Lachelier, Jules

[373] Lachelier, Jules, geb. 1832 in Fontainebleau, Prof. an der Ecole Normale Supérieure (1864-75).

L.. der besonders durch Leibniz, Kant, Ravaisson beeinflußt ist, ist der Begründer des kritischen Neo-Spiritualismus in Frankreich. Die strenge Kausalität und Gesetzlichkeit der Erscheinungen soll hier mit der Annahme der Finalität, Aktivität, Freiheit verbunden werden (Synthese von Mechanismus und Teleologie).

Die Induktion ist das Verfahren, vermittelst dessen wir zur Erkenntnis der Gesetze der Tatsachen aufsteigen. Welches sind die Grundlagen der Induktion? Die Antwort lautet: die apriorischen Forderungen der Kausalität und der Finalität, das Kausal- und besonders das Zweckprinzip. Nach dem einen Prinzip bilden die Erscheinungen Reihen, in welchen die Existenz des Vorangehenden das Nachfolgende determiniert; nach dem zweiten Prinzip bilden diese Reihen Systeme, in welchen die Idee des Ganzen die Existenz der Teile bestimmt. Die Kausalität ist eine Bedingung unserer Erkenntnis, aber sie stellt nur einen äußeren Zusammenhang unter den Erscheinungen her. Denken und Sein sind innerhalb der phänomenalen Welt nur zwei Ausdrücke für die universale und ewige Notwendigkeit. In der Natur ist zunächst alles mechanisch zu erklären, alles ist kausal bestimmt, auch das lieben und das menschliche Handeln.

Die kausalen Reihen selbst aber erhalten ihre innere Einheit erst durch das Gesetz des Zweckes (der Finalität), welches also die letzte Grundlage der Induktion ist. Es fordert eine »Harmonie im Zusammen der Phänomene«. Diese harmonische Einheit ist Bedingung des Denkens der Gegenstände als Realitäten; diese (und Gruppen von solchen) können nur dann zur Einheit zusammengefaßt werden, wenn sie harmonisch sind. »Die erste Einheit der Natur war die rein äußerliche Einheit einer absoluten Mannigfaltigkeit, die zweite hingegen ist die innere organische Einheit einer Mannigfaltigkeit, von der jedes Element in seiner Weise alle übrigen ausdrückt und enthält. Aber der wechselseitige Einklang aller Teile der Natur kann nur aus der Abhängigkeit jeder vom Ganzen herrühren; daher muß in der Natur die Idee des Ganzen dem Sein der Teile vorangegangen sein und es determiniert haben, kurz, die Natur muß dem Gesetz der Zweckursachen unterstehen.« Eine Erscheinung[373] existiert, sofern sie eine Ursache und sofern sie einen Zweck hat. »So hat die Natur zwei Seinsweisen, die auf den beiden den Erscheinungen vom Denken auferlegten Gesetzen beruhen: eine abstrakte Existenz, identisch mit der Wissenschaft, deren Gegenstand sie ist, mit dem notwendigen Gesetz der bewirkenden Ursachen als Basis; und eine konkrete Existenz, identisch mit dem, was wir die ästhetische Funktion des Denkens nennen könnten, mit dem kontingenten Gesetz der Zweckursachen als Grundlage.« Die Finalität der Natur konzentriert sich in einer Vielheit gesonderter Systeme, zu welchen wir selbst als Individuen gehören. Die Zweckeinheit jedes Wesens ist das wahre »Noumenon, dessen bloße Manifestationen die Phänomene sind«. Während die mechanische Erklärung ins Unendliche führt, gibt die finale dein Denken einen Haltepunkt. So werden die Zwecke zu den wahren Gründen der Dinge. »Materie und Ursachen sind nur eine notwendige Hypothese oder besser ein unentbehrliches Symbol, mittels dessen wir in Zeit und Raum das projizieren, was an sich beiden überlegen ist.« Das Urgesetz des Seins ist die »Harmonie«. Die universelle Kontingenz ist die Seele der Natur; sie ist in Wahrheit eine teleologische und Willensnotwendigkeit.

