[368] Hypatia, eine der gelehrtesten Frauen aller Zeiten, welche den Beweis liefert, daß weiblichem Forschungsgeiste und weiblicher Ausdauer selbst die Tiefen der ernstesten Wissenschaften, des speculativen Studiums, nicht verschlossen bleiben und daß der weibliche Geist, da wo ihn der Beruf nicht für das stille Walten des Familienkreises in Anspruch nimmt, genug Energie besitzt, um die gewohnte Schranke zu überspringen und in dem Gebiete der männlichen Geistesthätigkeit Großes zu leisten. Sie war die Tochter des Geometers Theon aus Alexandrien, Schülerin des Prokles und Gemahlin des Philosophen Isidoros. Gleichberühmt in den mathematischen und philosophischen Wissenschaften lehrte sie in der damals üblichen Philosophentracht zu Alexandria Weltweisheit. Ihr Haus war der Sammelplatz nicht nur der angesehensten, sondern auch der gelehrtesten Männer ihrer Zeit. Von ihr rühren astronomische Tabellen her und sie commentirte mit eben so viel Scharfsinn als Fleiß die Schriftsteller Apollonios und Diophantos. Ihre Zeitgenossen sprachen mit Bewunderung von ihr, und die Geschichte hat ihren Namen ehrenvoll aufgezeichnet. Als der Patriarch von Alexandrien 415 n. Chr. die Juden vertreiben wollte, welche jedoch der Statthalter Orestes, Hypatia's Freund und Gönner beschützte, fiel sie in einem blutigen Kampfe, in welchen sie die Gefühle der Menschlichkeit trieben, in [368] noch jugendlichem Alter. Sie wurde auf grausame Weise ermordet und verbrannt. Ihre Schriften sind verloren gegangen, doch weiß man, daß der Bischof und Kirchenlehrer Synesius ihr Schüler war. Von ihm haben sich noch einige Briefe an seine gefeierte Lehrerin erhalten. Die neuere Geschichte hat wenig Frauen aufzuweisen, welche sich gleich Hypatia in den strengen speculativen Wissenschaften ausgezeichnet haben.