[215] Die National-Versammlung heißt im engern Sinne eine Zusammenkunft einzelner Männer, welche ein Volk aus seiner Mitte gewählt und ihnen den Auftrag gegeben hat, Beschlüsse in seinem Namen zu verfertigen und für sein Wohl zu wachen. Ohne hier die Versammlungen der Edeln aus dem Volke weitläuftig zu erörtern, die bei den alten Deutschen gewöhnlich waren, wird es hinreichend sein, von den National-Versammlungen zu handeln, welche in neuern Zeiten am berühmtesten wurden, nehmlich von den Französischen. Ihre Zusammenberufung war bekanntlich das letzte Mittel, welches der Französische Hof ergriff, um die über die schlechte Verwaltung der Finanzen aufs äußerste aufgebrachte Nation zu beruhigen und seinem eignen Credit aufzuhelfen. Unglücklicher Weise wurde er durch die Schwäche und Unklugheit seiner Rathgeber ein Opfer seines eignen Entwurfs; und das Unternehmen, das ihn zum Glanz und Wohlstand zurückführen sollte, zog ihn in einen Abgrund, woraus keine Rettung für ihn war. Ehemahls hatten verschiedne Könige alle drei Stände, d. h. Deputirte der Geistlichkeit, des Adels und der Bürger jeder Provinz, berufen, um sich mit ihnen über Gegenstände der öffentlichen Verwaltung zu besprechen. Das erste Beispiel einer solchen Stände-Versammlung findet sich unter Philipp dem Schönen in den Jahren 1301 und 1314, das letzte unter Ludwig XIII. im Jahre 1614. Man sah am Hofe Ludwig XVI. ein, daß der neue Reichstag [215] wegen veränderter Umstände unmöglich nach den alten Formen würde organisirt werden können. Um neue Ideen dazu zu bekommen, wurde durch einen Beschluß des Staatsraths vom 5. Jul. 1788 verordnet, daß in allen Archiven des Reichs nachgeforscht werden, und jeder denkende Kopf berechtigt sein sollte, seine Ideen darüber bekannt zu machen. Dieß war der erste unkluge Schritt der Regierung, die dem Volke ihre Verlegenheit sorgfältig hätte verbergen sollen. Es erschienen binnen sechs Monathen dritthalb tausend größere und kleinere Schriften über diesen Gegenstand, welche insgesammt an tausend Livres kosteten und die widersprechendsten Grundsätze verbreiteten. Ungeachtet Nekker zurückgerufen und die Notabeln aufs neue (im Nov. 1788) versammelt waren, so wurden endlich doch die schlechtesten Maßregeln ergriffen. Schon bei den Wahlen der Deputirten fielen in mehrern Städten des Reichs gefährliche Bewegungen vor. Hier begehrte der Adel das Recht der Wahlen ausschließend; dort weigerte sich der Bürgerstand, es gemeinschaftlich mit ihm zu übernehmen; an einem andern Orte wollte die hohe Geistlichkeit durchaus nicht die Vorrechte anerkennen, welche der Minister der niedern eingeräumt hatte: überall war Ungewißheit aus Mangel an vorgeschriebenen Formen. Der so genannte Bürgerstand erhielt, weil er den größten Theil der Nation ausmachte, eine gedoppelte Repräsentation, d. h. er schickte noch einmahl so viel Deputirte wie die übrigen beiden Stände. Jeder District gab seinen Abgeordneten gewisse Vollmachten (cahiers), worin die Gegenstände verzeichnet waren, welche der District auf dem Reichstage erörtert zu wissen wünschte. Obgleich in den meisten dieser Vollmachten angenommen war, daß Frankreich eine Monarchie bleiben sollte, so enthielten doch dagegen viele andere eine ziemliche Anzahl von Grundsätzen und Vorschlägen, welche dem königlichen Ansehen äußerst verderblich waren. Im Frühjahr 1789 traten die Deputirten ihre Reise nach Versailles an. Ihre Anzahl betrug 1200, also ungleich mehr alsauf den vorigen