Realismus ist

[84] Realismus ist, im Gegensatz des Idealismus, die Lehre, welche annimmt, daß außer unsern Vorstellungen und unabhängig von denselben wirkliche Dinge vorhanden seien. Dieser Lehre, welche das Gefühl für sich hat, steht nicht der Sceptizismus (dessen Wesen im Nichtentscheiden besteht) sondern der Idealismus gegenüber. Dieser läugnet nehmlich nicht nur die Wirklichkeit des Raums, sondern auch das Dasein der von uns im Raume vorgestellten äußern Dinge, und hält geistige Wesen und ihre Thätigkeiten – oder bloß die Letztern für das einzige Wirkliche; es sei nun daß jene Geister-Intelligenzen alle ihre Vorstellungen von dem höchsten Geiste erhalten (wie Malebranche und Berkeley lehrten), oder daß diese geistigen Thätigkeiten alle Vorstellungen als ihre Sphäre, nach nothwendigen und unerklärlichen Gesetzen selbst hervorbringen (nach dem Fichtischen System des transscendentalen Idealism). Das Dasein einer Außenwelt oder wirklicher für sich bestehender Dinge außer unserm Gemüthe wird von dem Realismus auf verschiedene Art erklärt. Die vornehmsten Systeme sind: a) Der Spinozismus. Spinoza nimmt eine einzige Realität oder Substanz an, und glaubt, alle übrige Dinge, die wir Substanzen nennen, seien nur Zustände, Veränderungen und Modificationen, geistige oder materielle Thätigkeiten dieses einzigen allerrealsten Wesens, die er auch wohl Gottheit nennt. Darin hat Spinoza unstreitig Recht, daß wir nie die Dinge selbst, immer Zustände, Veränderungen, Wirkungen derselben, d. h. Ursachen neuer Veränderungen, wahrnehmen. Der Fehler liegt in dem Dogmatismus der Behauptung; denn da der letzte übersinnliche Grund der körperlichen sowohl als der geistigen Erscheinungen uns nie durch Erfahrung bekannt werden kann, so haben wir auch keine Befugniß, weder die Einerleiheit noch die Mannigfaltigkeit jenes letzten Grundes zu behaupten. b) Der Materialismus; er läugnet das Dasein der geistigen Wesen und Kräfte, erklärt die Außenwelt für lauter theilbare Materie oder Körper, und selbst die Vorstellungen, Empfindungen, Neigungen, u. s. w. für Wirkung der Bewegung und Zusammensetzung. c) Der Dualismus nimmt zwei Welten an, die Körperwelt oder Materie, deren Wesen in Ausdehnung und Bewegung, und die Geisterwelt, deren Wesen im Vorstellen, Denken, Empfinden und Begehren bestehe. Diese Verschiedenheit [84] der Wirkungen läßt aber auf die Verschiedenheit des letzten Grundes nur unsicher schließen. d) Die Leibuitzische Monadologie. Leibnitz läßt die ganze Welt aus untheilbaren Einheiten oder geistigen Wesen bestehen, und setzt den Unterschied zwischen dem, was wir Materie, und dem, was wir Geister nennen, bloß darin, daß die Bestandtheile (Monaden) der erstern sich in einem bewußtlosen schlafenden Zustande, die Geister hingegen sich im Stande des Bewußtseins und Wachens befinden. Beide Zustände sind nicht wesentlich, und haben verschiedene Grade. e) Die Kantische Lehre von den Dingen an sich (Noumenen) kann allenfalls nur negativer Realismus heißen. Kant behauptet gegen die Idealisten, wir würden unsers Daseins in der Zeit nicht bewußt werden, wenn nicht den Erscheinungen etwas Wirkliches außer dem vorstellenden Gemüthe zum Grunde läge. Dieses Etwas bezeichnet er inzwischen nur negativ, als etwas von den Bedingungen des Anschauens, von Raum und Zeit Unabhängiges und Unterschiedenes, aber für uns Unerkennbares. Nachdem Kant gezeigt hat, daß wir mit unserm Erkennen und Wissen die Gränzen der Erfahrung nicht überfliegen können und dürfen, sollte wohl von unendlicher Theilbarkeit der Materie, von schlafenden und wachenden Monaden etc. nicht mehr die Rede sein. Aber auch die Unmöglichkeit des Daseins der Dinge an sich, d. h. eines von unsern Vorstellungen unabhängigen und verschiedenen Grundes der Erscheinung, ist nach Kant unerweisbar, so wie auch diese Unmöglichkeit weder von ältern noch von neuern Idealisten erwiesen ist.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 4. Amsterdam 1809, S. 84-85.
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