Der Mufti oder Großmufti

[198] [198] Der Mufti oder Großmufti, (auch bei den Türken Scheickh-Ulislam, d. h. Haupt der Auserwählten genannt) ist eine hohe geistliche Würde der Muhamedauer, die aber bei den Persern weit unbeträchtlicher als bei den Türken ist. Der Persische Mufti hat das Oberpriesteramt längst verloren, gilt in Staatssachen wenig, ist bloß Rathgeber bei Anwendung schwerer Punkte des Gesetzes, und hat das Recht, den Obrigkeiten Urtheile vorzuschreiben. Der Türkische Mufti hingegen ist der vornehmste aller Staatsbeamten, den Großvezier ausgenommen, und genießt sogar vom Sultan Ehrenbezeugungen, die dieser nicht empfängt. Er ist Oberherr in allen geistlichen Sachen; und da die Gesetze über bürgerliche und peinliche Fälle aus dem Koran sind oder sich auf denselben gründen, so ist er Erklärer der streitigen Gesetzstellen. Ueberhaupt kann der Sultan in keiner Sache von Wichtigkeit, sie betreffe den Staat unmittelbar oder einzelne das bürgerliche und peinliche Recht angehende schwere Fälle, irgend etwas entscheiden, ohne vorher in kurzen schriftlichen Fragen ihn um sein Urtheil, welches Fetfah genennt wird, befragt zu haben. Zu Ausfertigung dieser Fetfahs hat der Mufti einen Secretair, der Fetfah-Emini genennt wird, und zu Handhabung seiner Rechte in den großen Städten einen Untermufti. Er erhält vom Sultan selbst sowohl seine Stelle als seinen ordentlichen Gehalt. Er darf während seines Amtes nicht hingerichtet, sondern bloß abgesetzt werden, obschon die Sultane sich das Recht der Hinrichtung, die ehemahls durch Zerstampfung in einem Mörser geschah, angemaßt haben. Ueberhaupt haben die Sultane diese zu mächtige und für die Staatsruhe höchst gefährliche Würde durch viele Kunstgriffe so einzuschränken gewußt, daß der Mufti bei jeder Kleinigkeit in Gefahr schwebt, abgesetzt und erilirt zu werden, und daher beständig den Willen des Beherrschers zu dem seinigen machen muß.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 3. Amsterdam 1809, S. 198-199.
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