Reichstagen, wo oft nicht über 400 versammelt waren. Unter ihnen befanden sich eine Menge unbegüterter Bürger, weil jeder wahlfähig war, der das 25. Jahr erreicht hatte und dem Staate irgend eine [216] Abgabe bezahlte. Auch hierin hatte Necker einen großen Fehler begangen, der eben so unverzeihlich war als die Sorglosigkeit, mit der er es dem Zufalle überließ, in welchem Verhältniß diese Sammlung gegen die königliche Macht stehen sollte. Der König hatte den Reichsständen das Recht zugesichert, Abgaben zu bewilligen, eine Constitution zu entwerfen, die Minister zur Verantwortung zu ziehen und dergleichen; und gleichwohl war nirgends bestimmt, in wie fern er als Monarch an allen diesen Deliberationen Antheil nehmen, die Beschlüsse verwerfen oder annehmen und eine höchste Entscheidung thun sollte. Eben so ungewiß waren die Stände unter sich wegen der Art zu deliberiren; der Adel und die Geistlichkeit bestand auf abgesonderten Deliberationen jedes Standes, der Bürgerstand verlangte die Mehrheit der Stimmen ohne Unterschied der Stände. Erstere behielten vom 5. Mai, wo die Versammlung eröffnet wurde, bis zum 23. Juni, an welchem Tage der König die Unordnungen durch ein despotisches Machtwort auf einmahl zu vernichten versuchte, die Oberhand. Allein der Bürgerstand zeigte sich unter Mirabeauʼs Anführung so kühn, daß ein großer Theil der beiden andern Stände freiwillig zu ihm übertrat, und die Widerspenstigen es endlich auf eignen Befehl des Königs thun mußten. Von nun an führten alle Stände gemeinschaftlich den Namen National-Versammlung, den sich die Abgeordneten des Bürgerstandes schon vorher auf Sieyes Vorschlag beigelegt hatten. Weil die Versammlung in der Folge (1791) die Constitution entwarf, so wird sie deßwegen die constituirende genannt. Die Erzählung ihrer fernern Schicksale würde zu weit führen; es sei genug zu erinnern, daß sie weit glücklicher im einreißen als im aufbauen war. Sie stürzte die alte Verfassung völlig, und setzte ein Schattenbild von Constitution an deren Stelle, das gleich bei seinem Erscheinen keine Dauer versprach. Man berechnet die Anzahl aller Verordnungen, die sie ergehen ließ, auf 2557. Mit dem Ende des Septembers 1791 hörten ihre Sitzungen auf; und sie wurde unmittelbar durch eine zweite, durch die legislative, d. h. gesetzgebende, National-Versammlung ersetzt.
[217] Hatten heimliche Ränke und Intriguen aller Art bei den Wahlen der Mitglieder zur ersten Versammlung geherrscht, und die Gesinnungen der Burger in Gährung gebracht, so stiegen die Unordnungen und Verwirrungen bei diesen neuen Wahlen noch höher. Jacobiner, Emigrirte, die im Reiche zurückgebliebenen Contrerevolutionairs, alle suchten sich durch Bestechungen und andre böse Künste Einfluß bei den Wahlen zu verschaffen, und brachten es dahin, daß meistens in allen Districten junge, unerfahrne Männer zu Deputirten gewählt wurden. Es war daher nicht zu verwundern, daß in der Folge so wenig Anstand in der Versammlung herrschte, die Mitglieder mit Vernachlässigung aller äußern Decenz den Saal betraten, und einander nicht sowohl durch Gründe der Vernunft zu überzeugen, als vielmehr durch Stärke der Stimmen, durch Stampfen und Toben zu übertreffen suchten; in Frankreich wurde daher diese Versammlung von allen Vernünftigen verachtet. Ein Mitglied legte einmahl das offenherzige Geständniß ab: »nous sommes actuellement le plus mauvais Club de France« (»unter allen Clubs im Reiche ist unsre Versammlung der schlechteste.