Johannes Scotus Eriugena

[303] Johannes Scotus (der Schotte) Eriugena (der Irländer), ein in Irland (welches damals »Scotia maior« hieß) um 810 geborener Schotte, studierte in Irland, verstand lateinisch und griechisch, ging (um 840) an den Hof Karls des Kahlen von Frankreich nach Paris, wo er Lehrer an der Hofschule wurde und die Schriften des Dionysius Areopagita (Pseudo-Dionysius) und dessen Kommentators Maximus Confessor ins Lateinische übersetzte. Gegen den Mönch Gottschalk schrieb er eine Abhandlung »De divina praedestinatione«, wegen welcher er als Ketzer verdächtigt wurde. Er starb um 877.

J. ist in seinen Lehren wesentlich durch Dionysius Areopagita und Maximus Confessor beeinflußt, damit also auch von Plato, dem Neuplatonismus, Augustinus, zum Teil auch von Aristoteles. Seine Lehre ist der Versuch einer Verschmelzung des neuplatonischen Emanationssystems mit dem christlichen Schöpfungsgedanken und der Trinitätslehre, wobei eine Art Panentheismus, in welchem Mystik: und Dialektik vereinigt sind, herauskommt. Die Autorität der Heiligen Schrift und die der Kirchenväter ist ihm maßgebend, weil er hier eine Offenbarung der Vernunft sieht, die bei Widersprüchen stets den Vorrang hat; denn die Autorität erfließt ans der Vernunft, nicht umgekehrt. Wahre Philosophie und wahre Religion sind identisch (»veram esse philosophiam veram religionem«). Die Philosophie ist »sapientiae Studium« und zerfällt in praktische, physische,[303] theologische, logische Wissenschaft. Wie Pseudo-Dionysius unterscheidet J. positive und negative Theologie; letztere hat den Vorrang, da Gott über alles, was man von ihm aussagen kann, erhaben ist.

Das Allgemeine ist nach J. real, als Idee vor den Dingen und als Essenz in den Dingen. Die Dialektik als die Lehre von den allgemeinen Begriffen und Wesenheiten geht von den Gattungen zu den Arten und von diesen wieder 7.u den Gattungen (»ars illa, quae dividit genera in species et species in genera resolvit«). Die Kategorien stehen untereinander in Beziehung, wobei die Substanz (ousia) die Grundlage der anderen ist. Keine Kategorie vermag das Wesen Gottes auszudrücken. Zur Erkenntnis gelangt man durch vier Methoden: Einteilung (dihairetikê), Definition (horistikê). Beweis (apodeiktikê), Analyse (analytikê). Unter »Analyse« versteht J. auch den Prozeß (»processio«) der Entfaltung der Welt aus Gott mittels der Ideen.

Es gibt eine vierfache Natur, wobei J. unter »natura« sowohl das Geschaffene als auch das Schöpferische versteht: 1. die schaffende, nicht geschaffene Natur (»quae creat et non creatur«), 2. die geschaffene und schaffende, 3. die geschaffene, nicht schaffende, 4. die nicht geschaffene und nicht schaffende (De div. nat. I, 1). Die erste und die letzte Natur sind eins, nämlich Gott als Ursprung und als Ziel des Seins. Die zweite Natur ist der Inbegriff der Ideen in Gott als Urbilder der Dinge, die dritte die raum-zeitliche Welt.

Die oberste Natur ist Gott als Urgrund der Dinge, die aus ihm emanieren und wieder zu ihm zurückstreben. Gott ist das Wesen (essentia), die Subsistenz, das wahre Sein der Dinge, er ist alles (»omnia universaliter est«) und doch nichts von allem, sondern über das Sein erhaben (»super ipsum esse«), die Einheit des Alls, die Gesamtheit desselben (»universitas«, to pan, »totum omnium«, »omnia in omnibus«), aber zugleich einfach, unvermischt, in jedem Dinge ganz. (»tota enim in singulis est in se ipsa«), immanent und transzendent. Gott ist in allem, alles ist in und aus Gott, der sich in den Dingen manifestiert und sie doch überragt (»In Deo immutabiliter et essentialiter sunt omnia.« »Nam et creatura in Deo est subsistens, et Deus in creatura mirabili et ineffabili modo creatur, se ipsum manifestans«). Gott, der eins und dreieinig ist (seine Weisheit ist der Sohn, sein Leben der heilige Geist), ist der Urgrund der Dinge (»principalis causa omnium, quae ex ipso et per ipsum facta sunt«), Ursache, Mittel und Zweck zugleich. Gott weiß sich nicht durch Begriffe, sondern nichtwissend, weil er überseiend (hyperousios) ist. (»Nescit igitur, quid ipse est, h. e. nescit se quid esse«.) Gott manifestiert sich in seiner Schöpfung, ja er ist nicht vor dieser (»Deus non erat prius, quam omnia faceret«).

Alles Geschaffene ist eine Selbstoffenbarung Gottes, eine Theophanie (»omnis visibilis et invisibilis creatura theophania, i.e. divina apparitio potest appellari«). Durch die Theophanien wird die Existenz Gottes von uns erkannt. Gott schafft alles und wird dadurch in allem (»ipse facit omnia et fit in omnibus«), aus seiner Verborgenheit hervortretend, Gott war ewig Schöpfer (»semper creator«), die Zeit ist erst mit der Welt entstanden. Unmittelbar geht aus Gott die Welt der Ideen hervor, die intelligible, ewiggeschaffene, übersinnliche Welt[304] (»mundus intelligibilis«). Die Ideen sind die schöpferischen Urbilder und Urgründe der Dinge (»causae primordiales«, prôtotypa kai proorismata, theia thelemata »exempla«). die Formen, welche die unwandelbaren Gründe der Dinge (»immutabiles rationes«) enthalten. Die Einheit der Ideen ist der Logos. Durch seinen Willen und sein Schauen erschafft nun Gott die raum-zeitliche Welt als Abbild der Idealwelt aus Nichts oder aus seinem Wesen heraus. Er selbst manifestiert sich in der Welt, die aus ihm vermittelst der Ideen ewig hervorgeht (processio) und in der er ebenso ist wie sie in ihm (»Per nihilum... intelligo ineffabilem et incomprehensibilem divinae naturae inaccessibilemque claritatem«). Gott ist in die Welt hinabgestiegen (»per condescensionem quandam ineffabilem in ea, quae sunt, prodit«), hört aber nicht auf, über alles erhaben zu sein (»tarnen super omnia esse non desinit«). Die Körper bestehen aus Form und Materie, bezw. aus vier Elementen. Sie sind (wie nach Gregor von Nyssa) aus Intelligiblem, aus immateriellen Qualitäten zusammengesetzt (»ex... qualitatibus copulatis corpora sensibilia conficiuntur«; »materies... ex incorporeis qualitatibus copulatur«). Der Mensch ist ein Mikrokosmus, gleichsam die Zusammenfassung von allem (»homo veluti omnium conclusio«). Die Seele ist eine einfache, sich selbst denkende Substanz, welche den Körper durchdringt, der ihr Abbild ist. Die Seele bewegt den Leib und ist ganz in allen ihren Funktionen. Die Erkenntnis schwingt sich von der sinnlichen Wahrnehmung über die Erfassung der Ideen durch die Vernunft zur Schauung Gottes in seiner Theophanie. Das Böse existiert nicht in Gott, es ist unnatürlich, beruht nur auf einer Verkehrtheit des freien Willens, einer Privation des Guten.

Vermittelst des Logos kommt der Mensch zur Vergottung (theôsis, deificatio), zur Vereinigung mit Gott, die im weiteren Sinne die ganze Welt erfaßt, welche zu Gott, ihrem Quell, zurückstrebt, um ewig in ihm zu ruhen und mit seinem Wesen eins zu sein. Dann wird Gott wahrhaft alles sein (»eritque tunc Deus omnia in omnibus«, »omnia convertentur in Deum«). Die Rückkehr in Gott erfolgt auf verschiedenen Stufen bis zur völligen Ruhe der Welt in Gott. Die Lehre des J. S., die von der Kirche verdammt wurde, hat u. a. David von Dinant und Amalrich von Bennes beeinflußt, aber auch sonst Einfluß ausgeübt.

SCHRIFTEN: De divina praedcstinatione, 1650, – De divisione naturae (Hauptwerk), 1681, 1838, 1853 (Migne Patrolog. Bd. 122), deutsch von Noack, 1870 f. (Philos. Bibl.). – Kommentar zu Martianus Capella, bei Hauréau, Notices et extraits, 1862. – Vgl. J. HUBER, J. S. E., 1861. – PRANTL, Gesch. d. Logik II. – NOACK, J. S. E., 1876.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 303-305.
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