Sinn, der

[104] Der Sinn, des -es, plur. die -e, ein Wort, welches eigentlich das Sehen bedeutet, hernach von der Fähigkeit zu sehen, in weiterer Bedeutung aber auch von der Fähigkeit zu empfinden, und dann figürlich von fast den meisten Fähigkeiten der Seele gebraucht wurde. Heut zu Tage bedeutet es noch,

1. Eigentlich, die Fähigkeit zu empfinden.

(1) Überhaupt. Der äußere Sinn, die Fähigkeit Dinge zu empfinden, welche außer uns vorgehen, im Gegensatze des innern Sinnes, welcher das empfindet, was in uns selbst vorgehet. Weder Sinn noch Leben haben, keine Empfindung oder Bewegung. Keinen Sinn für etwas haben, keine Empfindung. In dieser weitern Bedeutung ist es im Singular am gebräuchlichsten, da es denn die ganze Fähigkeit zu empfinden bezeichnet.

(2) In engerer Bedeutung, die Fähigkeit, die Dinge außer uns zu empfinden, und da sich diese auf verschiedene Art äußert, so ist es von diesen Arten am üblichsten. Der Mensch hat fünf Sinne, die Insekten theils weniger, theils vielleicht auch mehr. Die Fühlhörner der Insekten sind vielleicht Werkzeuge eines unbekannten Sinnes. Der Sinn des Gesichtes, das Sehen, von welchem alle übrige Bedeutungen dieses Wortes Figuren sind. Der Sinn des Gehöres, des Geruches, des Geschmackes, des Gehfühles. Etwas mit seinen Sinnen begreiffen. Das fällt in die Sinne, läßt sich mit den Sinnen empfinden. Nicht bey Sinnen seyn, den Gebrauch seiner Sinne nicht haben.

2. Figürlich.

(1) Die Fähigkeit des Bewußtseyns, d.i. sich von andern Dingen zu unterscheiden, da es denn nur in einigen R.A. im Plural gebraucht wird, als eine unmittelbare Figur der vorigen äußern Sinne. Bey Sinnen seyn, sich seiner und anderer Dinge außer sich bewußt seyn; im Gegensatze des nicht bey Sinnen seyn. Von Sinnen kommen, eigentlich den Gebrauch der äußern Sinne verlieren, dann aber auch das Bewußtseyn seiner und anderer Dinge verlieren. Seiner Sinne beraubt seyn.

(2) Die Fähigkeit zu erkennen und zu beurtheilen, der Verstand, weil selbiges zunächst vermittelst der Sinne geschiehet, da es denn auch hier ehedem im Plural gebraucht wurde. Ein Pfert[104] oder ein Mul di nyt Sinne hant, Notker, keinen Verstand. Geübte Sinne haben, Ebr. 5, 14. In eben diesem Verstande sagt man auch, nicht bey Sinnen seyn, den Gebrauch seiner Verstandeskräfte nicht haben, bey Sinnen seyn. Ingleichen collective und im Singular allein von den sämmtlichen Verstandeskräften. Viel denken schärft den Sinn, Opitz. Ein Gegenstand, worüber je ein menschlicher Sinn gegrübelt hat, Herd. Indessen ist doch im ganzen dafür Verstand und Verstandeskräfte üblicher. So auch Blödsinn, Wahnsinn, Scharfsinn, Tiefsinn, Unsinn.

(3) Die Fähigkeit zu wollen, sich nach Vorstellungen zu bestimmen; wo es ehedem auch von einzelnen Wirkungen dieser Fähigkeit gebraucht wurde. Die Sinne des Herzens, Hebr. 4, 12. d.i. die Begierden des Willens. Viel Köpfe viel Sinne, wo es aber auch Meinungen bedeuten kann. Am üblichsten collective und ohne Plural von dem ganzen Begehrungsvermögen; das Gemüth, ingleichen die Gemüthsart. Sich etwas in den Sinn kommen lassen, sein Begehrungsvermögen darauf richten. Das ist mir nie in den Sinn gekommen. Sich etwas aus dem Sinne schlagen, nicht mehr darnach trachten, ingleichen keinen Kummer, keine Unruhe mehr empfinden. Das liegt mir stets im Sinne, im Gemüthe, im Gedächtnisse mit Einfluß auf den Willen. Sich etwas zu Sinne ziehen, zu Gemüthe. Etwas Böses wider jemand im Sinne haben. Das sanfte Wesen des weiblichen Geschlechtes mildert den muthigen Sinn des Mannes, daß er nicht in Trotz ausarte, Gell. Der fleischliche, der irdische Sinn, in der Deutschen Bibel, die Fertigkeit, sich nach bloß sinnlichen Vorstellungen zu bestimmen, im Gegensatze des geistlichen oder himmlischen Sinnes. Ein hoher Sinn, der nach hohen Dingen trachtet. Ein patriotischer Sinn, die Fertigkeit zur möglichen Leistung der Pflichten der bürgerlichen Gesellschaft. So auch Leichtsinn, Kaltsinn, Gleichsinn.

(4) In engerer Bedeutung, die Bestimmung des Sinnes oder des Begehrungsvermögens in einzelnen Fällen, der Wille, doch nur in einigen Fällen und gleichfalls ohne Plural. Anders Sinnes werden, welches auch noch im weitern Verstande, anderer Meinung werden, bedeutet. Sind sie noch des Sinnes? des Willens, des Vorhabens, der Meinung. Auf seinem Sinne bleiben, bey seinem Vorsatze. Sie sind alle Eines Sinnes, haben in dieser Sache einerley Willen, einerley Meinung. Es gehet nicht nach meinem Sinn. Jemanden durch den Sinn fahren. So auch Eigensinn, Hartsinn.

(5) Der Sinn eines Wortes oder einer Rede, diejenige Vorstellung, welche dadurch erweckt werden soll, der Verstand, die Bedeutung, welche beyde doch häufiger sind; gleichfalls ohne Plural. Der veraltete Sinn eines Wortes. Der figürliche Sinn. S. auch Unsinn.

(6) Hierher gehören auch noch folgende veraltete Bedeutungen. (a) Klugheit, Weisheit, in welcher Bedeutung es bey dem Strycker und seinen Zeitgenossen mehrmals vorkommt. (b) Kunst, Geschicklichkeit; gleichfalls bey den Schwäbischen Dichtern. Siehe Sinnreich. (c) Das Gewissen, im Schwabenspiegel. (d) Bescheidenheit, Sanftmuth, Anstand, im Schwed. Sinn.


Tewrdank antwort ym mit Synnen,

Theurd. Kap. 76.


(c) Der Geist, die Seele, bey dem Ottfried Sinn.


Lib und Sinne,

Die gab ich ir fiur eigen,

Graf Rud. von Neuenburg.


Anm. In allen diesen Bedeutungen bey dem Ottfried u.s.f. Sinn, im Niederdeutschen gleichfalls Sinn, im Schwed. Sinne, im Ital. Senno. im Lat. Sensus. Das doppelte n deutet eine Intension an, und es ist mehr als wahrscheinlich, daß dieses Wort[105] von sehen abstammet, welches ohnehin nicht in allen Fällen den Hauchlaut hat. Im Nieders. ist sien, sehen, das Gesicht heißt bey dem Ottfried. Gisiun, und die Erscheinung bey dem Ulphilas Siuns, so wie sinnen bey dem Notker erscheinen bedeutet. Sinnen stammet eben so von sehen ab, wie beginnen von begehen. Das Sehen ist der erste und vornehmste Sinn, und hat daher gar wohl zur Benennung des ganzen Geschlechtes und aller darauf gegründeten Fähigkeiten der Seele dienen können. S. Sehen und Sinnen. In der ersten Endung des Plurals lautet dieses Wort bey einigen die Sinnen, besonders in den figürlichen Bedeutungen, wo es oft für den Singular gebraucht wird. Im Hochdeutschen ist diese Form veraltet, außer daß die Dichter sie um der Bequemlichkeit des Reimes willen zuweilen beybehalten.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 4. Leipzig 1801, S. 104-106.
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