ward, als er sich einst hervorwagte, um die Gegend zu beschauen, in Stein verwandelt, da er den Glanz der Sonne nicht ertragen konnte. Eben so ging es vielen der Menschen: sie wurden zu Thieren, Steinen oder Pflanzen, bis die übrigen sich nach und nach an die Tageshelle gewöhnten. Ihre Seelen wandern in das Gebirge, welches die Mitte der Insel einnimmt, und leben dort in den kühleren, quellenreichen Gegenden nur von der äusserst wohlschmeckenden Frucht des Memmeybaumes, welche die Spanier »Aprikosen von Domingo« nannten. Die einfachen frommen Menschen genossen nie etwas von diesen Früchten, um den Seelen ihren Unterhalt nicht zu rauben. Ihr Land war einst viel grösser und keine Insel; eine schreckliche Fluth aber überschwemmte Alles, so dass nur die Gipfel der Berge noch aus dem Wasser hervorstanden, und diess geschah folgender Gestalt: Ein reicher Mann, namens Joja, verlor durch plötzlichen Tod seinen jüngsten Sohn, nachdem dessen Mutter gestorben war, als sie ihm kaum das Leben gegeben. Um sich von den geliebten Ueberresten nicht zu trennen, legte er dieselben in einen grossen Kürbis; als er aber nach einiger Zeit den Deckel abnahm, bemerkte er zu seinem Schrecken, dass derselbe voll grünlichen Wassers sei, in welchem eine Menge Fische und Seeungeheuer herumschwammen; er lief voll Angst davon, um mit seinen Freunden zu rathschlagen, was zu beginnen sei; unterdessen nahmen seine anderen Söhne den Kürbis auf, um das Meer, welches darin verborgen war, zu sehen, setzten ihn, als der Vater zurückkam, voll Angst, sie möchten Unrecht gethan haben, schnell hin, davon aber bekam er einen Riss, und nun floss das Meer unaufhaltsam hinaus, erfüllte alle niedrig gelegenen Theile der Erde, und liess zuletzt nichts mehr davon übrig, als die Gipfel der Berge, welche nunmehr Inseln von mehr oder weniger Umfang ausmachten, auf denen die der Fluth entronnenen Menschen wohnten. Für die beiden Götter, Sonne und Mond, denen es auf ihrer Insel sehr wohl gefallen, schickten diese selbst dem Joja zwei andere als Repräsentanten: Jokahuna und Jemno, die obersten Herrscher; zu diesen gesellten sich nun noch viele andere Geister, welche alle einer grössern oder geringern Verehrung genossen; sie erhielten Bilder von Thon oder Steinen, wurden in den Hütten sowohl, als in dem grossen Höhlentempel aufgestellt und dort angebetet; dafür bewiesen sie sich dankbar, verliehen guten Fischfang, gute Jagd, verliehen Sieg in der Schlacht, beförderten das Wachsthum des Getreides, verschafften den Feldern Regen oder Sonnenschein, schenkten den Frauen eine leichte Niederkunft und den Mädchen freundliche Männer. Ihnen allen ward jährlich ein grosses Fest gegeben, wobei der Kazike eine Trommel aus einem gehöhlten Baumstamme trug und immerfort rührte; ihm folgte die ganze Dorfschaft bis zum Tempel, in welchem die Priester mit grossem Geschrei jede neu ankommende Schaar empfingen, und die dargebrachten Opfer nahmen. Diese bestanden in dünnen Mehlkuchen, welche in Gegenwart der Götter zerbrochen und darauf zum kleinsten Theil als Weihegeschenk den Familienhäuptern wieder gegeben wurden. Die zurückempfangenen kleinen Stücke bewahrte man sorgfältig bis zum nächsten Jahre. Grosser Tanz beschloss die Feierlichkeit, bei welcher zugleich die meisten ehelichen Verbindungen geknüpft wurden. Alle Bildsäulen dieser Götter wurden von den Spaniern zerstört und das ganze Volk vernichtet.

Quelle:
Vollmer, Wilhelm: Wörterbuch der Mythologie. Stuttgart 1874, S. 397.
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