Fechner, Gustav Theodor

[164] Fechner, Gustav Theodor, geb. 19. April 1801 in Großsärchen (Lausitz), Prof. der Physik und später der Philosophie in Leipzig, gest. 18. November 1887. Verschiedene (satirische) Schriften verfaßte er unter dem Pseudonym Dr. Mises.

F. vereinigt ausgesprochensten Tatsachensinn und empirische Grundlegung des Philosophierens mit hohem spekulativen Schwunge, bei dem die Phantasie eine große Rolle spielt. Beeinflußt ist F. von Spinoza, Leibniz, Kant, Schelling u. a. So ist er zum Begründer einer idealistischen Identitätslehre, eines Systems des psychophysischen Parallelismus, Panpsychismus und [164] objektiven Idealismus geworden, wonach das Geistige das An sich dessen ist, was von außen als materiell erscheint.

Zunächst ist aber F. auch Begründer der Psychophysik als systematischer Wissenschaft. E. H. Weber hatte das Gesetz aufgestellt, daß die Veränderung der Empfindung proportional dem Verhältnis des Reizzuwachses erfolgt. Nach Fechners psychophysischem Gesetz entsprechen gleichen relativen Reizunterschieden gleiche Unterschiede der Empfindungsintensitäten. Während die Reizintensitäten im geometrischen Verhältnisse zunehmen, wachsen die Empfindungsintensitäten nur in arithmetischer Progression. Oder die Ordnungszahl der Empfindungen wächst proportional dem Logarithmus der Reizintensität, wobei als Einheit der Schwellenwert des Reizes gilt. Dieses Gesetz gilt für die Beziehungen zwischen psychischen und leiblichen Funktionen, also psychophysisch. Auf das Verhältnis der Nervenprozesse zu den äußeren Reizen beziehen das Gesetz G. E. Müller, Spencer u. a. Psychologisch (aus Vergleichungsprozessen) interpretieren das Gesetz Delboeuf, Ziehen. Wundt und Lipps u. a.; nach beiden letzteren ist das Gesetz ein »Apperzeptionsgesetz«, ein Gesetz der »apperzeptiven Vergleichung«. Betreffs der Gültigkeit des Fechnerschen Gesetzes werden auch verschiedene Bedenken geäußert.

Die Atome sind nach F. unausgedehnte Kraftpunkte. Sie sind weder Dinge an sich noch Fiktionen, sondern »eine für die Konstruktion des Gegebenen notwendige Grenzvorstellung des Gegebenen«. Der Beweis ihrer Realität liegt in der »mathematischen Notwendigkeit, sie zu gebrauchen«.

F. stellt der »Nachtansicht«, welche von allen Qualitäten der Dinge abstrahiert und sie als fühllose Mechanismen auffaßt, die »Tagesansicht« gegenüber, für welche die Wirklichkeit von dem Leuchten und Klingen und von den anderen Qualitäten, die wir an ihr gewahren, selbst etwas verspürt. Alles ist, entweder selbständig oder nur als Teil eines umfassenderen Zusammenhangs, geistig, seelisch. Aber es gibt keine »Monaden« und keine substantiellen Seelen, die mit dem Leibe sich verbinden. Es gibt nur eine Art des Wirklichen. Wie ein und derselbe Kreis von der einen Seite konvex, von der anderen konkav erscheint, so sind auch Materie und Geist nur »zwei Erscheinungsweisen desselben Wesens«, deren Gemeinsames in der »untrennbaren Wechselbedingtheit« beider besteht. »Was dir auf innerem Standpunkt als dein Geist erscheint, der du selbst Geist bist, erscheint auf äußerem Standpunkt dagegen als dieses Geistes körperliche Unterlage.« Der Geist (das Psychische) ist das Innen-, das Selbstsein, die »Selbsterscheinung« des Dinges, dessen Außenseite oder »Fremderscheinung« der Leib (das Physische) ist. Je nach dem Standpunkt erscheint das Wirkliche als Geist oder als Körper, wobei die leibliche Erscheinung als Äußerung der geistigen Selbsterscheinung dienen kann. »Vom Grundwesen selbst, was beiden Erscheinungsweisen in uns unterliegt, läßt sich nichts weiter sagen, als daß es eben nur eins 'ist, was sich durch das Vermögen beider Erscheinungsweisen zweiseitig charakterisiert, als geistiges Wesen, sofern es sich selbst, als leibliches, sofern es einem ändern als sich selbst zu erscheinen vermag.« Die »Zweiseitigkeit« des Wesens liegt in der Möglichkeit einer zweifachen Auffassung desselben gegründet. Der Leib ist einerseits Ausdruck, anderseits[165] Träger oder »Sitz« oder Organ der Seele. »Das Leibliche ist die äußere Hülle des Geistigen, sofern die leibliche Erscheinung nie das Selbst gibt, sondern nur dessen äußere Erscheinung für ein anderes.«

Zwischen Psychischem und Physischem besteht keine Wechselwirkung, sondern ein universaler Parallelismus. Es entspricht die eine Seite oder Erscheinungsweise der anderen, hat ein Korrelat in ihr. Was aber auf der Außenseite, im Physischen, eine Vielheit ist, kann im Psychischen als Einheit auftreten. Ein Teil des Psychischen, das physiologischen und physischen Prozessen parallel geht, ist (relativ oder absolut) unbewußt, wobei F. annimmt, daß das Unbewußte durch »Mechanisierung« des Bewußtseins entstanden ist und jetzt im allgemeinen Bewußtsein ununterschieden aufgeht. Da es zwischen Psychischem und Physischem keine Wechselwirkung gibt, so ist nicht die Bewegung als solche, sondern das Innensein derselben Ursache unserer Empfindung. Ein und derselbe Kausalzusammenhang in uns läuft, je nach der Betrachtung, auf zwei Weisen ab. Das Wirkliche verhält sich wie eine Uhr, »die sich selbst in ihrem Gange als geistig sich regendes Wiesen und einem Gegenüberstehenden als ein Getriebe und Treiben materieller Räder erscheint«.

Die Welt ist nach F. eine Stufenordnung von Bewußtseinseinheiten. Die höheren umfassen die niederen und wissen von ihnen, während diese von jenen kein unmittelbares Bewußtsein haben. Das höchste Sein ist das alles umfassende und zugleich allem immanente göttliche Allbewußtsein, dessen relativ selbständige Glieder die Einzelgeister sind. Die diesen zunächst übergeordneten Bewußtseinseinheiten sind die Planetenseelen, die den »Engeln« der Religion entsprechen. Die Erde ist ein lebendiger Zusammenhang, sie hat ihr Nervensystem, indem die Einheit aller Menschenhirne ihr Gehirn bildet. Die Erde ist unsere Mutter, deren Sinnesorgane die Lebewesen sind. Die Erdseele ist die Einheit des psychischen Seins der Lebewesen. »Trieb und Wille der Geschöpfe verknüpfen sich nun ebenso in einem höheren darüber hinausgreifenden Willensgebiete der Erde, als Empfindung und Wissen derselben in einem höheren Wissensgebiete.« Das Leben geht dem Tode, das Organische dem Anorganischen voran. Das »Kosmorganische« der Erde hat sich einerseits in die Organismen, anderseits in das Anorganische gegliedert. An der Entwicklung der Organismen sind psychische Faktoren beteiligt. Die Pflanzen haben eine Seele (Empfindung usw.), denn es besteht ein Gewebezusammenhang, der auf eine Psyche als Innensein hinweist und als Substrat derselben hinreicht; ein Nervensystem ist nicht Bedingung des Seelenlebens überhaupt, sondern nur Ausdruck eines besonderen, differenzierten Seelenlebens.

Die Seele des Menschen ist keine Substanz, sondern der einheitliche Zusammenhang psychischen Geschehens, dessen Ausdruck und Außenseite der Organismus und das Zentralnervensystem ist. Unsterblich ist die Seele nicht substantiell, sondern aktual, in der Sphäre ihres Wirkens, indem sie sich schon während des Lebens einen neuen Organismus, einen »Tatenleib« schafft. Der Kreis der Wirkungen, die der Mensch hinterläßt, wird sein individuelles Wesen in dem größten Kreise forterhalten, verborgen für die Hinterbliebenen, aber bewußt für sich. Der Geist des Menschen erhält sich in dem umfassenderen[166] Bewußtsein, in das er eingeht und schließlich im göttlichen Geiste in einer neuen, höheren Form der Bewußtheit. »Das jenseitige Leben unserer Geister verhält sich zu dem diesseitigen ähnlich, wie ein Erinnerungsleben zu dem Anschauungsleben, aus dem es erwachsen ist.« »Unsere künftigen Existenzen verlaufen, stören, verwirren sich deshalb nicht, daß wir uns mit unseren Wirkungen und Werken alle derselben Welt, demselben großen Leibe einverleiben.«

Gott weiß alles, was in den Geistern vorgeht. Er ist unendlicher Geist, dessen Leib die Welt ist, der »Allgeist«, ein »einiges, höchst bewußtes, wahrhaft allwissendes, d.h. alles Bewußtsein der Welt in sich tragendes und hiermit auch das Bewußtsein aller Einzelgeschöpfe in höheren Bezügen und höchster Bewußtseinseinheit verknüpfendes Wesen«. Gott ist und wirkt alles in allem; als die Totalität des Seins und Wirkens hat er keine Außenwelt außer sich. »Alle Geister regen sich in der Innenwelt seines Geistes, alle Körper in der Innenwelt seines Leibes.« Alle Entwicklung ist Entfaltung in Gott, in dem es an sich nichts Böses gibt; die Übel bestehen nur im Gebiete des Einzelnen. Ein und dasselbe Wirkliche ist einerseits Gott, göttlicher Geist, anderseits Natur. »Dasselbe Ganze, was dem Einzelgeschöpf und mittels des Einzelgeschöpfes Gott in äußerer Anschauung als Natur erscheint, erscheint sich selbst im ganzen als göttlicher Geist.« Alles, was ist, ist in Gott (Panentheismus), ist Teil und Inhalt des göttlichen Bewußtseins (Objektiver Idealismus). Der Glaube an Gott ist ein praktisches Bedürfnis, dessen objektive Grundlage die Vernunft aufzeigt.

Die Ethik: F.s ist eudämonistisch. Gut ist die Lust schlechthin, wahrhaft gut das, was geeignet ist, den Glückseligkeitszustand der Welt zu fördern. Das Maximum der Lust des Universums als solchen ist der Endzweck des Handelns, so daß der Egoismus abzulehnen ist. – F. gehört zu den Begründern einer experimentellen Ästhetik »von unten auf«. Wichtig ist seine Unterscheidung zwischen dem »direkten« und dem »assoziativen« Faktor des Ästhetischen, Gefallenden. »Direkt ist der Eindruck eines Gegenstandes, insofern er subjektiverseits von der angeborenen oder nur durch Aufmerksamkeit und Übung im Verkehr mit Gegenständen gleicher Art entwickelten und verfeinerten inneren Einrichtung abhängt, assoziativ, insofern er von einer Einrichtung abhängt, die dadurch entstanden ist, daß sich der Gegenstand wiederholt in Verbindung und Beziehung mit gegebenen Gegenständen anderer Art dargeboten hat« (Vorschule der Ästhet, I, 121).

Anhänger F.s sind mehr oder weniger Paulsen, B. Wille, W. Pastor, K. Lasswitz, P. Möbius u. a. Beeinflußt von F. sind Wundt, Heymans, u. a.

SCHRIFTEN: Das Büchlein vom Leben nach dem Tode, 1836; 5. A. 1906. – Über das höchste Gut, 1846. – Nanna oder über das Seelenleben der Pflanzen, 1848; 2. A. 1899. – Zendavesta oder über die Dinge des Himmels n. d. Jenseits, 1851; 2. A. 1901. – Über d. physikal. n. philos. Atomenlehre, 1855; 2. A. 1864, – Elemente der Psychophysik, 1860; 2. A. 1888; 3. A. 1907. – Über d. Seelenfrage, 1861; 2. A. 1907. – Die drei Motive a. Gründe d. Glaubens, 1863. – Zur experimentalen Ästhetik, 1873. – Einige Ideen im Schöpfungs- und Entwicklungsgesch. d. Organismen, 1873. – Vorschule der Ästhetik,[167] 1876; 2. A. 1897 f. – In Sachen d. Psychophysik, 1877. – Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht, 1879; 2. A. 1904. – Revision der Hauptpunkte d. Psychophysik,. 1882. – Über d. psychischen Maßprinzipien n. d. Webersche Gesetz, Philos. Stud. IV, 1887. – Kollektivmaßlehre, 1897. – Kleine Schriften, 1875. – Vgl. J. E. KUNTZE, G. Th. F., 1892. – K. LASSWITZ, G. Th. F., 1896; S.A. 1910 (Frommans Klassiker d. Philos.). – WUNDT, G. Th. F., 1901. – W. PASTOR, G. Th. F., 1904.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 164-168.
Lizenz:

Buchempfehlung

Jean Paul

Titan

Titan

Bereits 1792 beginnt Jean Paul die Arbeit an dem von ihm selbst als seinen »Kardinalroman« gesehenen »Titan« bis dieser schließlich 1800-1803 in vier Bänden erscheint und in strenger Anordnung den Werdegang des jungen Helden Albano de Cesara erzählt. Dabei prangert Jean Paul die Zuchtlosigkeit seiner Zeit an, wendet sich gegen Idealismus, Ästhetizismus und Pietismus gleichermaßen und fordert mit seinen Helden die Ausbildung »vielkräftiger«, statt »einkräftiger« Individuen.

546 Seiten, 18.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon