Richten

[1099] Richten, verb. reg. act. welches im Hochdeutschen in verschiedenen, dem Anscheine nach sehr entfernten Bedeutung gebraucht wird, welche sich doch insgesammt auf die Nachahmung eines ähnlichen mit verschiedenen Handlungen verbundenen Schalles gründen, und daher nicht allemahl als Figuren von einander angesehen werden können. Es bedeutet,

1. Die Ausdehnung eines Körpers und deren Weg bestimmen.

1) Der Länge oder Breite, der horizontalen Ausdehnung nach. Etwas das krumm ist, gerade richten. Besonders einem Dinge und dessen Theilen die gehörige, seiner Absicht gemäße Richtung geben, wo es vornehmlich bey vielen Künstlern und Handwerkern gebraucht wird. Die Kammmacher richten die krummen Hörner, wenn sie selbige gerade biegen. Bey den Weißgärbern werden die Felle gerichtet, wenn die in die Breite ausgedehnten Felle nach der Länge über das Stolleisen weggestrichen werden. Die Scherenschleifer richten die Scheren durch eine Art von Dengeln, vermittelst des Richthammers auf dem Richtsteine. Auf den Blechhämmern werden die aus dem Deul geschmiedeten Stäbe, nachdem sie gebreitet worden, gerichtet, wenn sie wie ein Bogen Papier doppelt zusammen gelegt werden; und so in andern Fällen mehr, wo es in engerm Verstande für gerade richten gebraucht wird, so wie das Nieders. richten, welches nach einer geraden Linie machen bedeutet, in welchem Falle es mit recht und der letzten Hälfte von gerade genau verwandt ist, indem letzterm bloß der Hauchlaut fehlet. In weiterer Bedeutung wird es in einigen Gegenden auch für eben machen gebraucht, einen Weg richten, ihn ebenen; in welchem Verstande es aber im Hochdeutschen ungewöhnlich ist.[1099]

2) Der Ausdehnung in die Höhe nach; besonders in den Zusammensetzungen aufrichten und errichten. Sich im Bette in die Höhe richten. Sich auf die Füße richten. Ein Haus richten, in einigen Gegenden, das zugehauene Zimmerholz auf einander setzen und befestigen, welches im Nieders. bären, bören, in Meißen aber heben genannt wird. Schon bey dem Ulphilas ist geraithjau, im Schwed. räta, rätta, im Angels. rihtan, und bey dem Ottfried rìhtan, in die Höhe richten, aufrichten, wohin auch das Latein. erigere und Erectio gehöret.

2. Die Lage der Theile eines Dinges, oder mehrerer Dinge bestimmen.

1) Eigentlich. Die Haare zurecht richten. Seine Sache in Ordnung richten, in Ordnung bringen, legen. Alles zur Reise zurecht richten. Zum Essen richten, es anrichten. Welche R.A. doch insgesammt nur im gemeinen Leben einiger Gegenden üblich sind, dagegen diese Bedeutung in den Zusammensetzungen einrichten, anrichten, vorrichten, zurichten u.s.f. gewöhnlicher ist. Doch gebrauchen auch die Hochdeutschen Jäger dieses Zeitwort von dem Aufstellen des hohen und niedern Zeuges, der Eisen, Fallen, Geschneide u.s.f.

2) In weiterer und figürlicher Bedeutung ist richten in manchen Fällen so viel als zubereiten, hervor bringen, bewerkstelligen. Etwas in das Werk oder ins Werk richten, es bewerkstelligen, ausrichten, wirklich machen. Jemanden zu Grunde richten, seinen Untergang bewirken. Die Arzeney auf jemandes Zustand richten. Besonders in den Zusammensetzungen abrichten, anrichten, ausrichten, einrichten, verrichten u.s.f. Die Ausdrücke nichts richten, nichts bewerkstelligen, nichts ausrichten, alles zu einem guten Ende richten, bringen, einrichten, u.s.f. sind nur in einigen gemeinen Mundarten üblich. Bey den ältern Oberdeutschen Schriftstellern ist ruahhen besorgen, ausrichten, wovon noch unser ruchlos abstammet, und dieses scheinet das nächste Stammwort von richten in dieser Bedeutung zu seyn, welches vermittelst des intensiven t davon gebildet worden. Auch im Schwed. ist so wohl rykta als reka, im Angels. recean und reecan, im Isländ. rökia, im Finnländischen ruockon, ausrichten, besorgen. Vielleicht gehöret auch die bey den Jägern übliche R.A. hierher, zu Holze richten, einen Hirsch, Thier oder wilde Sau mit dem Leithunde im Holze aufsuchen, den Ort im Holze ausfündig machen, wo sich dieselben befinden.

