Empirismus

[263] Empirismus (von empeiria): Erfahrungsstandpunkt. Psychologisch bedeutet Empirismus die Ableitung aller Bewußtseinsinhalte aus psychischen Elementen und deren Zusammensetzung; so z.B. gibt es eine empiristische Raum- und Zeittheorie (s. d.). Empirist ist in diesem Sinne jeder, der (in der Psychologie und Erkenntnistheorie) alle Begriffe (Erkenntnisinhalte) auf Erfahrung (s. d.) zurückführt, der nichts Angeborenes (s. d.), Apriorisches (s. d.) annimmt, sondern glaubt, daß alle Begriffe Abstractionen von concreten Erlebnissen, Vorkommnissen sind. Im logischen Sinne bedeutet Empirismus die Wertung der Erfahrung als einzige Quelle alles Erkennens; es gibt danach entweder keine andere als empirische Erkenntnis, oder »wahre« Erkenntnis ist nur da zu finden, wo Erfahrung (und Induction aus Erfahrungen) gegeben ist. Der Grundsatz des Empirismus lautet: nichts ist im Denken (in unseren Begriffen), was nicht aus der Erfahrung stammt. Wird die Erfahrung als sinnliche Wahrnehmung aufgefaßt, dann gestaltet sich der Empirismus zum Sensualismus (s. d.). Der dogmatische Empirismus setzt die empirische Grundlage alles Erkennens, den unbedingten, ausschließlichen Wert der Erfahrung ohne weiteres voraus; der kritische Empirismus kommt zu seinen Ergebnissen erst nach Prüfung des Erkenntnisinhaltes und der Erkenntnismittel. Gegensatz zum psychologischen Empirismus ist der Nativismus (s. d.), zum logischen der Rationalismus (s. d.) und der Apriorismus (s. d.). In der Gegenwart besteht vielfach eine Synthese von Empirismus und Apriorismus, mit Überwiegen bald des einen, bald des anderen Bestandteiles, so daß es oft schwer fällt, die Lehre eines Philosophen unter einen der Begriffe zu subsumieren. Vielleicht ließe sich der vermittelnde Standpunkt als kriticistischer Empirismus oder als Kriticismus (s. d.) im weiteren Sinne bezeichnen.

Gegenüber den rationalistischen Systemen vorsokratischer Philosophen, (mit Ausnahme der Kyrenaïker) sowie denen PLATOS und ARISTOTELES'[263] haben die Erkenntnislehren der Stoiker und Epikureer einen mehr empiristischen Charakter. Im Mittelalter neigen dem Empirismus teilweise zu WILHELM VON OCCAM, ROGER BACO, zur Zeit der Reneissance L. VIVES, NIZOLIUS, GALILEI, CAMPANELLA, L. DA VINCI. Den neueren Empirismus begründet F. BACON. Bei HOBBES, reiner bei LOCKE ist er zu finden, auch bei BERKELEY, in »skeptischer« Färbung bei HUME, sensualistisch gestaltet bei CONDILLAC u. a. KANT überwindet die Einseitigkeiten des Empirismus und des Rationalismus durch seinen Kriticismus. Einen »rationellen Empirismus« vertritt GOETHE (vgl. SIEBECK, Goethe als Denker S. 23). Einen »inductiven« Empirismus begründet J. ST. MILL. Einen kritischen (oder kriticistischen) Empirismus lehren BENEKE, ÜBERWEG, COMTE, O. F. GRUPPE, C. W. OPZOOMER, E. DÜHRING, C. GÖRING, LAAS, auch noch RIEHL, WUNDT, NIETZSCHE, H. SPENCER, O. CASPARI (Zusammenh. d. Dinge S. 192), HARMS, F. VON BÄRENBACH (Grundleg. d. krit. Philos. I, 1873), E. V. HARTMANN. Eine Theorie der »reinen Erfahrung« gibt R. AVENARIUS, ähnlich lehren KIRCHHOFF, HERTZ, E. MACH, R. WAHLE und H. CORNELIUS. Dieser unterscheidet den »consequenten« oder »erkenntnistheoretischen« vom »naturalistischen Scheinempirismus« (Einl. in d. Philos. S. 335). Wahrer Empirismus ist die Art des wissenschaftlichen Betriebes, welche die Erfahrung, von allen dogmatischen Voraussetzungen geläutert, begrifflich für die Erklärung der Tatsachen verarbeitet (l.c. S. 86). Vgl. Erfahrung, Erklärung, Raum Zeit, Kategorien.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 263-264.
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