Eine auf ein Ziel gerichtete Spontaneität ist eine Tendenz, und eine Tendenz, welche eine Bewegung zur Folge hat, ist eine Kraft. Jede Erscheinung ist die Entfaltung und Äußerung einer Kraft, der »Tendenz einer Bewegung nach einem Ziele«. Die Finalität verwirklicht sich m der Tendenz zur Bewegung. Jedes Wesen ist eine Kraft, eine immer mehr zum Selbstbewußtsein gelangende Idee. Das Leben ist »die dynamische Einheit des Gesamtorganismus« und bedarf daher keiner besonderen »Lebenskraft«, da die »Kraft« innerlich Leben ist und erst aus sich die niederen Kräfte entläßt. Die Seele ist die dynamische Einheit des Erlebens. Die Freiheit ist eine ursprüngliche Tatsache. »Das Wunder der Natur in und außer uns ist die Erzeugung der Idee, und diese Erzeugung ist frei im strengsten Sinne des Wortes, denn jede Idee ist an sich unabhängig von der ihr vorhergehenden und entsteht, wie eine Welt, aus nichts.« Die Natur wirkt schöpferisch. Unsere Freiheit ist die der »Erfindung«, zugleich ist sie das Bewußtsein der Notwendigkeit, vermöge deren ein von uns erfaßtes Ziel die Existenz der Mittel determiniert. Die wahre Philosophie der Natur ist »ein spiritualistischer Realismus, für den jedes Wesen eine Kraft und jede Kraft ein Gedanke ist, der nach einem immer vollkommeneren Bewußtsein seiner selbst strebt«.

In der Abhandlung »Psychologie und Metaphysik« (deutsch 1905) sucht L. auf Grundlage einer »reflexiven Analyse« des Bewußtseins synthetisch den geistigen Organismus und das Reale abzuleiten. Der Versuch Cousins und seiner Schule, die Geistigkeit und Freiheit in uns, die Vernunft in und außer uns darzutun, muß auf neue Weise, den Ergebnissen der positiven, empirischen Wissenschaft Rechnung tragend, unternommen werden. Zunächst läßt sich zeigen, daß das Bewußtsein eine Realität ist; die Illusion des Bewußtseins wäre sonst nicht einmal möglich. Das Bewußtsein kann nicht auf bloße Ausdehnung u. dgl. zurückgeführt werden, denn die Ausdehnung selbst kann nicht an sich existieren. Denn sie hat keine einfachen Teile (weil ins Unendliche[374] teilbar) und ihre Realität müßte, wenn sie eine solche hätte, die solcher Teile sein. »Sie besteht also nur innerhalb des Bewußtseins, denn nur hier kann sie das sein, was sie ist, ein Ganzes, das vor seinen Teilen gegeben ist und durch dieselben geteilt, nicht gebildet werden kann.« Wäre die Ausdehnung allein im Bewußtsein, dann gäbe es nichts in ihr, was hier teilen könnte. Die Teilung ist nur hier durch etwas anderes möglich und dies ist die Empfindung (Sinnesqualität), durch die allein die Ausdehnung existiert. Die Empfindung muß aber, damit das Bewußtseinssubjekt sich scharf vom Bewußtseinsobjekt unterscheidet, mehr enthalten als die Sinnesqualität, nämlich etwas Affektives. Das Gefühl aber schließt als Antezedens ein Streben ein und wir finden uns, bevor wir Empfindung sind, als Wille, der nicht unmittelbar und gesondert bewußt ist, weil er die Urbedingung des Bewußtseinsinhaltes ist (Voluntarismus). »Der Wille ist das Prinzip und das verborgene Innere alles Seienden.« Im Menschen reflektiert er sich selbst und fixiert seine Empfindungen als Außenwelt. Im Willen ist das Ich (Subjekt) selbst im Gegensatz zur Außenwelt gegeben (als »Lebenswille«); dieses ist frei, denn es gehört zum Wesen des Willens, »sich selbst zu wollen und Ursache seiner selbst zu sein«. Wir sind frei in unserem Sein und determiniert in unseren Daseinsweisen (vgl. Schopenhauer).

Es besteht also in uns ein »intellektuelles Bewußtsein«, welches dein sinnlichen Bewußtseinsinhalt erst den Stempel der Objektivität aufdrückt; nur als Gegenstände dieses absoluten Bewußtseins sind diese Inhalte real, mehr als subjektiv. Die Tiefe der Körper (die dritte Dimension) und anderes, was »Wahrnehmung« genannt wird, ist schon das Werk des Denkens. Das Denken verwandelt subjektive Zustände in Vorgänge und Dinge, welche »an sich«, d.h. allgemeingültig bestehen, es ist das Bewußtsein der Wahrheit oder des Seins der Gegenstände. »Es gibt für uns kein Sein ohne die Funktion eines Denkens, welches dieses Sein erkennt und bejaht; es gibt kein Denken in uns, das nicht die Erkenntnis und Anerkennung eines Seins ist.« Das für uns Seiende ist »das, was wir gemäß den Gesetzen der Natur und des Bewußtseins wahrnehmen und empfinden sollen« (vgl. Lipps, Rickert u. a.). Das intellektuelle Bewußtsein enthält vor aller Erfahrung »eine Idee des Seinsollenden, ein ideales Sein« als Urbild und Maß des realen Seins. Diese Idee ist kein Ding, sondern die »apriorische Wahrheit aller Dinge«. Sie ist nicht dinglich gegeben, sondern die Idee, welche uns zur Beurteilung des Gegebenen dient, erzeugt sich selbst als »intellektuelles Subjekt und lebendige Dialektik«. Das Fundament alles Seins ist so die »absolute Spontaneität des Geistes« (Aktualismus; vgl. Fichte, Münsterberg, Wundt u. a.). Die Idee des Seins (der Wahrheit) bringt sich selbst hervor, denn jedes Urteil über dasselbe setzt die Idee des Seins schon voraus. Das Symbol dieser Selbsterzeugung ist die Zeit mit ihrem unendlichen Fließen, welches wieder die räumliche Linie zum Symbol hat. Soll das Sein nicht eine leere Form sein, so fordert es einen Inhalt, ein Seiendes, eine konkrete Wirklichkeit, die das Denken erstrebt, um so zum konkreten, lebendigen Denken zu werden. Der reine Seinswille wird durch Anwendung auf die Empfindung und Ausdehnung[375] zielstrebiger Lebenswille. Dreidimensionale Ausdehnung (Objekt), individuelle Reflexion (Subjekt) und Vernunft sind die Elemente des intellektuellen Bewußtseins, das sich und seinen Inhalt frei setzt, verwirklicht und anerkennt. Das Ich ist an sich mehr als Lebenswille, es ist »der absolute Akt, mittels dessen die Idee des Seins in ihrer dritten Form ihre eigene Wahrheit bejaht«. Das Sein ist an sich Freiheit und Aktivität; wir sind so, wie wir uns setzen. Damit ist die »Selbstableitung und Selbsterzeugung« des Denkens und Seins zu Ende. Das Verhältnis von Psychologie und Metaphysik ist nun klar: »Die Psychologie hat zum Gegenstände das sinnliche Bewußtsein, sie erkennt vom Denken nur das Licht, welches dieses auf die Empfindung wirft; die Wissenschaft des Denkens an sich, des Lichtes an seiner Quelle, das ist die Metaphysik

Von L. sind beeinflußt: Liard, Boutroux u. a.

SCHRIFTEN: De natura syllogismi, 1871. – Du fondement de l'induction, 1871; deutsch 1908 (nebst »Psychologie und Metaphysik«). – Etude sur la théorie du syllogisme, Rev. philos., 1876. – Psychologie et Métaphysique, 1885. – Vgl. G. NOËL, La Philosophie de L, Rev. de Mét. et de Morale, 1898.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 373-376.
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