Verlieren

[1084] Verlieren, verb. irregul. ich verliere, du verlierst, (Oberd. verleurst,) er verliert, (Oberd. verleurt); Imperf. ich verlor, Conj. verlöre; Mittelw. verloren; Imper. verliere, (Oberd. verleur). Es ist in doppelter Gestalt üblich.

1. Als ein eigentliches Activum, um den Besitz eines Dinges kommen, mit der vierten Endung dieses Dinges.

(1) Eigentlich, wo es ein allgemeiner Ausdruck ist, der die nähere Art und Weise unbestimmt läßt. Das Leben, den Verstand, sein Vermögen, seine Gesundheit verlieren. Das Fieber verlieren. Die Schmerzen, Empfindung, das Reißen in[1084] den Gliedern verlieren. Einen Sohn verlieren, sowohl durch den Tod, als auch in der folgenden engern Bedeutung, um dessen Gegenwart kommen, ohne zu wissen, wo er sich jetzt befindet. Den Kopf verlieren, enthauptet werden.


Die Zwietracht, die mit Gift ihr Leben nährte,

Verliert den Hydrakopf durch einen Streich,

Raml.


Die Freyheit, die Gesundheit, sein Gesicht, ein Auge, durch einen Schuß einen Arm, seine Ehre, im Kriege viele Leute verlieren. Das Herz, den Muth verlieren. Die Sonne verlor ihren Glanz, der Mond seinen Schein. Man möchte alle Geduld verlieren. Die Hoffnung verlieren. Und so in andern Fällen mehr, besonders in solchen, wo die Art des Verlustes durch kein eigenes Wort näher bestimmt ist, oder bestimmt werden soll. Einen Freund verlieren, entweder durch den Tod, oder durch die Entfernung, oder auch, weil er unser Feind geworden. Ich habe einen Freund an ihm verloren. Du weißt nicht, was du an mir verlierest. Ich verliere viel, wenig, nichts bey der Sache. Das Mittelwort verloren wird mit einigen Zeitwörtern sowohl in dieser, als einigen der folgenden Bedeutungen, noch auf eine besondere Art gebraucht. Verloren gehen, verloren werden. Es ist mir ein Capital verloren gegangen, ich bin darum gekommen.


Alles ging für mich verloren,

Als ich Sylvien verlor,

Gell.


Einige andere Bedeutungen dieser R.A. kommen im folgenden vor. Etwas verloren geben, glauben, daß es so gut wie verloren sey, es für verloren halten. Wir geben eine Sache verloren, wenn wir glauben, daß wir sie verlieren, oder nie wieder bekommen werden.

(2) In einigen engern und figürlichen Bedeutungen.

a. Den Proceß verlieren, die gesuchte Sache nicht erhalten, im Gegensatze des Gewinnes. So auch eine Schlacht verlieren, überwunden werden. Im Spiele verlieren, verspielen. Viel Geld verlieren, im Spiele. Wer hat verloren? im Spiele; auch im Gegensatze des gewinnen. Ein Spiel verloren geben, überzeugt seyn, daß man es verlieren werde.

b. Überaus häufig verliert man eine Sache, wenn man, aus Mangel der Aufmerksamkeit, um den Besitz, und in weiterm Verstande, um die Empfindung derselben kommt, ohne zu wissen, wo sie sich befindet. Seine Uhr, seine Börse verlieren. Ich habe es verloren. Suchen, was verloren ist. Das Verlorne wieder finden. Der verlorne Sohn, in der Deutschen Bibel. Ein verlornes Schaf. Den Weg, die Spur verlieren, die Empfindung davon. Etwas aus den Augen, aus dem Gesichte verlieren.

c. Ohne den gehofften Nutzen anwenden, gebrauchen. Alle Mühe und Arbeit ist hier verloren. Ich verliere nur mein Geld dabey. Alle Schläge, alle Ermahnungen, alle Wohlthaten sind an, oder bey ihm verloren. Da siehet man, daß dein Vertrauen nichts ist, und deine Almosen verloren sind, Tob. 2, 22. Ich mag kein Wort weiter darum verlieren. Es ist Hopfen und Malz an ihm verloren. Die Zeit verlieren, sie unnütz hinbringen. Sie verlieren die kostbarste Zeit mit unnützen Seufzern. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren, es ist die höchste Zeit, wir müssen eilen. Einen Tag verlieren ihn ungenützt verstreichen lassen. Ein verlorner Augenblick ist jetzt für mich ein verlornes Jahrhundert, Weiße.

