[560] Plotinos, geb. 204 oder 205 v. Chr. in Lykopolis (Ägypten), hörte in Alexandrien bei verschiedenen Lehrern, von denen ihm erst Ammonios Sakkas zusagte, Philosophie, nahm 242 am Kriegszuge des Kaisers Gordianus gegen die Perser teil, lehrte seit 244 in Rom Philosophie, wo er Schüler fand (darunter den Kaiser Gallienus, den er zur Gründung einer Philosophenstadt »Platonopolis« in Campanien zu bestimmen suchte), ging 268 nach Campanien, wo er 269 (oder 270) starb. Er führte ein streng sittliches, asketisches Leben und war so sehr auf Vergeistigung seines Ichs bedacht, daß er sich (nach Porphyr) schämte, einen Leib zu haben, und seine Eltern nicht nennen wollte. Er soll viermal den Zustand mystischer Ekstase erlebt haben. Was die Kraft des spekulativen Denkens anbelangt, gehört P. zu den bedeutendsten Philosophen. Er lehrte lange Zeit nur mündlich, dann schrieb er ein Werk in 54 Abhandlungen, welches sein Schüler Porphyrios in 6 Abteilungen zu je 9 Abhandlungen ordnete, wonach das Werk den Titel »Enneaden« führt.
Die erste »Enneade« enthält Ausführungen meist ethischen Inhalts, auch über die Dialektik und das Schöne; die zweite bezieht sich meist auf Naturphilosophie (Über den Himmel, die Materie, Potentialität u. a.); die dritte hat den Kosmos zum Gegenstand (Schicksal, Vorsehung, Liebe, Zeit und Ewigkeit, Geist u. a.); die vierte handelt von der Seele und deren Funktionen (Empfindung, Erinnerung, Unsterblichkeit u. a.); die fünfte vom Geiste, vom Intelligiblen und[560] Intellektuellen: die sechste vom Seienden, Guten, Einen (auch über Willensfreiheit, Kategorien u. a.).
P. ist der Hauptvertreter und systematische Begründer des Neuplatonismus. Platonische Anschauungen modifiziert er unter dem Einflusse des Aristoteles, der Stoa, des Pythagoreismus und anderer Lehren (vgl. Philon, Plutarch von Chäronea u. a.) zu einem idealistischen Emanationssystem, in welchem die Vielheit der Dinge aus einer alles überragenden Einheit (einem »Absoluten«), alles Körperliche aus geistigen und seelischen Kräften abgeleitet wird, wobei eine Stufenfolge vom Höchsten, Vollkommensten durch minder vollkommene Zwischenglieder zum Niedrigsten, Schlechtesten, Nichtigsten führt. Alles Niedere ist ein Erzeugnis des Höheren und ist in ihm.
Alles Seiende emaniert (ewig) aus Gott, dem über den Gegensatz von Denken und Sein, Geist und Natur, Subjekt und Objekt (to epekeina nou kai epekeina ousias) erhabenen Absoluten, »Einen« (hen). Was das »Eine« ist, läßt sich eigentlich nur negativ sagen, es ist nichts von der Vielheit des Existierenden, weder Denkendes noch Gedachtes, weder Form noch Materie, weder bewegt noch ruhend, weder Seele noch Körper, sondern frei von aller Gegensätzlichkeit und Bestimmtheit, nur sich selbst gleich und sich selbst genügend, ist es die Quelle von allem, der Urgrund (gennêtikê hê tou henos physis ousa tôn pantôn ouden estin autôn, VII, 9, 3). Gott ist überseiend und überweltlich, die Dinge stammen aus ihm, der ewig unveränderlich bleibt und haben in ihm ihr Leben (Panentheismus, aber ohne Persönlichkeit Gottes). Das »Eine« ist vor allem (pro pantôn), geht aller Mannigfaltigkeit voraus (III, 8, 8), die es dann in sich beschließt (VI, 7, 32); zugleich ist es das Ziel aller Dinge (VI, 2, 11). Gott ist absolut einfach. Das Werden der Dinge ist keine Teilung des Einen, sondern eine »Ausstrahlung« (perilampsis) wie der Glanz der Sonne (V, 1, 9; perilampsin ex autou men, ex autou de menontos, hoion hêliou to peri auton lampron), ein Ausfließen aus der Überfülle des göttlichen Wesens (tosouton plêthos exerrhyê. – to hyperplêres autou pepoiêken allo, V, 2, 1).
