Occam, Wilhelm von

[509] Occam, Wilhelm von, geb. 1270 zu Occam (Grafschaft Surrey in England) Franziskaner, in Oxford Schüler des Duns Scotus, lehrte in Paris, nahm im Streite zwischen Papst Bonifacius VIII. und Philipp dein Schönen[509] für letzteren und die Staatsgewalt Partei, mußte fliehen (1328) und wurde von Ludwig von Bayern beschützt; er starb 1347 in München. Wegen seiner dialektischen Gewandtheit erhielt er den Beinamen »doctor invincibilis«, wegen seiner Erneuerung des Nominalismus den Beinamen »venerabilis inceptor«.

Occam ist der bedeutendste Vertreter des Nominalismus und einer der bedeutendsten Denker des Mittelalters überhaupt. Gegenüber der kirchlichen Lehre ist er durchaus fügsam, scheidet aber Glaube und Wissen scharf, indem es nach ihm nicht möglich ist, Gott intuitiv zu erkennen oder sein Dasein unwiderlegbar zu beweisen. Eine Theologie als rationelle Wissenschaft ist nicht möglich. An Gott muß einfach geglaubt werden und es muß der Wille zum Glauben bestehen. Von Occam und seinen Anhängern wird die Lehre von der zweifachen Wahrheit – einer philosophischen und einer theologischen, die einander widersprechen können – erneuert.

Die Logik ist nach O. eine »praktische« Wissenschaft, eine Leitung des Denkens und Erkennens. Sie hat es mit Zeichen zu tun (»intentionibus, quae vere opera nostra sunt«), nämlich mit Begriffen (Satzelementen, »termini«) und deren Verbindungen (Urteil, Schluß, Beweis). Die Begriffe sind Zeichen für je eine Klasse von Dingen, die der Begriff vertritt; die Wörter sind willkürlich gebildete Zeichen. Das Allgemeine ist weder ein Ding noch Teil eines solchen, es existiert als Allgemeines (Gattung) weder außerhalb der Dinge noch in den Dingen. »Entia praeter necessitatem non sunt multiplicanda« – die Annahme, daß das begrifflich-sprachlich Allgemeine auch real (»subiective«) und nicht nur als Denkinhalt (»obiective«) besteht, ist unnütz und widerspruchsvoll. Das Allgemeine liegt nur in der Repräsentation ähnlicher Dinge durch einen Begriff und Ausdruck (»terminus«, Terminismus, Konzeptualismus), der die betreffende Klasse von Dingen vertritt (»supponit«). Das Allgemeine ist eine Einheit nur logisch-sprachlich und bezieht sich (durch »significatio«) auf eine Vielheit von Individuen (»conceptus mentis, signifcans univoce plura singularia«), deren Ähnlichkeit das Fundament des Allgemeinbegriffs ist (die Universalien sind »ficta quibus in esse reali correspondent vel correspondere possunt consimilia«). Alles Reale ist durch sich selbst individuell (»quaelibet res, eo ipso quod est, est haec res«, »omnis res positiva extra animam eo ipso est singularis«). Die Abstraktion erfolgt auf Grund ähnlicher Vorstellungen von selbst, ohne aktive Willens- und Denktätigkeit (»universalia et intentiones secundae causantur naturaliter sine omni activitate intellectus et voluntatis«). Nominalistisch faßt O. auch die Ideenlehre auf. Die Ideen, die Urbilder der Dinge haben in Gott nur ein Sein als Denkinhalt, nicht als Teile des göttlichen Wesens und es gibt ferner nur Ideen von Einzeldingen (»ideae... sunt singularium et non specierum«).

Mit der Wahrnehmung des Einzelnen beginnt alle Erkenntnis. Aus der Wahrnehmung geht die Erinnerung, aus dieser die Erfahrung hervor, vermöge welcher das begriffliche Wissen entsteht. Auf äußerer und innerer Erfahrung beruht alle Erkenntnis (»omnis cognitio intellectiva praesupponit necessario imaginationem sensitivam tam sensus exterioris quam interioris«).[510] Zwischen intuitiver und abstraktiver Erkenntnis ist zu unterscheiden. Die intuitive (anschauliche) Erkenntnis ist eine solche, durch die man wissen kann, ob ein Ding ist oder nicht ist, und ob und wie es zu einem indem Ding in Beziehung steht (»notitia intuitiva rei est talis notitia, vi cuius potest sciri, utrum res sit vel non sit«); der Intellekt formuliert dann diese Einsicht in einem Urteil (»ita quod statim iudicans intellectus rem esse evidenter concludit, eam esse«), so daß sich an den Akt der Erfassung (»actus apprehensivus«) des Objekts die Urteilsfunktion (»actus iudicativus«) anschließt, welche ein Akt der Zustimmung oder Ablehnung ist (»assentit vel dissentit«). Die Dinge der Außenwelt nehmen wir ohne Vermittlung von »species intelligibiles«, von geistigen Bildern der Dinge in der Seele, wahr, sondern unsere Vorstellungen beziehen sich direkt auf die Dinge, nicht als Bilder, sondern nur als (natürliche) Zeichen derselben, die ihnen ebensowenig ähnlich zu sein brauchen, wie der Rauch dem Feuer. Die sicherste Erkenntnis ist nicht die äußere, sondern die innere Wahrnehmung, deren Gegenstand die Tätigkeiten und Zustände (nicht aber das Wesen) der Seele sind. Die Wahrnehmung der seelischen Zustände ist eine unmittelbare, nicht sinnliche. Die empfindende Seele ist ausgedehnt, eine »Form« des Leibes, die geistige Seele eine vom Leibe trennbare Substanz, die in jedem Teile ganz ist. Vernunft und Wille sind nicht zwei Teile der Seele, sondern nur eine Kraft mit verschiedenen Funktionen (»una tantum res secundum diversa officia distincte significata«). Ebenso haben der tätige und leitende Verstand eine Wurzel.

Die Sittlichkeit führt O. auf den Willen Gottes zurück, der auch andere sittliche Werte hätte setzen können. Denn Gott vermag alles, was nicht in sich widerspruchsvoll ist. Die Dinge sind gut, weil Gott sie wollte (vgl. Duns Scotus).

Von Occam beeinflußte Nominalisten sind Robert Holcot, Nicolaus von Autricuria, Nicolas d'Oresme, Johann Buridan, Marsilius von Inghen, Pierre d'Ailly, Gabriel Biel u. a. Bei Occam finden sich schon Keime zum späteren englischen Empirismus und dessen Lehre von der Subjektivität der Sinnesqualitäten.

SCHRIFTEN: Quodlibeta septem, 1487, 1491. – Summa totius logices sive tractatus logices, 1488, 1961. – Quaestiones in libros Physicorum, 1491, 1506. – Quaestiones et decisiones in quatuor libros sententiarum, 1495. – Expositio aurea super totam artem veterem, videlicet in Porphyrii praedicabilia et Aristotelis praedicamenta, 1496. – Centiloquium theologicum, 1496. – Vgl. K. WERNER, Die Scholastik des späteren Mittelalters, 1884. – SIEBECK, O.s Erkenntnislehre, Archiv f. Gesch. d. Philosophie, X, 1897.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 509-511.
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