d. Das Mittelwort wird noch in folgenden figürlichen Fällen gebraucht. ά. Die verlorne Schildwache, im Kriege, die äußerste Schildwache, welche dem Feinde am nächsten ist, und gemeiniglich verloren gegeben wird. β. Das verlorne Huhn, in den Küchen, ein Gericht aus geräuchertem Schweinfleisch, mit Möhren, grünen Erbsen und Bohnen u.s.f. γ. Etwas verloren[1085] machen, nur ungefähr, einstweilen, um es hernach besser zu machen. Den Umriß einer Figur nur verloren zeichnen. Ein verloren Treiben, in der Jägerey, ein Treiben, ohne den Wald mit Zeug und Netzen zu umstellen, um nur ungefähr zu sehen, ob noch Wild darin befindlich ist. Einen verlornen Zug thun, in der Markscheidekunst, den Tagezug nur so ungefähr, wie in der Grube verrichten. δ. Verloren seyn, im höchsten Grade und ohne Rettung unglücklich. Ein verlorner Mensch, dem nicht mehr zu helfen ist. Verloren ist eine weibliche Seele ohne wahre Frömmigkeit. In der Deutschen Bibel und der Theologie ist verloren gehen, in engerer Bedeutung verdammt werden, ewig unglücklich werden.

2. Als ein Reciprocum, sich verlieren, sich nach und nach und gleichsam unbemerkt aus unserer Gegenwart, und in weiterm Verstande auch, aus unserm Empfindungskreise entfernen, ohne weitere Bestimmung der Art und Weise.

(1) Eigentlich. Die Zuschauer verlieren sich, wenn sie sich nach und nach entfernen. Sich aus den Augen, aus dem Gesichte verlieren. Die Flecken auf der Haut haben sich verloren. Das Fieber hat sich verloren. Die Schmerzen wollen sich noch nicht verlieren. Eine Sache verliert sich leicht, wenn sie so beschaffen ist, daß man sie leicht verlieren kann.

(2) Figürlich. a. Von Farben sagt man, sie verlieren sich, wenn sie unvermerkt in andere Farben übergehen, welches in manchen Fällen auch verlaufen genannt wird. Ein goldner Saum verliert sich am Ende der Flügel (des Schmetterlinges) ins Grüne, Geßn. Die Umrisse einer Figur verlieren sich, wenn sie sich unvermerkt mit dem Grunde vermischen. Bey den Kupferstechern verlieren sich die Schnitte, wenn sie unmerklich in andere Schnitte, oder in die Grundfläche übergehen. Nach einer noch weitern Figur. Pracht, Größe und Würden verlieren sich in der Nacht des Grabes. b. Sich in einer Vorstellung, in einem Gedanken verlieren, in der edlern Schreibart für verirren. O, wie verlor mein Geist sich in erträumten Bildern,


Und wußte sich vergnügt die Zukunft abzuschildern!

Cron.


Oft verliert sich die Seele unter einer unendlichen Menge von Empfindungen, weil sie nicht weiß, wo sie stille stehen soll.

Daher das Verlieren, in den meisten Fällen der thätigen Gattung, indem das Hauptwort die Verlierung nicht mehr gebraucht wird. S. auch Verlust, welches in vielen Fällen dafür üblich ist.

Anm. Bey dem Notker firlüren, (bey dem Schilter irrig fluren, weil es in der Handschrift vermuthlich abbreviirt war,) bey dem Kero und andern alten Oberdeutschen farleosan, ferliesen, verliefen, bey dem Ulphilas fraliusan, im Angels. forleoran, im Nieders. verlesen, im Schwed. förlora und förlåta, im Dän. forlise und forlore. Daß ver hier eine bloße Intension bezeichnet, erhellet aus den einfachen lieren und liesen, welche ehedem häufig für verlieren gebraucht wurden, wohin das Nieders. lesen, das alte Gothische liusan, das Angels. losjan, das Engl. to lose, liese, das Schwed. Lyra, der Verlust, u.a.m. gehören. Opitz gebraucht noch gelosen in eben demselben Verstande.


Durch solche Freundlichkeit und süßes Liebekosen

Macht sie, daß ich mir nicht begehre zu gelosen

Den Kummer, der mich kränkt.

Ich weiß nicht, wie ich doch die Fantasie gelose,

Opitz.


Lieren und liesen sind nur in dem Endlaute verschieden, indem r und s sehr oft und leicht in einander übergehen. Die letzte Form, welche noch in unserm Verlust herrschet, scheint die älteste zu seyn. Dieses liesen ist allem Ansehen nach mit los Eines Geschlechtes, von beyden ist lassen eine Art eines Intensivi. Die alte Form[1086] du verleurst, er verleurt u.s.f. der Mon verleurt seinen, Schein, Buch der Natur von 1483, ist selbst im Oberdeutschen nur noch in einigen rauhen und harten Mundarten gangbar, und verdiente daher weder hier, noch in den übrigen Zeitwörtern, welche von der Endsylbe des Infinitivs ein ie oder ü haben, im Hochdeutschen Sprachlehren empfohlen zu werden.

Quelle:
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 4. Leipzig 1801, S. 1084-1087.
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