Philosophie

[795] Philosophie (griech., v. philos, lieb, Freund, und sophía, Weisheit). Dies Wort hat so viele Auslegungen erfahren, daß es schwer hält, für alles, was unter diesem Namen auftritt, gemeinsame Züge aufzufinden und so eine Definition zu geben. Es gibt beinahe so viele Definitionen, wie es selbständige Philosophen überhaupt gegeben hat. Im allgemeinen läßt sich sagen, daß damit die Frucht des durch reine Liebe zur Sache angeregten, bis zu den äußersten Grenzen des Erreichbaren fortgesetzten Nachdenkens über die wichtigsten, das Sein, den Ursprung, Zweck und Wert der Dinge betreffenden Probleme sowie des durch reine Liebe zum Guten belebten und in allen wie immer gearteten Lagen des Lebens festgehaltenen sittlichen Wollens verstanden wurde, daher man die Philosophen vorzugsweise »Denker« und »Weise« nannte. Die P. nimmt daher diesem Begriffe nach den ersten Rang unter den menschlichen Bestrebungen ein, insofern in ihr das (theoretische) Ideal eines vollkommenen Wissens sowie das (praktische) Ideal eines vollkommenen Betragens verwirklicht erscheinen soll. Es wird erzählt, daß Pythagoras im Bewußtsein der Schwierigkeit, Weisheit zu erreichen, für sich auf den Namen eines »Weisen« (Sophos) verzichtet und sich einen »Weisheitliebenden« (Philosophos) genannt und so das Wort P. aufgebracht habe. In neuerer Zeit hat man sich daran gewöhnt, unter P. nur die theoretische Richtung, nicht die praktische zu verstehen, und man wird sie definieren können als die Wissenschaft von den Prinzipien alles Seienden und Geschehenden. Sie hat es nicht einseitig mit dem Wissen von der Natur oder vom Geist und anderm zu tun, sondern sie bezieht sich auf alles Wissen, will aber zugleich im Gegensatz zu aller Scheinwissenschaft echtes Wissen erreichen. In der erstern Eigenschaft macht sie nicht nur alles von andern Wissenschaften »Gewußte«, sondern auch das von keiner andern Gewußte, das »Wissen«, zum Gegenstand; in der letztern stellt sie nicht nur das Ideal echten Wissens und ebensolcher Wissenschaft auf, sondern gestaltet sich selbst diesem Ideal gemäß. Als alles umfassendes Wissen ist die P. Universal-, als dem Ideal des Wissens entsprechendes Wissen zugleich Normalwissenschaft. Da nun das Wissensall nur eins, das Wissensideal aber ein mannigfach verschiedenes ist, so kann es in ersterer Hinsicht nur eine P., in letzterer dagegen mancherlei Philosophien geben. So wirkt die übliche Unterscheidung zwischen Vernunft- (rationalem) und Erfahrungs- (empirischem) Wissen zurück auf den Charakter zweier entsprechender Philosophien. Wird das rationale Wissen als echtes Wissen angesehen, so entsteht eine rationalistische, wird das Erfahrungswissen als Wissen betrachtet, eine empiristische P. (Rationalismus, Empirismus). Es kann aber auch eine P. geben, die beide Gattungen des Wissens als Wissen gelten läßt und daher einen gemischten Charakter trägt. Zu den ungemischten Philosophien gehört der reine (positive) Rationalismus, der die Erfahrung, und der reine Empirismus, der die Vernunft ausschließt. Jener ist Apriorismus, weil er das vor aller Erfahrung (a priori) vorhandene (angeborne) Wissen, Idealismus, weil er das als Idee (idea) in der Vernunft enthaltene Wissen für Wissen gelten läßt. Dieser, der sowohl (sensualistisch) durch den äußern als auch (intuitiv) durch sogen. innern Sinn Erfahrenes als Wissen gelten läßt, ist Aposteriorismus, weil er (a posteriori) erworbenes, Realismus, weil er (von außen oder von innen) verursachtes (res) Wissen für Wissen erklärt. Der reine Sensualismus (sinnliche Anschauungsphilosophie) schließt die innere, die reine Spekulation (übersinnliche Anschauungsphilosophie) schließt die äußere Erfahrung aus. Die gemischte (rationalempirische) P. erkennt sowohl rationales als empirisches Wissen als Wissen an, sucht aber zwischen beiden Übereinstimmung herzustellen, indem entweder die Vernunft durch die Erfahrung bestätigt (empirischer Rationalismus) oder die Erfahrung durch die Vernunft (von den ihr anhaftenden Mängeln: Widersprüchen, Lücken etc.) gereinigt wird (rationalisierte Empirie). Als universale Wissenschaft ist die P. Enzyklopädie, als normale Wissenschaft Musterbild der besondern Wissenschaften. In jener Eigenschaft vertritt, in dieser kritisiert sie die übrigen Wissenschaften. Infolge der erstern muß jede wirkliche Wissenschaft im System der P. ihren gebührenden Platz, wie auf dem globus intellectualis Bacons ihren geographischen[795] Ort, finden. Infolge der letztern muß jede Wissenschaft, wenn sie den Namen verdienen will, den Forderungen der P., die das Wissenschaftsideal aufstellt, sich anbequemen. In beiden Hinsichten ist P. die »Wissenschaft der Wissenschaften«. Die P. kritisiert aber nicht bloß die nicht in ihren Umfang gehörigen (nichtphilosophischen) so gut wie die ihren eignen Umfang ausmachenden (philosophischen) Wissenschaften, sondern auch sich selbst als »Liebe zum Wissen«. Wie die Liebe durch Gewahrwerden der »Täuschung«, wird die P. durch Gewahrwerden des »Irrtums« aus ihrem Wahn geweckt, das Vertrauen in Mißtrauen, der Glaube in Zweifel an der Möglichkeit des Wissens verwandelt. Vor dem Zweifel herrscht Ruhe, während desselben Unruhe, die entweder nach Erkenntnis der Unmöglichkeit des Wissens zur Verzichtleistung auf Wissen (Resignation) oder nach Erkenntnis der unbeschränkten oder beschränkten Möglichkeit zur Befestigung des Wissens führt. Die erste dieser Stufen, die nacheinander in der Geschichte der P. auftreten, ist naiver Dogmatismus; die zweite entweder Skeptizismus oder (nach Kant) Kritizismus, der durch die Skepsis eingeleitet ist, wie Kant durch Hume aus dem »dogmatischen Schlummer« geweckt wurde; die dritte, je nach ihrem das Wissen total verneinenden oder (total oder teilweise) bejahenden Charakter, entweder Nihilismus oder kritischer (transzendentaler) Dogmatismus. Die Entwickelung der P. geht so durch einen beständigen Streit der einzelnen Stufen, aber auch der einzelnen Arten der P. wie der P. mit den übrigen Wissenschaften vor sich. Nicht nur der naive Dogmatismus wird durch den Skeptizismus negiert und letzterer sowohl durch den Nihilismus als durch den diesen ausschließenden kritischen Dogmatismus beseitigt, sondern auch die ungemischte P. schließt die gemischte, der reine Rationalismus den reinen Empirismus, der Positivismus P. der übersinnlichen Anschauung, Mystizismus, und die wissenschaftliche P. die unphilosophische Wissenschaft aus; die letztere hört eben dort auf, wo die P. anfängt. Während die Aufgabe der (besondern) Wissenschaften darin besteht, sich von den Gegenständen Begriffe zu machen, macht die P. als kritische Normalwissenschaft sich deren Begriffe zum Gegenstand. Ihr Unterschied von der (unkritischen) Wissenschaft liegt nicht darin, daß sie andres, sondern darin, daß sie anders weiß. Sie gleicht einem Läuterungsfeuer, durch das alle sogen. Wissenschaft hindurchgehen muß, um das edle Metall von der Schlacke zu sondern. Darum hat es zwar eine P. erst gegeben, als Wissenschaft vorhanden war; aber solange es diese gibt, wird es auch P. geben. Weder die Katastrophe, die die P. am Ausgange des Altertums, als sie durch das Christentum, noch diejenige, die sie in unsern Tagen traf, als sie durch die Beschäftigung mit den positiven Wissenschaften verdrängt zu werden drohte, hat die P. erstickt; vielmehr ist aus der erstern eine »christliche«, aus der letztern eine »positive« P. neu hervorgegangen. Weder ihr zeitweiliges Unterliegen noch ihre Vielgestaltigkeit darf an der P. irremachen. Jenes geht aus ihrem Wesen, das nicht fertiges Wissen, sondern Streben nach Wissen ist, da die Wahrheit, nach Lessing, »für Gott allein« ist, diese geht aus der Vielgestaltigkeit des Wissens selbst hervor. Die (obengenannten) Stufen der P. stellen das Verhältnis der aufeinander folgenden Konfessionen derselben Religion, z. B. der christlichen, zu dieser dar. In diesem Sinne läßt sich sagen, daß, wenn auch keine der Philosophien die ganze P., das Ganze der Philosophien eine P. sei.

Die Einteilung der P. geht aus ihrem Begriff hervor. Da sie Wissen erreichen will, so muß sie vor allen Dingen den Weg angeben, zu diesem zu gelangen, d.h. sie muß eine Erkenntnislehre geben, die zugleich für alle andern Wissenschaften, die auch Erkenntnisse erreichen wollen, gelten muß. Diese Erkenntnislehre wird entweder selbst gleich der Logik gesetzt, oder die Logik ist ein Teil von ihr. Ist so festgestellt, wie man erkennt, so kommt es auf die Objekte des Erkennens weiter an, auf das, was man erkennt. Da stellt sich uns das äußere wahrnehmbare Sein gegenüber, die Natur; auf diese würde die Naturphilosophie gehen, die sich wieder in einzelne Unterabteilungen gliedert. Dem äußern Sein und Geschehen steht das innere gegenüber, das wir zunächst in uns selbst wahrnehmen, und nennen wir dies im allgemeinen Geist, so tritt der Naturphilosophie die Geistesphilosophie gegenüber. Sie hat es zunächst zu tun mit den Erscheinungen, Vorgängen, Zuständen unsers Innern, wird diese in einen systematischen Zusammenhang zu bringen suchen; auch auf das Einheitliche, was ihnen etwa zugrunde liegt, eingehen müssen. Diese grundlegende Wissenschaft ist die Psychologie oder Seelenlehre, die freilich, soweit sie physiologische Psychologie ist, auch in Verbindung steht mit Naturwissenschaften. An sie schließen sich naturgemäß zwei andre Wissenschaften an, die Sittlichkeitslehre oder Ethik und die Lehre vom Schönen, Ästhetik. Die erstere hat es zu tun mit dem Guten, mag dies in der Erfüllung der Pflicht oder der Glückselig leit bestehen, sie stellt die höchsten Ziele des Menschen auf und so die Normen für das Wollen und Handeln. Die letztere untersucht auf psychologischer Basis, was als schön gefällt, und gibt so die Normen für den das Schöne Hervorbringenden, für den Künstler. An die Ethik und Psychologie werden sich weitere Disziplinen anschließen, die noch mehr auf die Gestaltung des geistigen Lebens gehen: die Rechtsphilosophie, die Gesellschaftslehre, die Staatslehre (Politik), die Pädagogik, soweit die letztern drei überhaupt philosophisch betrieben werden können. An die Geisteswissenschaften wird sich noch anzuschließen haben die P. der Geschichte, insofern diese auf Grund der vorhergehenden Disziplinen zu untersuchen hat, wieweit im Laufe der Geschichte die Menschheit ihren Ideen sich genähert hat, und so einen Sinn in der Geschichte findet. Wenn es nun auch zwei verschiedene Gebiete gibt, die philosophisch getrennt von einander zu behandeln sind, so gibt es doch auch gemeinsame Begriffe und Gesetze für beide, die dann die Prinzipien für das Seiende als solches sind, und die Wissenschaft von ihnen ist die Metaphysik, auch als Lehre vom Seienden (griech. on) Ontologie genannt. Am richtigsten wird diese Wissenschaft den ersten Platz nach der Logik einnehmen, nicht erst hinter die Geisteswissenschaften zu stellen sein. Als höchstes Seiendes gilt die Gottheit, so daß die Lehre von Gott, die Theologie, jedenfalls einen Platz in der Metaphysik zu beanspruchen hat. Läßt man die Religionsphilosophie als besondere Disziplin im System gelten, so mußte diese ihre Stelle unmittelbar hinter der Ästhetik haben, da sie aus den psychologischen Zuständen die religiösen Phänomene abzuleiten hat und dann zusehen muß, inwiefern sich die psychologisch bedingten religiösen Vorstellungen, die sich namentlich auf Gott beziehen, mit den metaphysischen Resultaten decken. Eine seit alter Zeit gewöhnliche Einteilung der P. in Logik, Physik, Ethik kann[796] insofern nicht befriedigen, als bei ihr ganze Disziplinen, wie Metaphysik, sofern diese nicht gleich der Logik ist, Psychologie, Ästhetik nicht gut untergebracht werden können.

Geschichte der Philosophie.

(Hierzu die Porträttafeln »Deutsche Philosophen I u. II«.)

Innerhalb der allgemeinen Entwickelungsgeschichte des Wissens stellen die Gegensätze zwischen (unphilosophischer) Wissenschaft und P., innerhalb dieser selbst die Gegensätze zwischen Dogmatismus und Skeptizismus Stufen dar, deren eine die andre voraussetzt, und die demzufolge einander in der Zeit ablösen. Den Anfängen der P. im Altertum wie in der neuern Zeit geht ein Zustand voraus, in dem zwar Wissen vorhanden war, dies aber im Dienst andrer Zwecke (politischer, religiöser, technischer) gepflegt wurde, nicht aus Liebe zum Wissen selbst. Aus der Verwunderung entsprungen, lehnte sich die P. bald gegen die religiösen Vorstellungen auf, obgleich von ihnen auch manches entnehmend, und wurde deshalb meist nicht mit günstigen Augen angesehen. Nachdem sie den Kampf mit den herrschenden Mächten des Altertums im Orient bei Chinesen und Indern, im Okzident bei den Griechen aufgenommen und bis zum Ausgang des Römertums fortgesetzt hatte, suchte sie dem Unterliegen unter die herrschenden Mächte des Mittelalters im christlichen Abend- und islamitischen Morgenlande dadurch zu entgehen, daß sie sich freiwillig zur »Magd« der Theologie erniedrigte. Das Wiederaufleben der positiven Wissenschaften sowie die Wiederentdeckung der echten Quellen der P. des Altertums führten nach Ausgang der kirchlichen Weltherrschaft zur Wiedererstarkung des Wissenstriebes, dessen Frucht die neuere P. ist.

Die P. der Chinesen ist als theoretische teils Sensualismus, teils Mystizismus, als praktische Rationalismus; in ihrem Begriff des Philosophen sind Denker und Weiser vereinigt. Das Wissen von den Dingen reicht nach der herrschenden P. (der Schüler des Konfutse um 550 v. Chr.) nicht über deren sinnliche Erscheinungen hinaus; nach der unterdrückten P. (der Schüler des Laotse um 600 v. Chr.) liegt der phänomenalen Welt ein »farb- und klangloses«, sinnlich nicht wahrnehmbares Urwesen, Tao, zugrunde. Als oberster Grundsatz der Moral gilt beiden die Einhaltung der richtigen Mitte. Vgl. Chinesische Literatur, S. 62, 1. Spalte.

Die P. bei den Indern ist teils orthodoxe, sich an den Inhalt der heiligen Bücher (der Vedas) anschließende (streng genommen keine) P., wie in den beiden Systemen der Mimansa (Karma-Mimansa und Wedanta), teils heterodoxe, auf eignes Denken gestützte (also wirkliche) P., wie in den beiden Sankhyas des Kapila und Patandschali, in der Nyaya des Gautama und der Waiseschika des Kanâda (sämtlich etwa zwischen 1000 und 600 v. Chr. entstanden). Beide Sankhyas berufen sich auf die Erfahrung als Quelle des Wissens: die erste auf die sinnliche (Sensualismus), die zweite auf die übersinnliche (Mystizismus). Durch jene kommt die Seele zur Einsicht, daß sie von der sinnlichen Natur verschieden, durch diese, daß sie mit der des übersinnlichen Urwesens (Brahma) eins und daher (im einen wie im andern Fall) von den am Sinnlichen haftenden Mängeln (Krankheit, Alter, Tod, Wiedergeburt) frei ist. Dasselbe (praktische) Ziel, die Glückseligkeit, wird der Nyaya zufolge durch die Vollkommenheit des (empirischen) Wissens erreicht, zu welchem Zweck eine Kunstlehre des Schließens und Streitens (Dialektik) entworfen wird. In dem System des Kanâda werden die (physikalischen) Eigenschaften und Unterschiede der Dinge auf Gestalt, Zahl und Lage kleinster Körperteilchen (Atome) zurückgeführt, aus denen sie zusammengesetzt sind. Verwandt mit der (ersten) Sankhya ist die Lehre des Buddhismus, die als Ziel der P. die Erreichung des Nirwana als des (dem Nichtsein ähnlichen) Zustandes betrachtet, der jenem der Sansara (des Seins der sinnlichen Welt) entgegengesetzt und daher von den »vier Schmerzen« derselben (Krankheit, Alter, Tod, Wiedergeburt) ausgenommen ist. Weiteres s. Indische Philosophie.

