Die Philosophie

[421] Die Philosophie, (a. d. Griech. wörtlich die Liebe zur Weisheit) die Weltweisheit. – Es ist nichts seltenes, dabei aber immer auffallend genug, die Freunde und Lehrer dieser Wissenschaft darüber streiten zu hören, was die Philosophie eigentlich sei; und man hat eigne Schriften, in denen die mannigfaltigen Erklärungen, welche die Philosophen alter und neuer Zeit über ihre Wissenschaft gegeben haben, und in denen nicht selten auffallende Unbestimmtheit herrscht, gesammelt sind. Ich begnüge mich, mit Vermeidung aller dem Zwecke dieses Werks zuwider laufenden Weitläuftigkeit, vorläufig folgende Erklärung der Philosophie zu geben, von welcher ich hoffe, daß sie nicht nur den wahren Inhalt dieser Wissenschaft bezeichnen, sondern auch für jeden, der sich die Mühe nimmt, darüber nachzudenken, verständlich sein soll. Ich erkläre nehmlich die Philosophie durch »diejenige Wissenschaft, welche sich mit dem Hauptbedürfnisse des Menschen, wie fern er ein denkendes Wesen1 ist, beschäftigt, mit dem Bedürfnisse, Aufschluß über die Art seines Daseins und Wirkens, über seine Bestimmung und seine Hoffnungen zu erlangen.«

Der Mensch, wenn sich nur einiger Maßen die Denkkraft [421] in ihm entwickelt, ist ein geborner Philosoph. Unmöglich kann er – wenigstens in einer gewissen Periode seines Lebens – dem Reitz widerstehen, über jene wichtigen Fragen nachzudenken. Allein der menschliche Verstand blieb lange, sehr lange roh. Die unausgesetzt und mächtig auf den Menschen zuströmenden, ihm ganz räthselhaften Naturerscheinungen umnebelten seine Blicke; und Jahrhunderte von Erfahrungen mußten vorhergehen, ehe der denkende Mensch nur einiger Maßen von sich sagen konnte, »mein Blick ist frei.« Daher ist die (so genannte) Philosophie der Urvölker ganz natürlich ein abenteuerliches Gemisch von Aberglauben und Thorheit, welche, wie ebenfalls begreiflich ist, mit ihrer Religion auf das genauste zusammenhing. Die Griechen, von Natur eine genievolle Nation, und durch ihren Handel mit andern geistvollen Völkern in Verbindung gesetzt, erhoben die Philosophie nach und nach zu einer seltnen Vollkommenheit; und ihr größter Philosoph, Aristoteles, enthält oft Ideen, welche noch heut zu Tage zu benutzen übrig sind. In den neuern Zeiten (es versteht sich nach dem Mittelalter) hat die Philosophie in jeder Rücksicht unläugbar große Fortschritte (ich sage bloß Fortschritte) gemacht, auch noch ehe Kant sein schon seit langen Jahren wenigstens zum Theil mit sich herumgetragenes System der Philosophie bekannt machte. So wie nun aber die Kantischen Schriften, welche erst einige Jahre sehr vernachläßigt wurden, theils durch ihren originellen Tiefsinn, theils auch durch den Eifer mehrerer geistvoller Gelehrten, vorzüglich der philosophischen Recensenten in der allgemeinen Literatur-Zeitung, berühmt wurden, haben sich die Philosophen Deutschlands in zwei Hauptsecten getheilt, in Kantianer und in die Gegner des Kantischen Systems oder die Freunde der alten Philosophie. – Dieser oder jener Philosoph, geistvoll genug, um von Kants Scharfsinn getroffen zu werden, aber zu eitel, um sich vor dem Genius des großen Mannes zu beugen, verschwendet seinen Scharfsinn und sein Feuer, die Philosophen zu überzeugen, »daß das vortreffliche in Kants System schon längst von ihm gesagt worden ist.« Noch andere, vorzüglich jüngere, Weltweise erkennen zwar Kant als ihren unsterblichen Lehrer, behaupten aber doch, »daß [422] man damit noch nicht völlig zum Zweck komme, und daß man durchaus weiter gehn müsse.« Diese letztern sind zum Theil sehr scharfsinnige Männer (z. B. ein Reinhold, Fichte, Schelling): da aber zum Theil selbst Philosophen von Profession sich über jene Ideen noch nicht entschieden haben, da diese Ideen überdieß überaus schwer zu fassen sind; so begnüge ich mich, hier bloß den Zweck ihrer Ideen angeführt zu haben. Da überhaupt der Zweck dieses Artikels nicht sowohl philosophisch und kritisch, als vielmehr historisch ist, so bleibt mir, nach dem, was ich bis jetzt vorausgeschickt habe, nichts übrig, als den Umfang und Inhalt der Philosophiea) nach den Ideen der vorkantischen Philosophen, b) dieselben nach Kant vorzutragen, und die nöthigsten Erläuterungen in den Anmerkungen zu geben.

