Stechen

[315] Stéchen, verb. irregul. Präs. ich stéche, du stíchst, er stícht; Conj. ich stéche, du stéchest, er stéche. Imperf. ich stach; Conjunct. ich stǟche Mittelw. gestóchen. Imper. stích. Es ist in doppelter Gattung üblich, wo es zugleich zwey Hauptbedeutungen hat, welche sich auf zwey der Sache nach sehr verschiedene, dem Laute nach aber ähnliche Onomatopöie gründen.

I. Als ein Neutrum mit dem Hülfsworte seyn, den Ort schnell verändern; in welcher Bedeutung es doch nur in einigen Fällen üblich ist. In dem Bergbaue ist jemanden nachstechen, so viel als ihm nachfahren, d.i. hinter ihm her in die Grube steigen. Er kommt angestochen, eine im gemeinen Leben sehr übliche Bedeutung, eigentlich, er kommt mit weiten Schritten oder langen Beinen einher gegangen, welche Art des Gehens man im Niedersächsischen durch staken ausdruckt. Hervor stechen, vor andern Dingen merklich empfunden werden, mit dem Hülfsworte haben. Der Begriff sticht merklich hervor. S. auch Abstechen. Am üblichsten ist es in der Schiffersprache, wo ein Schiff in die See[315] sticht, wenn es aus dem Hafen segelt. Wenn es hier nicht noch ein Überbleibsel der ehemaligen unvollkommenen Art der Schifffahrt ist, da man sich im Fahren allein mit langen Stangen fortschieben mußte, so scheinet es hier so, wie in den vorigen Fällen, ein Verwandter von ziehen, Nieders. tehen, oder auch von steigen zu seyn. Das erste würde durch den Zischlaut und den verstärkten Hauch in stechen in ein Intensivum verwandelt seyn.

II. Als ein Activum, wo es von spitzigen Dingen gebraucht wird, wenn sie in einen Körper dringen und denselben verwunden.

1. Eigentlich. Das Subject, welches dieses thut, es sey nun allein oder vermittelst eines Werkzeuges, stehet wie gewöhnlich in der ersten Endung. Die Biene, die Schlange sticht. Die Nadel sticht. Ein spitziges Messer sticht. Das Werkzeug bekommt als Werkzeug, das Vorwort mit. Mit der Nadel, mit dem Dolche, mit dem Stachel stechen. Die Person oder Sache, welche gestochen wird, stehet in der vierten Endung. Jemanden todt stechen. Die Nadel hat mich gestochen. Stax stach ihn mit dem Dolche. Die Bienen stachen uns nicht. Der Ort, die Stelle, oder der Theil an diesem Dinge, bekömmt das Vorwort in, zuweilen auch ein anderes, so daß der Accusativ des Dinges bleibt. Du wirst ihn (nicht ihm) in die Fersen stechen. 1 Mos. 3, 15. Und stach ihn in den Wanst, 2 Sam 3, 27. Die Sonne stach dem (den) Jona auf den Kopf, Jon. 4, 8. Sich in den Arm stechen. Nur dann muß die dritte Endung der Person stehen, wenn das Werkzeug, oder auch die Wunde, welche durch Stechen hervor gebracht wird, in der vierten Endung stehet. Einem den Dolch in das Herz stechen. Einem ein Loch stechen. Einem den Geck stechen, figürlich im gemeinen Leben, S. Geck. Ihr sollt euch kein Mahl stechen, 5 Mos. 14, 1. Nach jemanden stechen. Figürliche, doch nur im gemeinen Leben übliche Arten des Ausdruckes sind: Das ist weder gehauen noch gestochen, hat von keiner Sache die gehörige Eigenschaft an sich. Der Kitzel sticht ihn, er ist muthwillig, übermüthig. Bey einem Manne, den noch der Kitzel wie ihn sticht, Weiße; der noch verliebt ist. Der Hafer sticht ihn, die guten Tage machen ihn übermüthig, muthwillig, eine von den Pferden entlehnte Redensart.


So reißt der Mensch auch aus, wenn ihn der Hafer sticht,

Opitz.


Sylben Stechen, sich zu ängstlich und pedantisch mit Aufsuchung des Wortverstandes abgeben; eine vermuthlich aus den Leseschulen entlehnte Redensart, wo die Kinder die Sylben mit spitzigen Griffeln zeigen.


Dann lachen sie mit Recht, wenn einer Sylben sticht,

Kästner.