Die P. bei den Griechen ist in der Zeit von Thales bis Aristoteles Liebe zur theoretischen Weisheit auf natürlichem Weg, in der Zeit, welche die Schüler der Stoa und Epikurs und die Skeptiker umfaßt, Liebe zur praktischen Weisheit, in den letzten Jahrhunderten, wo der Neuplatonismus blühte, abermals Liebe zum Wissen, aber auf übernatürlichem Weg, ohne daß in allen drei Abschnitten die entgegengesetzte Seite vernachlässigt worden wäre. Der natürliche Weg ist (sinnliche) Erfahrung und Vernunft, der übernatürliche übersinnliche Anschauung (Vision). Die ersten griechischen Denker sind Physiker; die Ethik ist nur in der Form der Spruchweisheit (Gnomik) der (sieben) Weisen, eine Wissenschaft des Wissens gar nicht vorhanden. Das Wesen der Dinge wird von den einen (den ältern und jüngern Ioniern) auf physischen Stoff, der nach Herakleitos in ewiger Bewegung ist, von den andern (den Pythagoreern, s. Pythagoras) auf mathematische und geometrische (Zahl und Gestalt), von den dritten, den Eleaten, auf ruhendes Sein (s. Eleatische Schule) zurückgeführt. Durch den Umstand, daß die Eleaten das »Werden« (Bewegung), die Herakliteer das »Sein«, als dem Wesen der Dinge widersprechend, für Schein, jeder das Wissen des andern für Scheinwissen ausgeben, wird die Aufmerksamkeit zuerst auf die Betrachtung des Wissens, die Wissenslehre, gelenkt. Diese lieferte zunächst (bei den Sophisten) ein negatives Resultat, indem alles Wissen für Scheinwissen, der einzelne »Mensch als Maß aller Dinge« (Protagoras) erklärt wird, sodann (durch Sokrates, gest. 399) ein positives, indem das rationale (in Begriffsform auftretende) Wissen als echtes Wissen zu gelten hat. Zugleich wird durch Anwendung des so gewonnenen Wissens auf das Gute die dritte Wissenschaft (Ethik) durch Sokrates zu der vorhandenen Physik und Logik hinzugefügt und dieses bald (positiv) als höchste Lust (Hedoniker, s. Hedonismus), bald (negativ) als mindeste Unlust (Kyniker) Gewährendes, bald als das um seiner selbst willen Begehrenswerte (Platon) bestimmt. Durch die Ausstellung eines Ideals des Wissens (des rationalen) und die Vervollständigung des Umfangs des Wissens wurde P. als Universal- und Normalwissenschaft möglich und durch Platon (gest. 348) und Aristoteles (gest. 322) ausgeführt. Beide gingen davon aus, daß die normale Wissensform der Begriff und daher sowohl die Wissens- als die Seinslehre dieser gemäß zu gestalten sei; in bezug auf den Ursprung des Begriffs nahmen beide entgegengesetzte Standpunkte ein. Da der Begriff das Allgemeine (Eine) darstellt, das Besonderes unter sich befaßt, so kann er entweder so aufgefaßt werden, als sei das Besondere aus dem Allgemeinen, aus seinem Inhalt, entlassen (deduziert), oder als sei das Allgemeine aus dem Besondern, aus seinem Umfang, abstrahiert (induziert). Im erstern Fall ist das Allgemeine (Eine), in diesem das Besondere (Viele) das Ursprüngliche. Indem Platon mehr die deduktive Form als die[797] Wissensform ansah, kam er dazu, die Vielheit des Wissens aus Einem Wissen, in der Seinslehre das viele Seiende aus Einem Sein, in der Ethik die Vielheit der Güter aus Einem höchsten Gut abzuleiten. Aristoteles dagegen, der sich der induktiven Form als Wissensform zuneigte, gelangte zu dem entgegengesetzten Resultat, die Eine Wissenschaft aus einer Vielheit von Wissenschaften, das Eine Sein aus einer Vielheit von Seienden, das Eine höchste Gut aus einer Vielheit von Gütern zusammenzusetzen. Beider Philosophien sind insofern Rationalismus, als ihnen nur das rationale (in Begriffsform, Einheit der Vielheit, gebrachte) Wissen für wahres Wissen, nur das in ihr existierende (rationale) Sein für wirkliches Sein und nur das in ihr aufgestellte (rationale) Gut für das wahre Gut gilt. Da der deduktive Rationalismus aber die Einheit, der induktive die Vielheit als das Ursprüngliche ansieht, so führt der erste dazu, das wahre Wissen für »angeboren«, der andre, es für »erworben« anzusehen; setzt der erstere das höchste Gut in die Eine Tugend, so der letztere dagegen in die aus der Betätigung einer Vielheit von Tugenden resultierende Glückseligkeit. Der Umstand, daß bei dem erstern der Begriff, als Allgemeines, von dem Seienden, als Gattung, nicht verschieden ist, gab zu der Folgerung Anlaß, daß der Begriff selbst das Seiende sei, Wissenslehre und Seinslehre (Dialektik und Metaphysik) in Eins zusammenfielen. Dem Begriff als Seiendem legte Platon den Namen Idee bei und bezeichnete ihn als Gegenstand eines über die Sinnlichkeit erhabenen Schauens. Aristoteles dagegen sah den Begriff als Frucht eines auf die Objekte der Sinnenwelt gerichteten sinnlichen Schauens und der an dieses sich anschließenden Denkoperationen als einen eine Mehrheit von Dingen zusammenfassenden und bezeichnenden Gedanken an. Beide Systeme wurden durch Schulen, jenes des Platon durch die (ältere, mittlere und neue) Akademie, jenes des Aristoteles durch die sogen. peripatetische Schule, fortgepflanzt. Jene ging durch den Zweifel an der Möglichkeit übersinnlicher Erfahrung allmählich durch Arkesilaos und Karneades in Skeptizismus, diese durch die Ausbreitung des Wissens über alle Gebiete der Erfahrung allmählich in Beschäftigung mit den positiven Wissenschaften (insbes. Naturwissenschaften) über. Der folgende Abschnitt der griechischen P., in der die praktische Weisheit den Vorzug hat und das theoretische Wissen nur als Mittel zu dieser gilt, wird von den Schulen der Stoa (s. Stoiker), welche die Tugend, deren Folge die Glückseligkeit, und des Epikuros (gest. 268), welche die Glückseligkeit oder die Lust, deren Mittel die Tugend ist, als höchstes Gut ansahen, sowie durch die der Skeptiker, die das höchste Gut, die Gemütsruhe, durch die Verzichtleistung auf sicheres Wissen zu bewahren suchten, ausgefüllt. Die letzte Zeit der griechischen P., in der bereits orientalische (jüdische) Einflüsse (vornehmlich in Alexandria) sich einmischten, suchte dem eingerissenen Skeptizismus und Sensualismus durch die Wiederbelebung des Platonismus zu steuern und die Kluft zwischen der sinnlichen (Erscheinungs-) und übersinnlichen (Ideen-) Welt teils (theoretisch) durch stufenweises Sicherheben von sinnlicher zu übersinnlicher (intellektualer) Anschauung bis zu (mystischem) Einswerden des Endlichen mit dem Unendlichen, teils (praktisch) durch stufenweises Abtöten der Sinnlichkeit (Askese) zu überbrücken, woraus die Schule des Plotinos (3. Jahrh. n. Chr.), der Neuplatonismus, hervorgegangen ist, welche die Reihe originaler Philosophien des Altertums beschloß.

Das Mittelalter, in dem im Abend- und Morgenlande die P. nur im Dienste dort der christlichen, hier der islamitischen Theologie als Schulphilosophie (Scholastik) auftrat, hat keine originale P. hervorgebracht. Man schloß sich im Abendland (seit Scotus Eriugena, gest. 880) dem Neuplatonismus und (entstellten) Platonismus, im Morgenland und in dem mohammedanischen Spanien seit der Herrschaft der Araber dem (mangelhaft bekannten) Aristoteles an. An dem Gegensatz beider in der Feststellung des Verhältnisses zwischen dem Allgemeinen (universale) zum Besondern (res) entzündete sich der Streit zwischen den sogen. Realisten (Platonikern), die das Allgemeine für wirklich (universalia ante rem), und den Nominalisten und Konzeptualisten, die es für ein bloßes Wort (nomen) oder einen zusammenfassenden Gedanken (conceptus, Begriff) erklärten (universalia post rem oder in re), in dem anfänglich die erstern (Anselm von Canterbury gegen Roscelinus und Abälard, 11. und 12. Jahrh.), nachher (13. und 14. Jahrh.) die letztern die Oberhand behaupteten. Der herrschenden, aber der Theologie dienstbaren, ging eine unterdrückte, aber kirchlich unabhängige Richtung parallel, die im Morgenland als Sûsitum, im Abendland als (häufig ketzerische) Mystik das philosophische Problem, statt durch Vernunft oder sinnliche Erfahrung, durch innere Erleuchtung (Intuition, Inspiration) zu lösen versuchte.

Zwischen dem Ausgang der Scholastik und dem Beginn der neuern P. liegt eine Übergangsepoche, in der unter dem Einfluß der beginnenden Naturwissenschaften und des klassischen Humanismus teils Philosophien des Altertums erneuert, teils halb phantastische, an die Physik der Ionier erinnernde Erweiterungen der neugewonnenen Naturauffassung (Nik. von Cusa, Giordano Bruno, Campanella) versucht wurden. Die philosophische, aus »Liebe zum Wissen« entsprungene Erneuerung der P. wurde infolge des Zweifels an der Geltung des rationalen Wissens bei Bacon, des Zweifels am Wissen überhaupt bei Descartes herbeigeführt. Bacon (1561–1626) setzte dem deduktiven Schlußverfahren (der Aristotelischen Syllogistik) das, übrigens gleichfalls Aristotelische, induktive entgegen, allerdings mit dem wesentlichen Unterschiede, daß er die unvollständige (nur wahrscheinliche) Induktion als ein Wissen gelten ließ. René Descartes (1596–1650) setzte dem absoluten Zweifel die durch die Tatsache des Zweifelns bewährte Tatsache des eignen Denkens entgegen, aus dessen Gewißheit die Gewißheit des eignen Seins unmittelbar folgt (»cogito, ergo sum«). Des erstern Ziel geht dahin, mittels Induktion aus der Erfahrung, des letztern Ziel geht dahin, mittels Deduktion aus dem selbst unmittelbar Gewissen das Ganze des Wissens zu gewinnen. Der Baconsche Empirismus begriff unter Erfahrung sowohl äußere als innere, der seines nächsten Nachfolgers, Hobbes (1588–1679), dagegen nur äußere (Sensualismus), was zur Folge hat, daß das Wissen von Nichtkörperlichem (Immateriellem, Geist) ausgeschlossen und die Nichtexistenz des Immateriellen behauptet wird (Materialismus). Der Cartesianische Rationalismus begriff unter dem unmittelbar Gewissen angeborne Ideen, z. B. die Gottesidee, was zur Folge hat, daß zwar die Existenz der eignen denkenden Substanz, des Geistes, und die der Gottheit gewiß, die Existenz der ausgedehnten Substanz, der Materie, aber ungewiß und nur durch die Existenz Gottes, dessen Wahrhaftigkeit uns nicht kann täuschen wollen, verbürgt ist. Er spaltet die geschaffene Welt in zwei füreinander[798] unzugängliche Hälften (Dualismus), deren Einwirkung auseinander nur durch »göttliche Assistenz« oder (nach Geulincx) »okkasionalistisch« dadurch hergestellt werden kann, daß Gott im Geiste die der körperlichen Bewegung korrespondierende Empfindung oder im Körper die der geistigen Empfindung korrespondierende Bewegung ins Leben ruft. Spinoza (1632–77) setzte diesem Rationalismus die pantheistische Lehre von der all-einen Substanz (Monismus), deren Attribute Materie und Ausdehnung sind, Leibniz (1646–1716) die Lehre von der alleinigen Existenz einfacher, immaterieller Substanzen (Monaden, daher Monadologie), durch welche die ausgedehnte Materie in ein bloßes Scheinwesen (phaenomenon) verwandelt wird, entgegen. Durch die Substanzlehre Spinozas sollte dem Zufall wie der Willkür vorgebeugt, die unter sich identische Ordnung und Reihenfolge der Ideen wie der Dinge als notwendige unendliche Abfolge aus der all-einen Substanz in mathematisch beweisender Methode dargetan und auf diese Weise das Ziel seiner »Ethica«, die Beseitigung aller Affekte, erreicht werden. Durch die Monadenlehre sollte gleichfalls dem Zufall und der Willkür vorgebeugt, die beiden scheinbar entgegengesetzten Reiche der wirkenden (blinden) und Zweck- (bewußten) Ursachen. der Natur und der »Gnade«, als identisch dargetan, die Welt, als von Anbeginn her harmonisch organisiertes Geisterreich (prästabilierte Harmonie) unter der Herrschaft des größten und besten Monarchen, als die, nicht mangellose, aber unter allen überhaupt möglichen, beste Welt erwiesen und dadurch die Klage über das Übel und die Unvollkommenheit derselben für immer beseitigt werden (»Théodicée«). Diesem gesamten Rationalismus, der aus evidenten angebornen Ideen, insbes. der Gottesidee, folgerte, setzte der Fortsetzer Bacons, Locke (1632–1704), die Ansicht entgegen, daß die Idee Gottes nicht angeboren, die Gesamtheit unsrer Ideen, durch äußern (sensation) und durch innern Sinn (reflection), erworben und der Inhalt der Empfindung mit dem des Empfundenen keineswegs notwendig identisch, also sogar unsre Sinneserfahrung nichts weniger als untrüglich sei. Dieser skeptische Wink, daß auch das empirische Wissen teilweise kein Wissen sei, wurde von Berkeley (1684–1753) dahin gedeutet, daß all unser Wissen von einer Körperwelt Scheinwissen (empirischer Idealismus), von Hume (1711–76) dahin erweitert, daß mit Ausnahme der analytischen Urteile, wie es die mathematischen seien, kein sicheres Urteil möglich sei und die Voraussetzung aller Erfahrung, das Verhältnis von Ursache und Wirkung, auf bloßer durch Zeitfolge gewisser Erscheinungen hervorgebrachter Gewöhnung beruhe.

Diese äußerste Konsequenz des Skeptizismus, die dem Empirismus und dessen in Frankreich unter den Enzyklopädisten herrschend gewordenen Absenkern, dem Sensualismus (Condillac, 1715–80) und Materialismus (Holbach, Lamettrie), wissenschaftlich ein Ende machte, weckte den »Pförtner« der neuern deutschen P. aus seinem »dogmatischen Schlummer«. Der Leibnizsche optimistische Rationalismus war von dessen Nachfolger Chr. Wolff (1679–1754) zu einem weitläufigen System verarbeitet, aber zugleich durch die inkonsequente Aufnahme der äußern Erfahrung als Wissensquelle in einen halben Empirismus verwandelt worden, wie er der dilettantischen Weise der Popular- und Aufklärungsphilosophie in Deutschland entsprach. Erst Kant (1724–1804) sah ein, daß fortan allen Erkenntnisversuchen die transzendental-kritische Frage nach der Tragweite des Erkenntnisvermögens vorausgehen und zu dem Ende das vor aller Erfahrung, a priori, in ihm enthaltene, rationale Wissen von dem durch Erfahrung, a posteriori, erworbenen, dem empirischen, gesondert werden müsse. Kants »Kritik der reinen Vernunft« hat durch den versuchten Nachweis, daß von den sogen. übersinnlichen Gegenständen (Gott, Welt, Seele), die das Hauptthema der Metaphysik des Rationalismus bildeten, kein Wissen möglich sei, ein negatives, durch den Erweis dagegen, daß mittels der apriorischen Elemente des Erkenntnisvermögens von den sinnlichen Gegenständen (Erscheinungen) eine allgemeine Erfahrung möglich sei, ein positives Ergebnis geliefert. In bezug auf die letztere unterschied Kant ein subjektives, aus dem Subjekt, und objektives, aus dem Objekt der Erfahrung, dem »Ding an sich«, stammendes Element, wodurch er den Anlaß zu der Spaltung seiner Nachfolger in eine idealistische und realistische Richtung gegeben hat. Jene wurde von J. G. Fichte (1762–1814), der das »Ding an sich« als eine Inkonsequenz beseitigte, diese von J. F. Herbart (1776–1841), der ihm nicht bloß den realen Anstoß zur Empfindung, sondern auch zu den von ihm wieder als objektiv reklamierten Formen des Raumes und der Zeit zuschrieb, in direkter Fortführung der von Kant gegebenen Anregung eröffnet, während F. H. Jacobi (1743–1819) mittels des (angeblich) untrüglichen Gefühls den Rückweg zu dem von Kant ausgeschlossenen Übersinnlichen suchte. Nach der Beseitigung des Dinges an sich blieb auf der Seite des Idealismus das transzendentale Subjekt allein übrig; nach der Beseitigung der Idealität der reinen Anschauungsformen (Raum und Zeit) stand auf der Seite des Realismus dem Subjekt eine dem Sein und der Form nach objektive Welt gegenüber. Der Inhalt seines Bewußtseins konnte dem erstern nicht gegeben, sondern mußte von diesem gemacht werden; letzterm wird seine Erfahrung nicht (wie bei Kant) nur dem Stoff nach als unverbundene, sondern dem Stoff und der Form nach als verbundene Empfindung gegeben. Die Aufgabe des Idealismus besteht darin, die Erfahrung (ohne Anstoß von außen) aus sich zu produzieren; die des Realismus darin, die ihm (von außen) gegebene Erfahrung, wenn sie Undenkbares enthält, nach den Anforderungen der Logik zu rektifizieren. Die Produktion aller möglichen Erfahrung a priori (mit Ausschluß der Erfahrung) ward die Sisyphusarbeit des Idealismus. Die Wissenschaftslehre Fichtes konstruierte den Inhalt des Selbstbewußtseins, die Naturphilosophie Schellings (1775–1854) den des unbewußten Seins, der Natur, a priori. Des letztern transzendentaler Idealismus konstruierte den Inhalt des absoluten Seins als bewußtlosen, Naturgeschichte, und bewußten, Weltgeschichte, an deren Ende »Gott sein wird«. Schellings Identitätsphilosophie versuchte nach dem Beispiel Spinozas Natur und Geist als die identischen Seiten des Einen Absoluten darzustellen und den Monismus der Substanz mit der Platonischen Ideenlehre zu verschmelzen. Hegel (1770–1831) glaubte nicht nur mittels der von ihm so genannten dialektischen Methode den Inhalt der reinen Vernunft, die das einzige wahrhaft Wirkliche und das einzige Wissen ist, erschöpft und den Lieblingswunsch Kants, ein »Inventarium der reinen Vernunft«, durch die Reihe seiner Kategorien zur Erfüllung gebracht zu haben, sondern er wandte diese Methode auf die Vernunft als logische Substanz selbst an, um sie durch Selbstentäußerung in Natur und durch Selbstzurücknahme in absoluten Geist zu verwandeln, »die Substanz zum Subjekt zu erheben« (Panlogismus). Bald wurde[799] durch die inzwischen erstarkten Erfahrungswissenschaften gegen den Apriorismus, der sie entbehren zu können wähnte, ein berechtigtes Mißtrauen, von seiten der Fromm- wie der Freigesinnten gegen den Optimismus, der alles »Wirkliche« vernünftig fand, eine nicht grundlose Opposition laut. Jene setzten dem Rationalismus, der nur den Begriff, das Allgemeine, für Wissen gelten läßt, den Empirismus entgegen, der nur in der Anschauung, der Einzelwahrnehmung, Wahrheit findet. Von diesen wiesen die Frommen auf die Existenz der Sünde und des Bösen, die Freigeister auf die des Dummen und Widervernünftigen in der Welt hin. Der Materialismus stellte dem Rationalismus die äußere, der Pietismus die innere Erfahrung entgegen; Baaders (1763–1835) Theosophie und Schellings positive P. machten sich zu Verteidigern der Sündhaftigkeit, Schopenhauers (1788–1860) Pessimismus zum Anwalte der Schlechtigkeit der tatsächlichen Welt. Letzterer hatte neben dem Materialismus das große Wort eine Zeitlang gewonnen und durch seine schriftstellerische Originalität über den unvermittelten Widerspruch zwischen der »Welt als Vorstellung« (purer Idealismus) und »Welt als Wille« (naiver Realismus) hinweggetäuscht. Neben ihm hat sich in Frankreich der alles Wissen von Immateriellem ausschließende Sensualismus in der »positiven« P. Comtes (1798–1857), der auch die Psychologie in »Biologie« und »Phrenologie« ausgehen läßt, in England der Empirismus Lockes in der »induktiven« P. John Stuart Mills (1806–73) geltend gemacht, während in Deutschland das Studium der Physiologie der Sinnesorgane hervorragende Naturforscher (Helmholtz, Zöllner) zu einem dem Kantschen verwandten kritischen Idealismus zurückgeführt hat. Nach ihm hat in Deutschland Eduard v. Hartmann durch seine (an Schellings Naturphilosophie mahnende und an dessen »positive« P. sich anschließende) »P. des Unbewußten«, welch letzteres Hegels »Idee« und Schopenhauers »Willen« in sich vereinigt, einen mystisch-pantheistischen, Lotze in einer eigenartigen Verbindung Spinozistischer und Leibnizischer Elemente einen universell-spiritualistischen Dogmatismus wiedererweckt, dagegen F. A. Lange (1828–75), auf Kant zurück- und von diesem fortschreitend, einen erkenntnistheoretischen Kritizismus aufgestellt, der jeden Versuch einer idealistischen wie realistischen Metaphysik (mit Kant) für »Dichtung«, zugleich aber diese selbst, für »die schönste und freieste«, vom ästhetischidealen Gesichtspunkt aus unentbehrliche Dichtung des Menschengeistes erklärt. Gleichzeitig machte sich in Frankreich dem Materialismus und Positivismus gegenüber eine durch die Schule Maine de Birans und des von Schelling und Hegel befruchteten V. Cousin (1792–1867) genährte idealistische Reaktion im Platonischen sowie neuerdings eine Hinneigung zur Metaphysik, in England dem Materialismus und Empirismus, namentlich auch dem vom Darwinismus stark beeinflußten Evolutionismus Spencers gegenüber eine solche durch Th. Hill Green u.a. im deutsch-idealistischen Geist geltend. Im allgemeinen läßt sich sagen, daß, nachdem die P. aus Mangel eines herrschenden Systems längere Zeit mehr geschichtlich behandelt worden ist, für sie auf Grund des kaum übersehbaren empirischen Materials, das der kritischen Sichtung und systematischen Bearbeitung dringend bedarf, und des Kantschen Kritizismus eine Zeit der Erneuerung in Aussicht steht oder vielmehr schon angebrochen ist. In Deutschland, wo allerdings der Positivismus auch seine Vertreter hat, zeigt sich dies in der gegenwärtigen philosophischen Bewegung, in der, abgesehen von den erwähnten Grundlagen, die Richtung nach einem mit Willensmetaphysik und Evolutionismus verbundenen idealistischen Monismus zu erkennen ist, der einesteils als Identitätsphilosophie an Spinoza, andernteils an Fichte stark erinnert. Hier ist namentlich Wundt als Philosoph von umfassendstem Wissen und konstruktiver Kraft zu erwähnen. Auch der Naturphilosophie wendet sich neuerdings das philosophische Denken wieder zu, wie sich namentlich in Ostwalds »Energetik«, Haeckels »Monismus« und Machs erkenntnistheoretischen Untersuchungen zeigt. Näheres in den Abschnitten über P. in den Artikeln: Deutsche, Englische, Französische und Italienische Literatur. – Die Bildnisse einiger hervorragender deutscher Philosophen zeigen beifolgende Tafeln.

Vgl. über die Geschichte der P. außer den ältern Werken von Brucker, Buhle, Degérando, Tennemann besonders: Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der P. (2. Aufl., Berl. 1840–44, 3 Bde.); verschiedene Werke von V. Cousin (s. d.); Ritter, Geschichte der P. (Hamb. 1836–53, 12 Bde.); Überweg, Grundriß der Geschichte der P., neu bearbeitet von Heinze (4 Bde.; 1. Bd., 9. Aufl., Berl. 1903, 2. Bd., 9. Aufl. 1905; 3. Bd., 9. Aufl. 1901; 4. Bd., 10. Aufl. 1906); Erdmann, Grundriß der Geschichte der P. (4. Aufl., hrsg. von Benno Erdmann, das. 1895–96, 2 Bde.); Lewes, History of philosophy (5. Aufl., Lond. 1878; deutsch, 2. Aufl., Berl. 1873-?5, 2 Bde.); Zeller, Die P. der Griechen (4. Aufl., Leipz. 1876 bis 1881, 3 Bde.; Bd. 1 in 5. Aufl. 1891; »Grundriß«, 6. Aufl. 1901) und Geschichte der deutschen P. seit Leibniz (2. Aufl., Münch. 1872); Dühring, Kritische Geschichte der P. (4. Aufl., Leipz. 1894); Windelband, Lehrbuch der Geschichte der P. (3. Aufl., Tübing. 1903), Geschichte der alten P. (2. Aufl., Münch. 1894) und Geschichte der neuern P. (3. Aufl., Leipz. 1903, 2 Bde.); Falckenberg, Geschichte der neuern P. (5. Aufl., das. 1905); Bergmann, Geschichte der P. (Berl. 1892–93, 2 Bde.); Vorländer, Geschichte der P. (Leipz. 1903, 2 Bde.); Siebert, Geschichte der neuern deutschen P. seit Hegel (2. Aufl., Götting. 1903).

In sachlicher Hinsicht: Wundt, Einleitung in die P. (4. Aufl., Leipz. 1906); Paulsen, Einleitung in die P. (16. Aufl., Berl. 1906); Jerusalem, Einleitung in die P. (3. Aufl., Wien 1906); Riehl, Über Begriff und Form der P. (Leipz. 1872); Bender, P., Metaphysik und Einzelforschung (das. 1897); Liebmann, Zur Analysis der Wirklichkeit, eine Erörterung der Grundprobleme der P. (3. Aufl., Straßb. 1900); Wundt, System der P. (2. Aufl., Leipz. 1897); populär: Külpe, Die P. der Gegenwart in Deutschland (3. Aufl., das. 1905); Busse, Die Weltanschauungen der großen Philosophen der Neuzeit (2. Aufl., das. 1905); Gille, Philosophisches Lesebuch in systematischer Anordnung (Halle 1904), und Schulte-Tigges, Philosophische Propädeutik auf naturwissenschaftlicher Grundlage (2. Aufl., Berl. 1904); das biographische Sammelwerk: »Frommanns Klassiker der P.« (hrsg. von Falckenberg, Stuttg. 1896 ff.). Lexika: Franck, Dictionnaire des sciences philosophiques (3. Aufl., Par. 1885); Noack, Philosophie-geschichtliches Lexikon (Leipz. 1878); Baldwin, Dictionary of philosophy and psychology (Lond. 1901 bis 1906, 3 Bde.); Kirchner, Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe (4. Aufl. von Michaelis, Leipz. 1903, populär); Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe (2. Aufl., Berl. 1904).[800]

Zeitschriften: »Zeitschrift für P. und philosophische Kritik« (hrsg. von Busse, Bonn, Tübing. u. Leipz. 1837 ff.); »Archiv für P.« (in 2 Abteilungen: für Geschichte der P. und für systematische P.), herausgegeben von Stein (Berl. 1894 ff.); »Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche P. und Soziologie« (hrsg. von Barth, Leipz. 1876 ff.); »Philosophische Wochenschrift und Literaturzeitung« (hrsg. von Renner, das. 1906); »Mind« (hrsg. von Stout, Lond.); »Revue philosophique de la France et de l'Étranger« (hrsg. von Ribot, Par. 1875 ff.) und »The Monist« (hrsg. von Carus, Chicago 1890 ff.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 15. Leipzig 1908, S. 795-801.
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