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Umfang und Theile der Philosophie nach der vor

Kant herrschenden Philosophie in Deutschland.


Die Philosophie wird im Allgemeinen α) in die theoretische und β) die practische Philosophie eingetheilt; jene trägt die Wahrheiten vor, welche diese anwenden lehrt.

α) Die theoretische Philosophie besteht aus 2 Haupttheilen, der Logik und der Metaphysik.

Was die Logik oder die Vernunftlehre betrifft, so kenne ich zwar selbst Lehrer der Philosophie, welche gegen ihre Schüler steif und fest fort behaupten, »daß man durch die Logik denken lerne.« Da sich indeß bei gesunder Vernunft schwerlich behaupten läßt, »daß man je denken lernen könne;« so haben schon längst mehrere geistvolle Männer diese Erklärung der Vernunftlehre verworfen, und dagegen diese Wissenschaft durch eine Geschichte des menschlichen Geistes, eine Beschreibung der Art und Weise, wie der Mensch erkennt, denkt und schließt u. s. f. erklärt.

Die Metaphysik wird von vielen Lehrern der ältern Schule sehr verschieden beschrieben; doch liegt viel gemeinschaftliches ihrer Erklärungen in folgendem Begriff, nach welchem sie durch die Wissenschaft der allgemeinsten philosophischen Wahrheiten [423] erklärt wird. Uebrigens wird sie gewöhnlich in folgende vier Theile getheilt, in die Ontologie, die Psychologie, die Kosmologie und in die natürliche Theologie. Die erstere (die Ontologie) beschäftigt sich zuvörderst mit der Festsetzung allgemeiner Wahrheiten, welche sich auf die allgemeine Beschaffenheit aller Dinge überhaupt beziehen; dergleichen sind die Begriffe des Möglichen und Unmöglichen, der Kraft, der Ursache und Wirkung u. s. f. Die zweite (die Psychologie oder die Seelenlehre) ist die vollständige Lehre des menschlichen Geistes. Die dritte (die Kosmologie oder die Weltlehre) handelt von dem Allgemeinen in der Welt, wovon die einzelnen in der Welt vorhandenen Dinge Theile sind, oder von der Welt überhaupt. Die vierte endlich (die natürliche Theologie) richtet ihre Blicke auf die Gottheit, jedoch unabhängig von einer Offenbarung.

β) die practische Philosophie theilt sich ebenfalls in 2 Haupttheile, in die Moral und das Naturrecht2.

Die Moral oder Sittenlehre beschäftigt sich, wie bekannt, mit dem Erweis und der Darstellung der Menschenpflichten.

Das Naturrecht ist die Wissenschaft, welche aus dem allgemeinen System der menschlichen Pflichten diejenige Gattung derselben heraus hebt, zu deren Erfüllung der Mensch nicht bloß durch seine innere Moralität sich gedrungen fühlt, sondern auch von andern durch Zwangsmittel rechtmäßig gezwungen werden kann. Diese Wissenschaft wird eingetheilt in das Naturrecht im engen Sinne, (welches diejenigen Zwangspflichten behandelt, welche unter den Menschen noch vor Errichtung eines Contracts Statt finden), das Völkerrecht (für Frieden und Krieg) und endlich das allgemeine auf das Vernunftrecht sich gründende Staatsrecht.

[424] Der in den neuern Zeiten zu den bisher angeführten Theilen der Philosophie hinzugekommene Theil der Aesthetik, oder die Theorie der schönen Künste, wird gewöhnlich auch zur practischen Philosophie gerechnet.

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Umfang und Theile der Philosophie, nach

Immanuel Kant.


Die Philosophie ist die Vernunfterkenntniß aus Begriffen3.


Alle Philosophie ist aber entweder Erkenntniß aus reiner (d. h. die Erfahrung bei Seite setzender) Vernunft. oder Vernunfterkenntniß aus Erfahrungsgrundsätzen4

Die Philosophie der reinen Vernunft ist nun erstlich Vorübung5, in welcher das Vermögen der Vernunft, in Ansehung aller reinen Erkenntniß, ohne Rücksicht auf Erfahrung6, untersucht wird, welche Untersuchung Critik heißt; zweitens die ganze philosophische Erkenntniß aus reiner Vernunft im systematischen Zusammenhange, oder die Metaphysik7.

[425] Die Metaphysik ist erstlich Metaphysik der Natur, sie ist zweitens Metaphysik der Sitten. Die erstere ist der Inbegriff aller theoretischen, von aller Erfahrung unabhängigen Erkenntnisse von dem, was da ist; die zweite ist der Inbegriff aller sittlichen Erkenntnisse von dem, was da sein soll.

Die Metaphysik der Natur (welche auch im engern Verstande Metaphysik genannt wird) bestehet

I. aus der Transcendentalphilosophie8, oder der Ontologie,

II. aus der Physiologie der reinen Vernunft.

I. Die erstere betrachtet nur den Verstand und die Vernunft selbst in einem System aller Begriffe und Grundsätze, die sich auf Gegenstände überhaupt beziehen, ohne Objecte anzunehmen, die gegeben wären.

II. Die zweite betrachtet die Natur, das heißt, den Inbegriff gegebener Gegenstände, sie mögen nun den Sinnen oder, wenn man will, einer andern Art von Anschauung gegeben sein, jedoch ebenfalls mit Hintansetzung der Erfahrung. Die Physiologie der reinen Vernunft, die wir so eben erklärt haben, ist nun

a) entweder die natürliche9, bei welcher der Gebrauch der Vernunft auf die Natur geht, so weit als ihre Erkenntniß in der Erfahrung kann angewendet werden. Diese natürliche Physiologie theilt sich wieder

α) in die Metaphysik der körperlichen Natur, [426] welche die Critik des auf die Natur anzuwendenden reinen Verstandeserkenntnisses, mithin die Grundsätze aller Physik, enthält,

β) in die Metaphysik der denkenden Natur.

b) oder die Physiologie der reinen Vernunft ist die übernatürliche, bei welcher der Gebrauch der Vernunft auf diejenige Verknüpfung der Gegenstände der Erfahrung geht, welche alle Erfahrung übersteigt. Diese übernatürliche Physiologie der reinen Vernunft besteht nun

α) aus der rationalen Kosmologie oder Weltkenntniß, welche die reinen Verstandesbegriffe, die, so lange ihre Anwendung dem ursprünglichen Verstandesgebrauch anpaßt, Gegenstände als bedingt vorstellen, bis zum Unbedingten erweitert,

β) der rationalen Theologie, oder die Betrachtung des Zusammenhangs der gesammten Natur mit einem Wesen über der Natur.

Die Metaphysik wurde oben zuförderst in die Metaphysik der Natur und in die Metaphysik der Sitten eingetheilt. Hierbei ist zu bemerken, daß, indem die Vernunft ein ursprünglich gesetzgebendes Vermögen ist, der Mensch sich durch das Gesetz der Vernunft oder das Sittengesetz an eine andre Ordnung der Dinge, als die Natur ist, geknüpft denkt, welches Sittengesetz auch durchaus nicht auf theoretischen Boden gepflanzt werden darf. Während nun, diesem Allen zu folge, alle unsre Kenntniß entweder theoretisch oder practisch ist, so findet Kant in der ursprünglichen Gesetzgebung der Urtheilskraft10 (welche er zwischen den Verstand [427] und die Vernunft setzt) das Prinzip der Verbindung zwischen theoretischer und practischer Philosophie. Diese Materie ist jedoch zu schwierig, als daß hier mehr davon gesagt werden könnte.

Es ist nunmehro nöthig, zu der Ureintheilung aller Philosophie zurückzugehen, vermöge welcher sie entweder Erkenntniß aus reiner (d. h. die Erfahrung bei Seite setzender) Vernunft, oder Vernunfterkenntniß aus Erfahrungsgrundsätzen ist Alle bisher angeführten Theile der Philosophie gehören zu der ersten Gattung. Es ist demnach noch der zweite Haupttheil der Philosophie übrig, in welchem die Erkenntniß aus Erfahrungs-Grundsätzen geschöpft ist. Wir deuten jedoch denselben bloß an, da es nach dem vorhergehenden sehr leicht ist, ihn zu skizziren.

Es ist übrigens bis jetzt der Schulbegriff von Philosophie bestimmt worden. Aber es giebt noch einen Weltbegriff davon, das heißt, einen solchen, der jedermann nothwendig interessirt. Nach demselben ist Philosophie die wahrhaft sittliche Denkungsart, und der Philosoph derjenige, der alle Zwecke dem der Sittlichkeit unterordnet.


Fußnoten

1 Von den Bedürfnissen des physischen Menschen kann hier nicht die Rede sein; auch wenn ein Mensch das feinste Nachdenken und die größte Geistesanstrengung nöthig gehabt hätte, seine Existenz zu fristen, so würde er darum doch kein Philosoph sein.


2 Mehrere scharfsinnige Philosophen vor Kant haben indeß hierbei bemerkt, daß der Entwickelung der moralischen Grundsätze die Bedeutung des Wortes practisch, vermöge welcher dasselbe die Anwendung der theorctischen Philosophie anzeigt, ganz unpassend sei.


3 Von der Mathematik unterscheidet sich die Philosophie dadurch, daß jene die Vernunfterkenntniß durch Construction der Begriffe ist. Kant hat überhaupt eigne Ideen über die Mathematik, welche hier anzuführen der Ort nicht ist.


4 »Erfahrungsgrundsätzen« oder empyrischen Prinzipien, wie sich Kant ausdrückt. Ich habe, um manche Leser der Schwierigkeit, die ihnen mehrere Kantische Ausdrücke verursachen könnten, zu überheben, dieselben oft mit andern vertauscht, jedoch den Kantischen Ausdruck gewöhnlich in der Note angeführt.


5 »Vorübung« oder Propädevtik.


6 »Ohne Rücksicht auf Erfahrung« oder a priori, wie sich Kant ausdrückt.


7 »Wiewohl (sagt Kant) der Name Metaphysik auch der ganzen reinen Philosophie, mit Inbegriff der Critik, gegeben werden kann.«


8 Man hüte sich, in der Kantischen Philosophie transcendental mit transcendent zu verwechseln. Transcendental heißt: bloß dem reinen Verstande denkbar, transcendent: die Gränzen der Erfahrung überfliegend.


9 »natürliche« der natürlichen Physiol. d. rein. Vernunft wird in der Folge die übernatürliche entgegengesetzt. Kant bedient sich Statt dieser Ausdrücke der Ausdrücke physisch und hyperphysisch, nachher, und noch öfters, der Ausdrücke immanent und transcendent.


10 Kants Critik der Urtheilskraft enthält 1) die Zergliederung der ästhetischen Beurtheilung des Schönen und Erhabnen, 2) die Zergliederung der teleogischen Beurtheilung vieler Naturobjecte, die wir durch keinen andern Begriff, als lediglich durch den der Zwecke denken können. –

Quelle:
Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 3. Amsterdam 1809, S. 421-428.
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