[120] Ketzer. Mit diesem Worte bezeichnet man einen Menschen, welcher in seinen Ansichten und religiösen Meinungen von den Lehrsätzen, Gebräuchen und Glaubensmeinungen abweicht, welche die Kirche als die allein wahren aufgestellt hat. Die Kirche strebte nämlich schon in den frühesten Zeiten nach Einheit in den Angelegenheiten des Glaubens. Dadurch aber gerieth sie in einen hartnäckigen Kampf mit den Menschen, welche sich ein so theueres Eigenthum, als die Freiheit der Meinungen und Ansichten auch in religiöser Hinsicht ist, nicht freiwillig entreißen lassen wollten. Ja, um jene, für unbedingt nothwendig erachtete Einheit zu bewahren, nahm die Kirche, oder vielmehr die Behörden derselben, [120] welche die Macht an sich zu bringen gewußt hatten, ihre Zuflucht zu Strafen. So lange das Christenthum nur geduldet und noch nicht zur Staatsreligion erhoben worden war, strafte sie Andersdenkende mit der Ausschließung aus der Kirchengemeinschaft. Aber seit Constantin d. Gr. wurden diejenigen, deren Ansichten von denen abwichen, welche die Kirche aufgestellt und angenommen hatte, außer dem Kirchenbann, auch mit Landesverweisung, mit dem Verbrennen ihrer Schriften und dem Verlust ihrer bürgerlichen Rechte bedroht. Ja, selbst mit dem Tode wurde das standhafte Beharren auf abweichenden Meinungen bestraft. Ehe es eine Inquisition gab, konnten die Bischöfe, denen die Ketzergerichte anheimgestellt waren, nur im Verband mit der weltlichen Macht die Ketzer mit dem Tode bestrafen. Späterhin aber wurden fast in allen christlichen Ländern Ketzermeister angestellt, welche mit unumschränkter Vollmacht ausgerüstet waren. Diese setzten durch Hinrichtungen, sowie durch das Einziehen der Güter Aller, welche ihrem Urtheile verfallen waren, ganze Länder in Furcht und Schrecken. Selbst noch zu Anfange des vorigen Jahrhunderts gab es solche Ketzergerichte in Spanien, Frankreich und Italien. Auch in der protestantischen Kirche wußte sich dieser Geist der Verfolgung und der Herrschsucht in Glaubensangelegenheiten zuweilen Eingang zu verschaffen. Denn die in Brandenburg und Sachsen entstandenen Streitigkeiten über die Concordienformel und über den Kryptocalvinismus waren offenbar nichts Anderes, als Verketzerungsversuche. Den Namen Ketzer leitet man von einer religiösen Sekte, den Katharern oder Gazarern ab, welche im 11. Jahrhundert aus der Gazarei (Krim) nach Westen vordrangen. Eben so viel Wahrscheinlichkeit hat die Ableitung von dem lateinischen Worte coecus (blind). Denn die Kirche erklärte diejenigen, welche das ihnen gebotene Heil nicht erkennen und erfassen mochten, für moralisch blind, und nannte sie Ketzer. Die fortschreitende Zeit hat jene Gerichte aufgehoben. Verschwunden ist der Blutbann, gebrochen sind die Fesseln starrer Meinungen. Die Menschen[121] selbst haben das gethan, denn freier wurde ihr Geist und klarer ihr Blick in das Christenthum. Was sie einst zur Ehre der Religion als Schutzwehr aufstellten, das ließen sie zur Ehre derselben wieder fallen, als sie sahen, daß die rechten Waffen im Geist liegen und in der Wahrheit.
t