«) Am 1. October 1791 wurden die Sitzungen in Paris eröffnet, und die Versammlung gab gleich in den ersten Tagen nicht undeutliche Merkmahle ihres Hasses gegen die königliche Gewalt und gegen alle Ueberbleibsel der alten Verfassung zu erkennen. Sie schwor zwar feierlich, die neue Constitution aufrecht zu halten; aber aus den Vorträgen gewisser Mitglieder konnte man schon damahls schließen, daß es den meisten damit kein Ernst war. Vertheidiger der Monarchie waren nur wenige da, und daher die rechte Seite der jedesmahligen Präsidenten, auf welcher in allen Versammlungen die Gemäßigten saßen (da hingegen die eifrigen Demokraten die linke Seite einnahmen), nur schwach besetzt. An großen Rednern fehlte es; und außer einigen Mitgliedern der Girondepartei, z. B. Vergniaud, Isnard, Louvet, besaßen nur wenige echte Beredsamkeit. Die Versammlung war, zumahl in den Abendsitzungen, selten vollzählig, weil die meisten Mitglieder um diese Zeit den Jacobinerclub besuchten, der ihrem Wirkungskreise weit angemessener war. Während der Zeit der Herrschaft dieser Versammlung fielen [218] in Paris die aufrührerischen Scenen des 20. Juni, des 10. August und der ersten Tage im September 1792 vor. Sie zeigte sich dabei ohne alle Kraft und als ein kriechendes Organ des Pariser Bürgerraths, den sie nicht im Zaum halten konnte. Am 21. Sept. 1792 machte sie endlich einer neuen allgemeinen Volks-Versammlung Platz, und ging, nachdem sie binnen Jahresfrist ungefähr 1712 Verordnungen gegeben hatte, auseinander.
Ihr folgte dann die neue Versammlung unter dem Namen eines National-Convents, der damit anfing, daß er die schon zertrümmerte Monarchie gesetzmäßig aufhob und die Republik; feierlichst proclamirte. Die Wahlen der Mitglieder zu diesem Convente waren in einem Zeitpunkte geschehen, wo die Jacobiner das völlige Uebergewicht hatten; es war daher leicht erklärlich, warum sich so wenig Königsfreunde unter diesen Deputirten befanden. Der Geist der Versammlung neigte sich im kurzen sehr zur Demokratie, daß nicht einmahl die Mitglieder, welche zur linken Seite des Präsidenten saßen, ausschließend für Demokraten galten, sondern nur diejenigen mit diesem Beinahmen beehrt wurden, welche den so genannten Berg, d. i. die etwas erhabenern Sitze, dem Präsidenten gegenüber, inne hatten. Von dieser Höhe herab wurde Frankreich Jahre lang unterdrückt, die Girondepartei gestürzt, und mit ihr wurden alle Ueberreste von Ordnung und Abhängigkeit zetrümmert. Die übrigen Mitglieder des Convents, welche die so genannte Ebene oder, nach sauscülottischer Kraftsprache, den Sumpf, ausmachten, waren des Organ des Bergs, und zitterten selbst vor seinen Bannstrahlen. Die Machthaber des Convents schonten ihre Collegen so wenig wie die übrigen Bewohner Frankreichs, und ließen bisweilen ganze Deputationen einzelner Departements zur Guillotine führen, wie z. B. am 31. Oct. 1793 die Deputirten aus dem Gironde-Departement. Nur dadurch, daß Robespierre, der furchtbarste und blutdürstigste aller Convents-Deputirten, endlich gestürzt wurde, konnte der Convent an Energie gewinnen und sich aufs neue unter den Franzosen einige Achtung erwerben. Sein nachheriger Sieg über die Jacobiner befestigte diese gute Meinung; und er hatte in der Folge wenigstens den [219] Trost, daß er bei seiner Auflösung am 26. Oct. 1795 sich mehr geschätzt sah als die zweite National-Versammlung. Die Zahl aller Decrete, welche er während seiner dreijährigen Dauer abgegeben hatte, betrug 11210.
