Noth, die

[524] Die Noth, plur. inus. einige aber größten Theils veraltete Fälle ausgenommen, wo es in der ersten Endung die Nöthe heißen müßte.

1. Mühe, Anstrengung der Kräfte so wohl des Leibes als des Gemüthes; am häufigsten in der vertraulichen Sprechart, und auch hier nur mit den Zeitwörtern haben, machen, verursachen. Du wirst Noth haben, in die Stadt zu kommen, es wird dir viele Mühe kosten. Hat man nicht Noth, ehe man dich aus dem Bette bringt? Weiße. Seine Noth mit jemanden haben. Das macht mir viele Noth, hat mir viele Noth verursacht. Thuruh not ist bey dem Ottfried mit Fleiß.

2. Derjenige Zustand, da eine Sache mit Mühe, d.i. genau, kaum, zu einer Absicht hinreicht und dienlich ist; doch nur in den R.A. zur Noth, und mit genauer Noth. Der Zeug reicht zu einem Kleide zur Noth, zur höchsten Noth hin. Er konnte es so zur Noth. Er hat zur Noth zu leben, zu Befriedigung seiner Nothdurft, zur höchsten Noth, zu Befriedigung der äußersten Nothdurft. Mit genauer Noth davon kommen. Mit genauer Noth habe ich ihn gefunden.


Die Wachtel, welche der Gefahr

Des Garns mit Noth entgangen war,

Gell.


d.i. mit genauer Noth.

[524] 3. Der Zustand, da man eines Dinges bedarf; nur noch in einigen Fällen. Ich brauche es zur höchsten Noth. Ich habe es aus Noth gethan, weil ich dessen bedurfte. Über Noth essen, trinken, mehr als man zur Nothdurft bedarf, ist nur im Oberdeutschen üblich. S. auch Nöthig und Vonnöthen.

4. In engerer Bedeutung, der Zustand, da man in der Wahl der zur Erreichung einer Absicht gehörigen Mittel eingeschränkt ist. Ich habe es nur aus Noth genommen, weil ich nichts bessers haben konnte. Ich habe es aus Noth gethan. Wenns die Noth erfordert; im gemeinen Leben, wenn Noth an Mann geht. Aus der Noth eine Tugend machen. Jemanden aus der Noth helfen. Einem seine Noth klagen. Ich brauche es zur höchsten Noth.

5. Besonders, äußerer und physischer Zwang; doch am häufigsten in der R.A. aus Noth. Etwas aus Noth thun, weil man dazu von außen gezwungen ist. Wenn es Röm. 13, 5 heißt: so seyd nun aus Noth unterthan, so stehet es daselbst in der veralteten Bedeutung der sittlichen Nothwendigkeit, weil es nöthig und nützlich ist, S. die folgende Bedeutung. Im gemeinen Leben sagt man noch, es thut mir Noth, wenn man den Naturtrieb zur Erleichterung des Leibes empfindet. Ehedem bedeutete es nicht nur Nothzucht, sondern auch ein Hinderniß.

6. Sittliche Nothwendigkeit, gegründete Ursache; nur in einigen bereits eingeführten Fällen. Wenns die Noth erfordert. Im Falle der Noth. Es thut Noth, wird nur in der vertraulichen Sprechart und im Conjunctiv gebraucht. Es thäte Noth, ich ginge selbst hin, es wäre wohl nöthig, beynahe nöthig. Auch im ironischen Verstande.


Es thäte wirklich Noth,

Du ließest es geschehn, und würdest niemahls roth,

Rost.


Zur Noth, wenn es nöthig ist, wenn gegründete Ursache dazu vorhanden ist. Ich kann zur Noth auch ein Liedchen davon singen. Ohne Noth, ohne gegründete Ursache. Etwas ohne Noth thun. Ich halte mich nicht gern ohne Noth auf. Wie können sie sich doch ohne Noth traurig machen? Gell. Schon Ottfried gebraucht es häufig für Ursache überhaupt. Bi thera noti, ist bey ihm aus dieser Ursache, und binoti daher. Im Hochdeutschen ist es jetzt nur noch in einigen Fällen üblich. Ehedem war echte Noth auch eine gegründete Entschuldigung, Ehehaften.

7. Derjenige Zustand, da man der Wahl der zur Wohlfahrt gehörigen unentbehrlichsten Mittel beraubt ist, die Gegenwart eines Übels, welches unsern Zustand in einem hohen Grade verschlimmert, und zuweilen auch dieses Übel selbst, wohin den Gefahr des Lebens und der Wohlfahrt, langwierige und gefährliche Krankheiten und Schmerzen, Armut und Mangel an Nothdurft, Verachtung und Schmach, Kummer und Verdruß gehören. Viele Noth haben, empfinden. Viele Noth ausstehen, ausgestanden haben. Noth und Elend, Jammer und Noth. In der äußersten Noth seyn. Jemanden in seiner Noth beystehen. In Noth kommen, gerathen. Jemanden aus der Noth reißen. Einem seine Noth klagen. Noth hat kein Geboth, oder Noth bricht Eisen. Noth lehret bethen. Er weiß nicht, was Noth ist. Die Noth zwingt mich, dringt mich dazu. Ein Freund in der Noth. Leibesnoth, Seelennoth, Hungersnoth, Sterbesnoth.

