Die Zeichenkunst

[461] Die Zeichenkunst ist im weitesten Sinne diejenige Kunst, welche sowohl die bloßen äußeren Umrisse körperlicher Gegenstände, als auch das Verhältniß der einzelnen Theile zum Ganzen, durch Licht und Schatten motivirt, auf Flächen darstellt. Die Zeichenkunst (für deren Erfindung sich kein eigentlicher Zeitpunct angeben läßt, und welche sich die Griechen, obgleich fälschlich, zuschreiben) ist eine mit der Mahlerei verschwisterte Kunst: jene stellt die Form der Gegenstände durch Striche und Linien, ohne Rücksicht auf Farbe, dar; diese, die Mahlerei, hat zum Darstellungsmittel die Farben. Zeichnungen sind entweder Linear-Zeichnungen oder Contoure (s. den Art. Umriß), oder ausgeführtere, welche durch Schatten und Licht die Erhöhungen und Vertiefungen anzeigen. Flüchtig entworfene Zeichnungen, z. B. Entwürfe zu größeren Gemählden, nennt man Skizzen. (Die Skizzen großer Meister, in denen sich auch ihr Geist darstellt, werden als Seltenheiten in Sammlungen aufbewahrt.)

Die Schreibmitel, womit Zeichnungen aufgetragen werden, sind: die Bleifeder, Schreibfeder, schwarze Kreide (die Italiänische ist die beste), rother, weißer und andere Stifte, Reißkohle, Silberstift etc. So verschieden diese Schreibmittel sind, so verschieden fallen die Manieren der Zeichnungen aus. Die [461] hauptsächlichsten sind die Strichmanier, die Crayon-Ma nier, die Wischmanier (wobei man sich eines papiernen Wischers, d. i. eines fingerstarken, fest zusammengerollten, zugespitzten, weichen Papiers bedient, um die aufgetragenen Striche zu Flächen zu vertreiben). Eben so verschieden, wie die Stifte, kann auch das Material und die Farbe der Fläche sein, worauf die Zeichnung getragen wird. Statt des weißen Papiers, Pergaments etc. bedient man sich zuweilen farbiger Papiere etc. deren Farbe zur Mitteltinte dient, und worauf die Schatten durch dunkle, die Lichter durch weiße Stifte aufgetragen werden. Im weitern Sinne gehört daher die Kupferstecherkunst und Gravirkunst (s. dies. Art.) überhaupt unter die Zeichenkunst.

Die Zeichenkunst ist übrigens die nothwendige Grundlage der Mahlerei, und wird von ihr vorausgesetzt. Ohne einen hohen Grad von Geschicklichkeit in jener, ist auch eine vorzügliche Vollendung in dieser Kunst nicht zu erreichen. Dagegen kann ein Künstler zu einem hohen Grad der Vortrefflichkeit in der Zeichenkunst – oder der richtigen Darstellung der Formen, als dem wesentlichen Theil des Gemähldes – gelangen, ohne im Colorit vorzügliche Geschicklichkeit zu haben. Noch wichtigere Grundlage ist die Zeichenkunst für die Bildhauerkunst, und alle bildende Künste, die es allein mit Formen, und nicht mit Farben zu thun haben Jedoch dient die Zeichenkunst nicht allein der höhern, bildenden Kunst; sie dient auch den niedern Künsten und Handwerken, deren Ziel nicht das Schone, sondern das Zweckmäßige ist. Kein Tischler, Zimmermann etc. kann ihrer ganz entbehren, sobald er nicht bloß nachahmen, sondern etwas Neues oder Vorzügliches leisten will.

Die Vollkommenheit einer Zeichnung besteht in der Richtigkeit der Formen, sowohl einzelner Gegenstände, als der richtigen Proportion mehrerer zugleich dargestellter Gegenstände gegen einander. Sie setzt daher gute Kenntnisse der Perspective voraus.

In der Darstellung edler und richtiger Formen bleiben die Denkmähler Griechischer Kunst aus dem bessern Zeitalter ewig unerreichbare Muster. Diese schätzbaren Trümmer sind es, aus denen die ganze neue Kunst wieder entstanden ist; und die vortrefflichsten [462] Mahler der neuern Zeit sind es bloß durch das vereinigte Studium der Antique und Natur geworden: dieß gilt nicht bloß von ihrer Darstellung menschlicher Figuren, sondern auch von Werken der Baukunst, selbst für den Geschmack in unwillkührlichen Verzierungen.

Als Anweisungen zu Figuren-Zeichnungen sind das Preißlerische, das von Bartolozzi etc. die vorzüglichsten.

– Durch Richtigkeit der Zeichnungen haben sich besonders Michael Angelo, und durch Schönheit der Formen hauptsächlich Raphael, Guido Reni, und überhaupt die Römische Schule ausgezeichnet; dagegen ermangelt dieses Vorzugs die Niederländische Schule, welche sich aber statt dessen durch glänzendes Colorit hervorthut. Beide Vorzüge, im höchsten Grade vereint, findet man in Correggio.

Zum Schlusse führen wir noch eine der wichtigsten und schönsten Sammlungen von Handzeichnungen großer Meister an, welche (auf 5000 Stück sich belaufend) der Herzog Albert von Sachsen-Teschen zu Wien besitzt, und die, nebst der kostbarsten Kupferstich-Sammlung (über 80,000 Stück stark), immer noch vermehrt werden: über jede derselben ist ein besonderer Director gesetzt.

Quelle:
Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 6. Amsterdam 1809, S. 461-463.
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