An seine Stelle trat nun der neue gesetzgebende Körper, der bekanntlich aus dem Rathe der Alten und dem Rathe der fünf hundert besteht, und alljährlich theilweise erneuert wird, so, daß immer eine Anzahl Mitglieder bleibt, welche den Gang der Geschäfte kennt. In beiden Räthen haben sich Männer von großen Einsichten gezeigt; auch fehlt es unter ihnen nicht an guten Rednern. Der äußere Anstand wird wieder beobachtet; und solche Scenen wie im Convent, wo es einige Mahl zu Fausikämvfen kam, sind hier nie vorgefallen. Dessen ungeachtet aber wußte die Zwietracht auch in diesen Versammlungen einen geheimen Weg zu finden. Die neuen Wahlen im Jahre 1797 versprachen nicht viel Gutes, denn man bemerkte unter den neu gewählten Deputirten erklärte Royalisten. Zwar hoffte man von der Wahl gewisser Andrer, z. B. Pichegrüʼs, ein heilsames Gegengewicht für diese Schwätzer, die wie Marmontel von der Wiederherstellung der heiligen Religion ihrer Väter sprachen; aber was konnte der Erfolg sein, da Pichegrü selbst von ihnen auf eine unbegreifliche Weise bethört wurde, und sich endlich nicht scheute, an ihrer Spitze zu figuriren? – Das rasche Verfahren des Directoriums vernichtete am 4. Sept. 1797 die Unternehmung der königlich Gesinnten auf einmahl. Man mag auch darüber noch so verschieden denken, und die Art, mit der das Directorium verfuhr, sogar für despotisch erklären; so wird man doch schwerlich läugnen können, daß der gesetzgebende Körper in den Sommermonathen 1797 eine kindische Schwäche bewies, und an Statt nöthigern Verhandlungen über sehr große Kleinigkeiten, z. B. über die Wiederherstellung der Glocken und Processionen, discutirte. Seine Maßregeln gegen die ungeschwornen Priester und gegen die Emigranten waren so offenbar royalistisch, daß niemand mehr seine Vorliebe für diese beiden Classen von unruhigen Köpfen bezweifeln konnte. Ob nun gleich die Ruhe zwischen der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt wieder hergestellt ist; so ist es dessen ungeachtet [220] nicht unwahrscheinlich, daß nicht von Zeit zu Zeit neue Spaltungen entstehen sollten, und daß in der großen Anzahl der Deputirten (zusammen 700, wovon 200 den Rath der Alten ausmachen) die Hauptursache davon zu suchen ist. – Die Summe aller Decrete, welche beide Räthe seit dem Anfang ihrer Sitzungen im Oct. 1795 bis zum Oct. 1797 sollen abgegeben haben, wird auf 1239 bestimmt; eine Summe, für deren Untrüglichkeit man sich eben so wenig zuverlässig verbürgen kann, als für die Anzahl der oben angegebenen Decrete der vorhergehenden Versammlungen.
Adelung-1793: Versammlung, die
Brockhaus-1809: National Institut · Das National-Institut
Brockhaus-1911: National Range · Konstituierende Versammlung
Herder-1854: Constituirende Versammlung
Meyers-1905: National Service League · National-Expedition · Yellowstone National Park · National Farmers' Alliance · Versammlung · Konstituierende Versammlung
Buchempfehlung
»In der jetzigen Zeit, nicht der Völkerwanderung nach Außen, sondern der Völkerregungen nach Innen, wo Welttheile einander bewegen und ein Land um das andre zum Vaterlande reift, wird auch der Dichter mit fortgezogen und wenigstens das Herz will mit schlagen helfen. Wahrlich! man kann nicht anders, und ich achte keinen Mann, der sich jetzo blos der Kunst zuwendet, ohne die Kunst selbst gegen die Zeit zu kehren.« schreibt Jean Paul in dem der Ausgabe vorangestellten Motto. Eines der rund einhundert Lieder, die Hoffmann von Fallersleben 1843 anonym herausgibt, wird zur deutschen Nationalhymne werden.
90 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro