Cohen, Hermann

[97] Cohen, Hermann, geb. 1842 in Coswig (Anhalt), Prof. in Marburg.

C. ist das (von Plato, aber auch von Fichte und Hegel beeinflußte) Haupt des Neukantianismus rationalistischer Richtung, der seine Anschauungen allmählich zu einem über Kant hinausgehenden »methodischen Idealismus« entwickelt hat. Nachdem C. in seinem Kant-Buche die rein logische (nicht psychologische) Bedeutung des A priori und die Einheit des Bewußtseins betont, sowie dargelegt hatte, daß es sich bei Kant um eine Theorie der Erfahrung handle, gibt er im ersten Teile seines Systems eine objektive, nicht von den Vorgängen im Einzelbewußtsein ausgehende, antipsychologische, transzendentale Logik, die zugleich Erkenntnislehre und Ontologie ist, da das Sein nichts anderes ist als Denken (bezw. Gedachtsein). Die Logik (bezw. der »methodische Idealismus«) geht von den »sachlichen Werten der Wissenschaft, den reinen Erkenntnissen« aus, nimmt nichts als gegeben an, was nicht durch das Denken als solches bestimmt ist, fängt also nicht (wie Kant) bei der Sinnlichkeit, sondern mit dem Denken an.. Die Logik ist »Logik des Ursprungs«, indem sie aus dein im Denken gesetzten Infinitesimalen als dem Ursprung aller Realität die reinen Erkenntnisse ableitet. Der Ursprung ist das »Denkgesetz der Denkgesetze«. Die Logik muß »Logik der mathematischen Naturwissenschaft« sein, die Begriffe als Erzeugnisse des reinen Denkens begreifen. Sie ist die[97] »Logik des Idealismus«. Die Idee ist ihr die »Hypothesis«, die Grundlegung alles Erkennens und Seins, das wahrhafte Sein, das zugleich Denkinhalt ist; denn im Sein darf kein Problem stecken, »für dessen Lösung nicht im Denken die Anlage zu entwerfen wäre«. Indem das Denken die »Grundlagen des Seins« setzt und sich selbst zur Rechenschaft zieht, wird die Logik »Dialektik«. »Nur das Denken kann erzeugen, was als Sem gelten darf«, es muß den »Ursprung« alles Inhalts in sich selbst legen und finden. Der Inhalt des Denkens ist nicht der Stoff des Bewußtseins, sondern »Einheit«. »Die Einheit des Urteils erzeugt die Einheit des Gegenstandes in der Einheit der Erkenntnis.« Das Bewußtsein ist eine Kategorie; der Geist ist Bewußtsein sofern er Wissenschaft erzeugt. Die Einheit des Bewußtseins, der »transzendentalen Apperzeption« ist nichts Subjektives, sondern die objektive »Einheit des wissenschaftlichen Bewußtseins«, sie ist den Kategorien nicht übergeordnet, sondern entfaltet sich im System der Kategorien selbst.

Die Kategorien sind nicht angeborene Begriffe oder der Erfahrung vorangehende psychische Funktionen des Subjekts, sondern sie sind Produkte des Urteils und zugleich die Grundlagen, Bedingungen und Voraussetzungen der Wissenschaft. Sie sind »die Grundformen, die Grundrichtungen, die Grundzüge, in denen das Urteil sich vollzieht«. »Die Kategorie ist das Ziel des Urteils, und das Urteil ist der Weg zur Kategorie.« Die Logik ist eine »Logik des Urteils«. Das Urteil »erzeugt die sachlichen Grundlagen, als die Voraussetzungen der Wissenschaft«. Das Urteil tritt in vier Klassen auf: Urteile der Denkgesetze (Ursprung, Identität, Widerspruch), der Mathematik (Realität, Mehrheit, Allheit), der mathematischen Naturwissenschaft (Substanz, Gesetz, Begriff), der Methodik (Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit). Eine Urteilsart kann also eine Mehrheit von Kategorien enthalten und eine Kategorie kann zugleich in mehreren Urteilen enthalten sein. Die Kausalität beruht nicht auf Sukzession, sondern auf »Erhaltung« eines Vorganges im ändern. Die Substanz bedeutet »Immanenz der Erhaltung in der Bewegung«, die »Hypothesis« der Veränderungen. Auch Raum und Zeit sind Kategorien, ebenso die Zahl. Die Leistung des Raumes ist das im Urteil der Allheit erzeugte »Beisammen« und »Außen«. »Das Äußere ist in der Tat. das Innere; aber das Innere verwandelt sich zum Äußern in dem Fortschritt des Erzeugens von Zeit zum Raum.« »Die Allheit im Denken erzeugt die des Raumes.« Die Gegenwart ist ein Moment des Raumes. Das Charakteristikum der Zeit ist die »Antizipation«. »Die Zukunft enthält und enthüllt den Charakter der Zeit. An die antipizierte Zeit reiht sich, rankt sich die Vergangenheit. Sie war nicht zuerst: sondern zuerst ist die Zukunft, von der sich die Vergangenheit abhebt.« Die Zeit ist so die »Kategorie der Antizipation«. Sukzession und Zugleichsein sind nicht »gegeben«, sondern werden denkend erzeugt. Die Zeit wird als das gleichförmige Urmaß, zum Träger der Kontinuität. Die Zahl hat ihren Ursprung in der Einheit des Bewußtseins. Das »Urteil der Realität« erzeugt die Zahl als Kategorie, als Mittel für die Erzeugung des Gegenstandes, als Fundament, in welchem der Gegenstand seine Realität empfängt. Indem die Zahl den objektiven Inhalt erzeugt, darf sie das Sein bedeuten. Auf Mathematik[98] muß alles reduziert werden können, was als Naturwirklichkeit soll behauptet werden können. Die Axiome der Mathematik sind Erzeugnisse des reinen Denkens, und so wurzelt alles Sein im Denken. Auch die »Mehrheit« wird als Einheit des Denkens erzeugt. In den Zahlen erzeugt die Zeit einen »Kosmos des reinen Denkens«, die »Einheiten der Mehrheit«. Auch der Zweck ist eine Kategorie, eine Methode. Die Naturwissenschaft als solche muß aber streng kausal-mechanisch verfahren; hier hat der Zweckbegriff nur regulative Bedeutung.

Alles Sein ist »Sein des Denkens«. Die Realität hat ihren Ursprung im Denken. Das Unendlichkleine ist »Grund und Werkzeug des realen Gegenstandes«, in ihm wird als seinem Ursprunge das Endliche gegründet (Prinz, d. Infin. S. 30, 133 f.). Realität, die von der »Wirklichkeit« zu unterscheiden ist, ist eine besondere Leistung des Denkens. »Daß ich ein Element selbst an und für sich setzen darf, das ist das Desiderat, welchem das Denkmittel der Realität entspricht.« Realität bedeutet »intensive Größe«. In der Gewißheit der Infinitesimal-Analysis ruht die Gewißheit der Wissenschaft, die Objektivierung der Empfindung, ihr »Entsatz« durch ein rein gedanklich bestimmtes Element (Atom u. dgl.).

Wie die Logik auf dem reinen Denken, so beruht die Ethik auf dein (mit der praktischen Vernunft identischen) reinen Willen. Sie ist die »Logik der Geisteswissenschaften«, die Prinzipienlehre der Rechts- und Staatsphilosophie, auf die Rechtswissenschaft orientiert, indem sie sich selbst als Rechtsphilosophie durchführen muß. Die Ethik: ist Ethik des »reinen Willens«, ihre Methode ist nicht psychologisch, sondern transzendental. Der reine Wille vollzieht sich in der Handlung, und so kommt es nicht bloß auf die Gesinnung an. Als »Willensgefühl« bildet der Affekt einen Bestandteil der Willenshandlung. Der sittliche Wille geht auf (Gesinnung) und Handeln. Nur in Recht und Staat ist Sittlichkeit möglich; das sittliche Ideal wird nur in der Gemeinschaft realisiert, in welcher erst die rechte Einheit des Willens zur Geltung kommt. Der Gesamtwille ist der »geeinte repräsentative, ideale Wille«. Die Einheit des Menschen ist nur in der Allheit, des Staates gesichert. In der juristischen Person des Staates wird das Selbstbewußtsein zur ethischen Person. Die fundamentale Tugend des Staates ist die Gerechtigkeit. Durch das Recht wird das ethische Subjekt zum Objekt der Geschichte. Die Kontrollinstanz aller Tugenden ist die Humanität, das »Grundgesetz der sittlichen Harmonie«. Auf ein »Reich der Zwecke« strebt alle sittliche Entwicklung hin. Die »Gemeinschaft autonomer Wesen« ist der Inhalt des formalen Sittengesetzes (Kants Begründ. d. Ethik, 2. A. S. 227). Das sittliche Wesen ist Zweck an sich, Endzweck. Der reine Wille ist der autonome, freie Wille, der niemals bloß Mittel, sondern immer zugleich Zweck ist. »Die Autonomie, die eigene, allgemeine Gesetzgebung, ist Autotelie.« Im ethischen Sollen wird eine »systematische Verbindung autonomer Wesen« zum »Reich der Zwecke«. – Das sittliche Ideal wird durch die Idee Gottes insofern gestützt, als diese die Verbindung zwischen Natur und Sittlichkeit herstellt. Gott ist das »Zentrum aller Ideen, die Idee der Wahrheit«, die Bürgschaft des Sieges des Guten. Die Idee[99] des Menschen als Selbstzweck führt zu einem ethischen Sozialismus (vgl. Einleit. m. kritischem Nachtrag zu F. A. Langes Gesch. d. Materialismus, 1896, S. LXV ff.).

SCHRIFTEN: Kants Theorie d. Erfahrung, 1871; 2. A. 1885. – Kants Begründ. d. Ethik, 1877; 2. A. 1910. – Das Prinzip der Infinitesimalmethode, 1882. – Kants Begründ. d. Ästhetik, 1889. – Einleit. m. Lrit. Nachtrag zu F. Ä. Langes Geschichte d. Materialismus, 1896, 8. A 1908. – Sytem d. Philos.: I. Logik der reinen Erkenntnis, 1902. U. Ethik d. reinen Willens, 1904; 2. A. 1907. – Religion u. Sittlichkeit, 1907. – Kommentar zu J. Kants Krit. d. rein. Vernunft, 1907 (Philos. Bibl.), u. a.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 97-100.
Lizenz:

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