Die Völkerwanderung

[341] Die Völkerwanderung ist derjenige merkwürdige Zeitpunckt der Weltgeschichte, in welchem die Völker des westlichen Europens, besonders die Deutschen Völker, ihre bisherigen Wohnsitze verließen, in das abendländische Römische Reich eindrangen, und dadurch sowohl almählig dessen gänzliche Auflösung bewirkten, als auch zu den meisten noch bestehenden Europäischen Staaten den ersten Grund legten.

Deutschland war in den ältesten Zeiten theils größer, theils kleiner, als jetzt, indem es gegen Mitternacht, weil Dännemark, Norwegen und Schweden dazu gehörte, bis an die See, gegen Morgen bis an die Weichsel, gegen Mittag bis an die Donau, gegen Abend bis an den Rhein ging; jedoch hatten sich auch jenseits des Rheins, der Donau und der Weichsel Deutsche Völker niedergelassen. Die Deutschen bestanden anfangs aus verschiedenen großen Stämmen, die sich nach und nach zu Völkerschaften bildeten. Sie waren groß und stark, abgehärtet und kriegerisch, und geriethen daher schon zeitig, und länger als hundert Jahr vor Christi Geburt, mit den Römern in schwere Kriege. Zu den Zeiten Julius Cäsars kamen besonders [341] die an dem Rhein wohnenden Nationen unter ihrem Feldherrn oder König Ariovistus (wahrscheinlich Ernst, oder Ehrenvest) über den Rhein, um sich in Gallien oder dem heutigen Frankreich auszubreiten; allein Cäsar trieb sie wieder über den Rhein zurück. Kaiser August machte sogar noch Eroberungen über dem Rhein, und bedeckte den Rhein und die Donau mit seinen Legionen, litt aber eine entscheidende Niederlage durch den Arminius (s. dies. Art. ingl. d Art. Varus). Von jetzt an suchten die Römer an der Donau mehr vertheidigungsweise zu verfahren, nahmen, wie sie schon längst gethan, doch jetzt in größerer Anzahl, Deutsche in Sold, so wie sie auch immerfort die Deutschen Völker gegen einander zu reitzen suchten, um von ihnen nicht angegriffen zu werden. Die Deutschen waren dazu, als Freunde des Krieges, ohnehin geneigt. Sie versuchten zwar noch immer, von Zeit zu Zeit, über den Rhein zu gehen, und wagten Einfälle in Frankreich und Italien, wurden aber immer von den Römern und ihren gegen sie selbst gemietheten Landsleuten zurückgeschlagen. Allein seit dem Jahre 375 singen die Hunnen (s. dies. Art.) an, gegen Europa vorzudringen, und drängten die Gothen (s. dies. Art.) und andere Deutsche Völker aus ihren Wohnsitzen. Jetzt war das in seinem Innern so sehr verfallene Römische Reich nicht mehr im Stande, den Einfällen der Deutschen zu widerstehen, besonders da die Theilung des Reichs, die Theodos der Große (s. dies. Art.) vornahm, dem Reiche sehr verderblich wurde (s. Th. IV. S. 316.). Zwar hielt seines Sohnes Honorius Minister, Stilicho (s. dies. Art.), der selbst ein Deutscher und tapferer Soldat war, seine Landsleute noch einige Zeit im Zaume; allein da ihn Honorius im Jahr 408 ermorden ließ, waren sie nicht länger aufzuhalten: und von jetzt an fing die so genannte Völkerwanderung an. Man kann die Deutschen Nationen, die jetzt ihre Sitze veränderten, am besten in zwei Classen eintheilen: 1 stens in solche, die in die eigentlichen Römischen Länder eindrangen, und zum Theil neue Reiche stifteten, und 2tens in solche, die sich in dem eigentlichen Deutschlande ausbreiteten, und, längere oder kürzere Zeit hindurch, sich als besondere Völker erhielten.

[342] Zu denen der I. Classe gehören besonders: 1) die Vandalen, 2) die Alanen, 3) die Sueven. Die Alanen, anfangs in dem Mecklenburgischen, nebst einem Theile der Sueven oder Schwaben, (welche Schwaben bis Brandenburg inne hatten) gingen mit den Vandalen zuerst Einen Weg (s. den Art. Vandalen): allein sie geriethen unter einander selbst in Streit; die Sueven behielten die Oberhand, wurden aber, nachdem die Vandalen nebst den sehr geschwächten Alanen das Vandalische Reich (s. dies. Art.) gestiftet hatten, von den Westgothen völlig überwunden (s. Spanien, Th. VI. S. 5. 6.) – 4) die Westgothen, 5) die Ostgothen, (s. Gothen) 6) die Burgunder, ein kleines Volk, das anfangs in Hinterpommern wohnte, kamen 412 in die Pfälzischen Lande, und ließen sich am Rheine nieder, gingen aber endlich über denselben nach Frankreich, wo sie mit Bewilligung der übrigen Deutschen Völker, die sich dort schon festgesetzt hatten, an der Rhone (s. dies. Art.) sich niederließen. Hier stifteten sie ein Königreich, welches Dauphiné, Provence, das Herzogthum Burgund, die Franche Comtè, Savoyen und den größten Theil der Schweiz enthielt, und von der Hauptstadt Arles (Arelate) das Königreich Arelat (regnum Arelatense) hieß, aber erst 436 recht zu Stande kam. Ihm machte der König der Franken, Chlodwich I. im Jahr 500 ein Ende, und verband es mit dem Fränkischen Reiche. 7) die Heruler und Rugier, Gothische Völkerstämme, die in Pommern und Liefland wohnten, und 476 unter ihrem Anführer, Odoaker, das abendländische Römische Kaiserthum vernichteten (s. Odoaker), 8) die Langobarden (s. dies. Art.).

II. Die Völker, die sich im eigentlichen Deutschland ausbreiteten, und wenigstens eine Zeit lang als besondere Völker sich behaupteten, sind:

1) Die Allemannen. Sie wohnten am Ober-Rhein, und um den Main herum, und nahmen, da die Römischen Grenzen durchbrochen waren, ihren Sitz in Oberdeutschland und einem Theile von Graubünden. Mit ihnen vereinigten sich die in Deutschland zurückgebliebenen Sueven, und sie führten nun beide den[343] gemeinschaftlichen Namen: Allemannen und Sueven. Als sie 496 über den Rhein kamen, griff sie Chlodwig I. an, schlug sie bei Tolbiacum (wie man glaubt, bei Zülpich, im ehemahligen Herzogthum Jülich, worauf sie aufhörten, eine eigne Nation zu sein, 2) die Thüringer (s. Thüringen), 3) die Friesen: sie hatten ihren Sitz zwischen dem Rhein und der Ems, und breiteten sich nach und nach bis an die Schelde (s. dies. Art.) aus, 4) die Bojoaren, oder Bavaren, hatten ihren Sitz in Bayern, breiteten sich aber, da die Grenzen der Römer durchbrochen wurden, durch den Oestreichschen Kreis bis Trident und an die Alpen aus, 5) die Sachsen (s. dies. Art.), 6) die Franken. Diese Hauptnation, welche nach und nach alle vorher genannte Völker (mit Ausnahme der Vandalen) unterjochte, war eigentlich nicht ein einzelnes Deutsches Volk, sondern ein Bund von mehrern Volkern, die auch besondere Namen führten, z. B. Chamauer, Bructerer, Catten etc. und einige behaupten, daß wahrscheinlich überhaupt alle Deutsche Völker, die zwischen dem Rheine, der Weser und der Elbe gewohnt, zu ihnen gehört hätten. Sie hießen Franken, d. h. freie Leute, weil sie ihre Freiheit gegen die Römer behaupteten. Man theilte sie vorzüglich in die Salier (s. dies. Art.), und in die Ripuarier, deren Namen man von ihrem Sitze an dem Ufer (ripa) des Rheins ableitet. Sie hatten ihre wirklichen Könige, die man Haarkönige nannte, weil sie und ihre Kinder das Vorrecht hatten, langes Haar zu tragen. Man nennt als den ersten ihrer Könige den Pharamund, und setzt dessen Regierungs-Antritt in das Jahr 420; allein mit mehrerem Rechte muß man an der Existenz dieses Königs zweifeln. Bei dem Völkereinbruch in das Römische Reich gingen die Franken ebenfalls über den Rhein, drangen nach und nach in Frankreich oder das damahlige Gallien ein, und errichteten daselbst ein Konigreich. Sie brachten zuerst dieses Land ganz unter sich. Dieses geschah besonders unter ihrem Könige Chlodoveus, oder Chlodwich (Ludwig) dem Ersten, der 484 zur Regierung kam, und 496 sich zur christlichen Religion bekannte. Er war der erste König, der das Christenthum annahm, und erhielt daher [344] den Beinamen: der allerchristliche und erstgeborne Sohn der Kirche; ein Beiname, den in der Folge alle Könige von Frankreich als einen besondern Titel führten. Seine Nachfolger, besonders unter den Majoren Domus, Pipin von Herstall, Carl Martell, und Pipin dem Kleinen oder Kurzen (s. Pipin), brachten schon alle obgedachte Deutsche Völker unter die Gewalt der Franken; die Sachsen allein waren noch nicht unterjocht. Dieß gelang endlich Carl dem Großen (s. dies. Art.), der Deutschland in einen allgemeinen Staat verwandelte, und die Fränkische Monarchie stiftete, zu welcher Frankreich, Italien und Deutschland bis an die See gehörten. Er wurde zugleich der Stifter eines neuen Fränkischen, oder auch Französischen Regentenstammes. Denn da der erste Regentenstamm, der von dem Stammvater desselben, Merovaeus, der Merovingische hieß, mit Childerich III. den Pipin der Kleine vom Throne stieß, ausstarb, so fing nun Carl die zweite Stammlinie, die Carolingische, Linie an, welche erst 987 mit Ludwig V. dem Faulen, im Mannsstamme ausstarb.

In diejenigen Sitze der Deutschen Völker, die bei diesen Völkerwanderungen nach und nach verlassen wurden, rückten in der Folge Slavische Völker ein (s. Slaven); und so entstand denn in einem großen Theile von Europa eine Revolution, die in der Weltgeschichte die einzige ist, indem bei derselben ganze Nationen einander drängten, und gleichsam eine die andere vor sich hertrieb.

Quelle:
Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 6. Amsterdam 1809, S. 341-345.
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