2. Figürlich. (1) Verschiedene Arten der Handlungen oder Bearbeitungen, welche mit einem Stechen verbunden sind, oder wobey das Stechen den vornehmsten Theil ausmacht, werden stechen genannt. In Kupfer stechen; daher der Kupferstecher, Kupferstich. Ein Bild in Kupfer stechen. Ein Petschaft stechen. Ein Wapen in Stein, in Stahl stechen, so fern es von dem Petschaftmacher geschiehet. Jemanden den Staar stechen, den Staar im Auge durch eine vermittelst eines Stiches gemachte Öffnung heraus ziehen. Ein Schwein, ein Kalb stechen, bey den Fleischern, es vermittelst eines Stiches tödten. Im Hüttenbaue wird gestochen, wenn man das Auge in dem Schmelzofen mit dem Stecheisen öffnet, damit das geschmolzene Metall von dem Herde ablaufe. Auch wird es in manchen Fällen für graben gebraucht, besonders in den Zusammensetzungen, abstechen, ausstechen u.s.f. ingleichen für schaufeln, das Getreide wegstechen, umstechen; auch für nähen, in bestechen, und von andern ähnlichen Handlungen mehr. (2) Besonders war stechen ehedem für[316] turnieren sehr gangbar, so fern es mit Lanzen geschahe, da denn auch noch jetzt ähnliche theils ritterliche, theils bloß zur Lust angestellte bürgerliche Übungen ein Stechen genannt werden. Nach einem Ringe stechen, eine Art ritterlicher Übungen. Das Gesellenstechen, Fischerstechen u.s.f. Von diesem Stechen, so fern es ein Gefecht bezeichnet, stammen ohne Zweifel noch folgende figürliche Bedeutungen her. (a) In den Kartenspielen sticht eine Karte die andere, wenn sie mehr ist, als diese, sie überwindet, und daher die gestochene von dem, der die höhere Karte hatte, eingenommen wird. Das Daus sticht den König, der König die Dame u.s.f. Siehe auch Abstechen. (b) Mit jemanden stechen, eine besonders in dem Würfelspiele übliche Redensart, da zwey, welche eine gleiche Anzahl Augen haben, noch Ein Mahl werfen, welches im Niedersächsischen kämpen, kämpfen, genannt wird. (c) Nach etwas stechen, d.i. streben, ein im Hochdeutschen unbekannter Ausdruck.


Die Ruhm- und Ehresucht, das Gasthaus der Gebrechen,

Da Rom und Griechenland so geitzig darnach stechen,

Opitz.


(3) Einen Schmerz verursachen, welcher dem von stechenden Werkzeugen gleichet. (a) Eigentlich. Die Sonne sticht mich. Daß dich des Tages die Sonne nicht steche, Ps. 121, 8. Stechen in der Seite empfinden. Das Seitenstechen. Die Milz sticht uns, nach einem starken Laufen. Es sticht mich in meinen Nieren, Ps. 73, 21. (b) Figürlich. Das sticht ihn in die Nase, in die Augen, im gemeinen Leben, das reitzt sein Verlangen, seine Begierde.


Wir suchen nicht den Heldenruhm, der dir (dich) ins

Auge sticht,

Weiße.


Das kleine Lieschen sticht,

Dem (den) Schösser ins Gesicht,

Weiße.


(4) Im gemeinen Leben ist stechen häufig so viel als tauschen, besonders in den Zusammensetzungen verstechen und umstechen, S. diese Wörter.

(5) Für bestechen, eine im Hochdeutschen veraltete Bedeutung. Viele lassen sich mit Geld stechen, Sir. 8, 3. So auch das Stechen.

Anm. Schon bey dem Ottfried stechen, im Tatian stehan, im Nieders. steken, im Schwed. sticka, im Engl. to stich, und mit dem Nasenlaute sting, im Latein. stigare, welches noch in instigare üblich ist, im Griech. σιγειν, σιζειν. Es vereiniget den Begriff der Spitze mit dem Begriffe des Stoßes, und ist in Rücksicht des ersten, mit Deichsel, Zacke, Nieders. Tacke, und andern mehr verwandt. In dem Schwabenspiegel kommt es noch für stoßen vor: stichet ain ochs ainen man ze tode. Stechen und Stecken sind genau verwandt, und das Nieders. steken und Schwed. sticka haben beyder Bedeutungen; allein im Hochdeutschen sind die Gränzen beyde Zeitwörter genau bezeichnet, ob sie gleich in der Anwendung von manchen häufig verwechselt werden. S. auch Stachel, Srich und Stochern.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 4. Leipzig 1801, S. 315-317.
Lizenz:
Faksimiles:
315 | 316 | 317
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika

Buchempfehlung

Auerbach, Berthold

Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 5-8

Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 5-8

Die zentralen Themen des zwischen 1842 und 1861 entstandenen Erzählzyklus sind auf anschauliche Konstellationen zugespitze Konflikte in der idyllischen Harmonie des einfachen Landlebens. Auerbachs Dorfgeschichten sind schon bei Erscheinen ein großer Erfolg und finden zahlreiche Nachahmungen.

554 Seiten, 24.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon