[95] Redekunst oder Rhetorik. Obgleich der große Redner wie der große Dichter geboren wird, so muß doch Theorie sein Talent entwickeln und bilden helfen; es haben daher schon in den ältern Zeiten, wo der Redner zum Theil eine größere Sphäre hatte, als in den neuern, die größten Meister versucht, Anweisung zur Beredsamkeit zu geben. Worte und Gedanken sind die Elemente der Rede; ein unübersehbares Feld für die Redekunst. Der geringere Zweck, den sie zu erreichen strebt, ist Wohlredenheit, d. i. Wahl der schicklichsten Worte, Wendungen, Bilder, Metaphern, für den Ausdruck starker, rührender, angenehmer, witziger oder erhabener Gedanken. Ein höherer Zweck ist Beredsamkeit. Diese erfordert mehr, nehmlich: a) Wahl der Gedanken. Hier kommt es außer logischer Richtigkeit auf Deutlichkeit, Stärke, Erhabenheit an. b) Schickliche Anordnung und Stellung der Gedanken, d. i. Bündigkeit, Zusammenhang, lebhafte Folge, – stufenmäßige Entwickelung, so, daß einer den andern erleuchtet, erhebt, stärkt. c) Ausdruck. Grammatische Richtigkeit, Schönheit, Wahl der so genannten Figuren, Tropen, sind nicht genug; Wohlklang, Redefall, [95] Fülle und Ründung der Perioden, eine gewisse Gleichheit, Ebenmaß sind noch wesentliche Erfordernisse. d) Vortrag. Zum guten Vortrag gehört ein treues Gedächtniß, Unerschrockenheit und Anstand, Haltung des Körpers, besonders der obern Theile, des Kopfes und der Hände, Biegsamkeit, Reinheit und Volltönigkeit der Stimme, richtige Aussprache und Accentuirung, endlich die Augensprache. – Die alten Griechen und Romer hatten Nednerschulen (z. B. in Athen, Rhodus) und Lehrer der Redekunst, Rhetoren. Einer der berühmtesten war Isokrates in Athen; ein kalter Redekünstler, von dem wir nur noch viele Musterreden haben, hauen es nicht an Kunst und Zierlichkeit, aber an Kraft und Energie und Gehalt fehlt, und in welchen das Ich des Redners zu sichtbar ist. Sein Unterricht war so theuer, daß Demosthenes ihn nicht benutzen konnte; und doch übertraf er alle Schüler des Rhetors. Anweisungen zur Redekunst haben wir in allen Sprachen. In Griechischer: von Aristoteles (Rhetorik 3 Bücher, ein Meisterwerk), von Dionysius aus Halicarnaß und von Demetrius aus Phalerä. Lareinische: von Cicero, dem Auctor ad Herennium, besonders von Quintilian, dem Vater der Rhetorik, aus dem noch jetzt alle Rhetoren schöpfen. Neuere in Lateinischer Sprache: von Melanchthon, Des. Erasmus, Geßner, Ernesti. Französische: von La Motte Vayer, le Gras, von Gibert, Buffier, dem Feinde der Regeln, Maury. In Englischer Sprache: Campbell, H. Blair, Moubaddo, und für die Kanzelberedsamkeit von Prideaur.
Die Deutschen Lehrbücher der Redekunst waren bis auf Gottsched höchst dürftig und elend. Peter Miller, Steinbart, Bahrdt haben bessere geliefert; noch vieler neuern besondern Anweisungen zur geistlichen Beredsamkeit nicht zu gedenken.