3. Eine Bewegung in gerader Linie nach einem gewissen Puncte bestimmen; daher die Richtung, die Bestimmung dieses Punctes, und die gerade Linie, welche ein Körper in seiner Bewegung durchläuft.

1) Eigentlich. Seinen Weg nach einem Orte oder wohin richten. Die Augen auf etwas richten. Die Augen gen Himmel richten. Seinen Lauf wohin richten. Die Segel nach dem Winde richten. Die Kanonen auf die Stadt richten.


Und erblicket einen Schützen,

Der sein Rohr auf ihn gericht,

Lichtw.


Meine Blicke durchliefen mit langsamer Richtung mein einsames Zimmer, Hermes. Indessen ist es hier nicht in allen Fällen üblich, weil in andern andere Zeitwörter üblich sind. Man sagt nicht, die Hände gen Himmel richten, sondern heben, die Hand nach jemanden richten, sondern ausstrecken u.s.f. In engerer Bedeutung ist richten absolute, einer Bewegung und den Theilen, von welchen dieselbe abhängt, die verlangte, der Absicht gemäße Richtung geben. Eine Uhr richten, sie stellen. Die Kanonen richten.

2) Figürlich. (a) Mit dem Vorworte auf. Die Gedanken, sein Herz, seinen Sinn auf etwas richten. Sein Gebeth zu Gott richten. Die ganze Sache ist darauf gerichtet. Seine[1100] Absicht auf etwas richten. Ich muß mein Herz mehr auf sie richten, als auf ihn. Man kann den natürlichen Trieb zu gefallen nie genug ausbilden, so fern man ihm eine gute Richtung gibt, Gell. Die Umstände, worin wir uns in dem Laufe unsers Lebens befinden, geben der noch unbestimmten Kraft der Seele die Richtung. (b) Sich nach etwas oder nach einer Person richten, es oder sie zum Bestimmungsgrunde seines Verhaltens nehmen. Sich nach eines Rath, nach dem Begriffe seiner Zuhörer richten. Ich kann mich nicht immer nach dir richten. Unsere Empfindungen richten sich nach den Vorstellungen unsers Verstandes, Gell. Die öffentliche Achtung richtet sich allemahl nach den Diensten, welche man dem Vaterlande leistet. Die R.A. mit dem Vorworte in, sich in jemanden richten, sich in ihn zu schicken wissen, sich nach ihm richten, sich in die Zeit richten, für schicken, sind im Hochdeutschen nicht so gewöhnlich. Schon bey dem Notker kommt rehten in diesem Verstande vor.

4. Sprechen, urtheilen, streitige Sachen schlichten, gerichtliche Urtheile vollziehen u.s.f.

1) * Sprechen; eine völlig veraltete Bedeutung, wovon noch deutliche Spuren in den Zusammensetzungen berichten, Bericht, Nachricht und unterrichten vorkommen, woraus zugleich erhellet, daß richten in dieser ganzen vierten Hauptbedeutung ein naher Verwandter von dem alten rechen, sprechen, zählen, (S. Rechnen,) und von unserm sprechen ist, welches letztere vermittelst des Vorlautes sp daraus gebildet worden.

2) Urtheilen, ein Urtheil fällen; so wohl überhaupt, wo es doch wenig mehr vorkommt.


Doch, richte selbst, was wäre sie, (die Tugend,)

Wenn sie nicht kämpfen müßte?

Gell. Lied.


Als auch in engerer Bedeutung, ein Urtheil über das Verhältniß einer Person oder Handlung gegen das Gesetz fällen; in welchem Verstande es noch in der Deutschen Bibel sehr häufig vorkommt. Die Sache wird Gott richten. In der Geschichte treten die Menschen auf, nicht um Schmeicheley einzuernten, sondern gerichtet zu werden. Auch im gemeinen Leben ist es noch sehr üblich, das Fällen eines nachtheiligen Urtheiles über das sittliche Verhalten anderer zu bezeichnen. Alle Leute richten, beurtheilen, und in engerer Bedeutung, sie für schuldig, strafbar, tadelhaft erklären. Ich richte niemanden. Vor der Zeit richten. Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet, Matth. 7, 1. Wo man im gemeinen Leben auch das Intensivum richtern hat.

Da kützelt er sein Ohr mit richtenden Gewäschen, Günth. In noch engerer Bedeutung war es ehedem sehr üblich, die gerichtliche Beurtheilung einer Person oder Handlung nach dem Gesetze zu bezeichnen, ein gerichtliches Urtheil fällen; welche Bedeutung in der Deutschen Bibel sehr häufig ist, aber in der edlen Schreibart wenig mehr vorkommt.


Er war erfahren ging, die Rechte zu verstehn,

Und hatte sich schon reich gerichtet,

Giseke.


S. Richter und Splitterrichter.

3) In noch engerer Bedeutung, eine streitige Sache schlichten, ein Urtheil über eine Streitsache fällen, es geschehe nun gerichtlich oder außergerichtlich; eine Bedeutung, welche ehedem gleichfalls häufiger war, als jetzt. Einen Streit, einen Prozeß richten. Zwischen streitigen Parteyen richten; eine fast ganz veraltete biblische R.A. Ehedem war richten und rachten auch einen Vergleich, einen Vertrag schließen, und Richtung ein Vertrag.

4) Ein gerichtlich gefälltes Todesurtheil vollziehen. Jemanden mit dem Schwerte richten, ihn enthaupten. Ihn mit dem Strange richten, ihn henken. Mit dem Rade, mit dem Feuer gerichtet werden, gerädert, verbrannt werden. In engerer[1101] Bedeutung ist richten mit dem Schwerte enthaupten. Im gemeinen Leben hat man das Mährchen, daß ein Scharfrichter, wenn er eine gewisse Anzahl Missethäter enthauptet hat, sich frey oder zum Doctor richten könne. Richten gehöret in dieser Bedeutung zu der R.A. jemanden sein Recht thun. Auch im Schwed. ist Rätt die Lebensstrafe. Wenn es in dem zusammen gesetzten hinrichten für tödten überhaupt gebraucht wird, so scheinet es alsdann eine Figur von der gerichtlichen Vollziehung eines Todesurtheiles zu seyn.

So auch die Richtung in den drey ersten Hauptbedeutungen, und das Richten in allen, besonders in der vierten.

Anm. Schon bey unsern ältesten Oberdeutschen Schriftstellern von dem Kero an rihtan, im Nieders. gleichfalls richten, im Schwed. rykta. Die Endsylbe -ten ist hier ein Zeichen eines Intensivi, dessen Stammwort das veraltete richen ist, welches zwar in dieser Form veraltet ist, aber in unserm reichen, regen, rechnen, dem Latein. regere, rigere u.s.f. noch zum Grunde liegt. Es ist mit diesem Worte, wie mit so vielen andern gegangen, welche unmittelbare Nachahmungen des Schalles sind, und daher mehrere dem Anscheine nach so sehr verschiedene Dinge bezeichnen, wenn sie sich den ersten Erfindern der Sprache unter einerley Schall dargestellt haben. Die Schälle, welche in diesem Worte oder vielmehr dessen Stammworte reichen, richen, rechen, regen, denn diese sind im Grunde alle Eins, zum Grunde liegen, sind vornehmlich: 1) Der Schall der Bewegung überhaupt, als ein Verwandter von Rechen und regen, und dahin gehöret so wohl die zweyte als auch die veraltete Bedeutung des Herrschens, Regierens, in welcher ehedem so wohl reichen und reichsen, als richten üblich war, und worin es mit dem Latein. regere überein kommt, S. Reich und Regieren. 2) Der Ausdehnung in die Länge, besonders, als ein Verwandter von reichen, und den Latein. erigere, dirigere u.s.f. wovon die erste und dritte Bedeutung Figuren sind, S. auch Recht. 3) Der Rede, der Sprache, als ein Intensivum von dem alten rahhan, sagen, sprechen; von welchem Gebrauche unser richten in der ganzen vierten Bedeutung abzustammen scheinet, ungeachtet es hier gemeiniglich als eine Figur der dritten angesehen wird, von welcher sie doch nur ein Seitenverwandter ist. S. Rechnen und Sprechen.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 3. Leipzig 1798, S. 1099-1102.
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