Ehedem war in dieser Bedeutung der Plural sehr üblich, der auch in der biblischen Schreibart, und außer dem in der Dichtkunst noch zuweilen gebraucht, am sichersten aber in der reinen und anständigen Schreibart vermieden wird.


Die wollten durch das Schwert sich rächen ihrer Nöthen,

Opitz.


[525] Ihr Zuflucht meiner Nöthen, ebend. Der Stifter dieser Nöthen, ebend. Am häufigsten mit Vorwörtern. In Nöthen seyn. Ich bin gutes Muths in Nöthen, 2 Cor. 12, 10. Jemanden in seinen Nöthen beystehen. Bringt den Gesalbten nicht in Nöthen, (eigentlich in Nöthe,) Opitz. Ptochus lag in tausend Nöthen, Logau. Welcher Plural denn schon alt ist. In then notin, Ottfried. In nötin, ebend.

8. In engerer Bedeutung, von besondern Arten dieses Zustandes und eines solchen Übels. 1) Die Gegenwart eines Übels, welches das Leben und die Wohlfahrt eines Dinges bedrohet, Anwesenheit einer Leibes- und Lebensgefahr. In Noth seyn. Sich in Noth befinden. Noth leiden. Ein Schiff leidet Noth, wenn es in Gefahr ist, zu scheitern oder unterzugehen. Die Frömmigkeit leidet Noth. Es ist Noth vorhanden. Es ist die höchste Noth. Noth lehret bethen. Es hat keine Noth mit uns, Jer. 7, 10, keine Gefahr. Mit dir hats keine Noth, du bist außer aller Gefahr. Der Plural ist auch hier veraltet. Da das sahen die Männer Israel, daß sie in Nöthen waren, 1 Sam. 13, 6. 2) Krankheit und Schmerzen. Kindesnoth. In Kindesnöthen seyn oder liegen, in den Geburtsschmerzen. Die schwere Noth, eine niedrige Benennung der Epilepsie. 3) Armuth und Mangel der Nothdurft, so wohl überhaupt, als auch in einzelnen Fällen, Mangel der Hülfsmittel in dringenden Bedürfnissen. In Noth seyn oder stecken. Jemanden aus seiner Noth heraus reißen. Noth lehrt Künste. Keine Noth leiden, sich an Essen und Trinken nichts abgehen lassen. Es stößt jemanden eine Noth zu, wenn er zu einer nothwendigen Ausgabe Geld bedarf. 4) Gram, Kummer, Verdruß. Jemanden viele Noth machen. Viele Noth mit jemanden haben. Wer keine Noth hat, macht sich welche. Sie wissen nicht, was Herrschaften für eine Noth mit dem Gesinde haben, Gell. Du wirst keine Noth bey ihm haben, wenn du sie dir nicht selber machst, ebend. Da denn im gemeinen Leben fast ein jeder unangenehmer Vorfall und dessen Empfindung eine Noth genannt wird.

Anm. Bey dem Ottfried und seinen Nachfolgern Not, Noti, bey dem Ulphilas Nauth, im Angels. Nead Neod, Nyd, im Nieders. Nood, im Isländ. Neid, im Schwed. Nöd. in der ersten Bedeutung der Mühe gehöret es ohne Zweifel zu dem noch im Oberdeutschen üblichen Zeitworte sich nieten, sich bemühen, bestreben, S. dasselbe; welches ein Abkömmling eines sehr fruchtbaren Stammwortes ist, welches nahen lautet, und eigentlich bewegen bedeutet, und wovon unser nahen, näher kommen, nähen, nare, nere, neiger und viele andere abstammen. In der folgenden Bedeutung tritt, wie schon Wachter eingesehen hat, die Verwandtschaft mit nau, genau ein, welches Wort selbst von nahen, bewegen, abstammen kann, und dessen Begriff in allen folgenden Bedeutungen des Wortes Noth hervorsticht, indem sie alle folgenden besondere Arten der Einschränkung bezeichnen, so wie das Griech. αναγκƞ, welches gleichfalls eigentlich eine Enge bedeutet.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 3. Leipzig 1798, S. 524-526.
Lizenz:
Faksimiles:
524 | 525 | 526
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika

Buchempfehlung

Jean Paul

Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht / Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz. Zwei Erzählungen

Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht / Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz. Zwei Erzählungen

Zwei satirische Erzählungen über menschliche Schwächen.

76 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon