Anamnese

[34] Anamnese (anamnêsis): Erinnerung. Als solche betrachtete PLATO die Erkenntnis des Allgemeinen, Seienden, Typischen, Idealen. Im Zustande der Präexistenz (s. d.) hat die Seele die Ideen (s. d.) unmittelbar geschaut, und wenn sie nun die Dinge wahrnimmt und denkt, so erinnert sie sieh daran, d.h. sie erkennt vermittelst angeborener Spuren der einstigen Schauung, vermittelst einer Art[34] apriorischer Maßstäbe, die sie an die Erfahrung heranbringt sowohl im Logischen, Theoretischen als auch im Ethischen und Ästhetischen. Touto de estin anamnêsis ekeinôn, ha pot' eiden hêmôn hê psychê symporeutheisa theô kai hyperidousa ha nyn einai phamen kai anakypsasa eis to on ontôs (Phaedo 249 C). Hêmin hê mathêsis ouk allo ti ê anamnêsis tynchanei ousa, kai kata touton anankê pou hêmas en proterô tini chronô memathêkenai ha nyn anamimnêskometha (Phaedo 72 E). Oukoun ei men labontes autên pro tou genesthai echontes egenometha,êpistametha kai prin genesthai kai euthys genomenoi ou monon to ison kai to meizon kai to elaton, alla kai xympanta ta toiauta (l.c. 75 C, Meno 86 A; vgl. WINDELBAND, Gesch. d. Phil. S. 92). Als Bewußtwerden der angeborenen Ideen (physikai ennoiai) kennt eine Anamnese NEMESIUS (peri physeôs 13, 203 f.). Im Sinne Platos lehrt auch BOËTHIUS (Cons. phil. V), ferner M. FICINUS (Theol. Plat. XII, 1), N. TAURELLUS (Phil. triumph. 1, p. 62). Ein Gegner der Lehre ist u. a. ARNOBIUS (Adv. Gent. II, 24). HILLEBRAND betrachtet das »freie ideelle Denken des Übersinnlichen« als eine Art Wiedererinnern (Phil. d. Geist. I, 91). Eine Art Anamnese auf biologisch (phylogenetisch) – erkenntnistheoretischer Grundlage (als Bewußtwerden latenter Vererbungen) wird vielfach angenommen, so auch von L. NOIRÉ (Einl. u. Begr. e. mon. Erk. S. 144), L. GEIGER (Umf. u. Qu. d. erf. Erk. S. 16), SIMMEL (Probl. d. Gesch. S. 25 f.) u. a.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 34-35.
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