Das Emanierte, das Erzeugnis des Einen wendet sich diesem zu und wird durch sein Schauen zum Geist (oder Intellekt, nous) (to de genomenon eis auto epestraphê kai eplêrôthê kai egeneto pros auto blepon kai nous houtos, V, 1, 6), der schon minder vollkommen ist, weil ihm die Zweiheit (heterotês) von Denken (nous) und Gedachtem (noêton, Seiendem) anhaftet, die untrennbare Korrelate sind, gleichsam zwei Seiten eines Prinzips. »Denn da es vollkommen ist, weil es (das Eine) nichts sucht, noch hat, noch bedarf, so floß es gleichsam über und seine Überfülle brachte anderes hervor; das Gewordene aber wandte sich hin zu ihm und wurde erfüllt und blickte auf es und wurde so Intellekt. Und seine feste, nach jenem hingewandte Position wirkte das Seiende, das Schauen auf sich selbst den Intellekt. Indem es also zu sich selbst hingewandt stille steht, damit es sehe, wird es zugleich Intellekt und seiend« (V. 2, 1). Der Geist ist ein Abbild des Einen und enthält die Urbilder der Sinnendinge, die Ideen (IV, 8; III, 9; V, 5), die also (anders als bei Plato) dem (absoluten) Geiste immanent (hoti ouk exô tou ta noêta, III, 9; V, 11), eine Form des Geistes selbst sind (holos men ho nous ta panta eidê, hekastos eidos nous hekastos[561] V, 9, 8). Zugleich sind die Ideen (auch von Einzeldingen, V, 9, 12) gestaltende geistige Kräfte (noi, noerai dynameis, IV, 8, 3). Die Gesamtheit der Ideen bildet das Urbild der sinnlichen, eine intelligible Welt (kosmos noêtos), die voller Leben, raumlos, allgegenwärtig, ein »zweiter Gott« ist (V, 2, 3; V, 9, 9; V, 9, 13) und alles das, was in der Sinnenwelt als Vielheit und Veränderung auftritt, zur Einheit verbindet (IV, 1). In der Welt der Ideen gibt es Form (morphê) und Materie (morphoumenon, hylê hê tên morphên dechomenê kai aei to hypokeimenon, IV, 4, 4), welche letztere aber von der sinnlichen Materie wohl zu unterscheiden ist, welche nur das Abbild (mimêma) jener ist. Überhaupt unterscheidet P. die intelligiblen von den sinnlichen Kategorien, welche letztere nur Analoga jener sind (analogia kai homônymia, VI, 1 ff.; on, stasis, kinêsis, tautotês, heterotês).
Das Erzeugnis des Geistes (psychên genna nous, V, 1, 7) ist die Seele, das Mittlere zwischen der Ideal- und der Sinnenwelt, beiden zugewandt, immer noch göttlicher Art, wenn auch geringer als der Geist. Alles ist beseelt, lebendig, die Weltseele durchdringt alles, wirkt in allem und die Einzelseelen entsprießen ihr (IV, 3, 4 ff.). Die Seele ist kein Körper, keine Harmonie u. dgl., sondern eine immaterielle Substanz (IV, 2, 1), vom Leibe trennbar (IV, 3, 20), an sich einfach, ungeteilt, ganz, nur in bezug auf ihren Leib geteilt (IV, 2, 1; IV, 9, 2 ff.), ganz in jedem Teile des Leibes, wobei das Gehirn der Ausgangspunkt ihrer Tätigkeit ist (IV. 3. 23; IV, 8, 8). Sie ist nicht eigentlich im Körper, sondern dieser in ihr als ihr Organ (IV, 3, 22 ff.), dem sie erst seine Funktionen ermöglicht. Die Seele gestaltet sich selbst ihren Leib, der ohne sie kein solcher ist (sômatos men mê ontos oud' an proelthoi psychê, III, 4, 9); sie ist das Prinzip des Lebens und der Empfindung in den Pflanzen und Tieren. Sie ist unsterblich und hat schon präexistiert (IV, 3, 5 ff.). Die einheitliche Seele hat eine Mehrheit von Teilen, Formen Kräften (dynameis). Die Wahrnehmung ist eine Funktion der Seele (IV, 5, 1) und geht direkt auf die Dinge, ohne Aufnahme von »Bilderchen« u. dgl. (IV, 6, 1). Dem Denken liegt schon ein Streben zugrunde (V, 6, 5). Die Seele erkennt das Übersinnliche, indem sie das in ihr potentiell Ruhende entfaltet und bewußt macht (IV, 6, 1). Das Bewußtsein (synesis) ist eine reflexive Tätigkeit (synaisthêsis; anakamptontos tou noêmatos; anakolouthein), es gleicht einem Spiegel (I, 4, 1). Das Selbstbewußtsein (synaisthêsis hautês) ist eine Hinwendung (metabolê) des Geistes zu sich selbst (IV, 4; V, 1, 4). Das Gefühl ist die Empfindung einer Vollkommenheit oder Unvollkommenheit des Leibes (IV, 4, 10). Der Wille, welcher der eigenen Natur der Seele entspringt, nicht von außen gezwungen ist (III, 2, 10), ist frei, sofern die Seele der Vernunft folgt (III, 19; III, 2, 10). »Ohne Körper ist sie [in der intelligiblen Welt, von der sie in den Körper herabgestiegen ist] ihre eigenste Herrin, frei und außerhalb der kosmischen Ursache; aus ihrer Bahn in den Körper hinabgezogen, ist sie nicht mehr in allen Stücken ihre eigene Herrin, da sie ja mit anderen Dingen zu einer Ordnung verbunden ist« (III, 1, 8; vgl. Kant, Schelling, Schopenhauer u. a.).
Das letzte und geringste Erzeugnis in der Stufenfolge der Emanationen,[562] der volle Gegensatz zum »Einen« (I, 8, 7) ist die Materie (hylê), deren Begriff (wie nach Plato) ein »unechter« ist. Daß eine Materie bestehen muß, folgert P. aus dem Ineinander-Übergehen der Elemente, welches ein bleibendes, unbestimmtes Substrat erfordert (II, 416). Die Materie ist die »Tiefe« der Dinge (bathos hekastou), ohne qualitative Bestimmtheit (apeiron), formlos, aber formbar, eine »Beraubung« (sterêsis), ein Nichtseiendes (mê on), ein Böses (kakon, apousia agathou; II, 4, 3 ff.; III, 6, 6 ff.; I, 8, 7). Gestaltet wird sie durch geistige Formkräfte (logoi, noerai dynameis), welche zweckmäßig wirken, indem bei aller Gegensätzlichkeit des Geschehens die Vernunft in den Dingen alles zur Harmonie zusammenführt (III, 2, 16). Das Böse ist nicht im Seienden als solchen, sondern stammt aus der »alten Natur«, der Materie (I, 8, 3; I, 7), und das Böse der Seele beruht darauf, daß sie ihrer göttlichen Herkunft vergißt (V, 1). P. gibt (ähnlich wie die Stoa) eine Theodizee im optimistischen Sinne, indem er zeitigt, daß alles der Vernunft entspricht, daß eine möglichste Mannigfaltigkeit notwendig ist, daß das Schlechte für das Ganze gut sein kann usw. (III, 2, 8 ff.; IV, 16). In der schönen Harmonie des Alls löst sich alles. Überall waltet die Vorsehung, aber überall verschieden, den Dingen gemäß (III, 3, 5).
Das individuelle, leibliche Sein der Seele ist nach P. durch eine Art Abfall bedingt. Es gilt nun, sich von den Banden des Leibes, der Sinnlichkeit frei zu machen, die Seele zu läutern (katharsis, I, 2, 3), zu heben, indem sie sich dem Geistigen, Guten, Göttlichen zuwendet. Die Tugend, welche ein vernunftgemäßes Handeln (epaiein logou, III, 6, 2) ist, ist bürgerliche, reinigende und vergöttlichende Tugend. Letztere besteht in der Verähnlichung mit Gott (homoiôsis, theô homoiôthênai, I, 2, 1 ff.; V, 8, 11). Das Streben nach Vergottung ist die höchste der Tugenden. Das höchste Ziel aller Dinge liegt im Schauen, das Handeln ist nur ein abgeschwächtes Schauen und das Denken als Bewegung des Geistes nicht so vollkommen wie das ruhige, selige Schauen der göttlichen Einheit. Im Zustande der Ekstase (ekstasis), ruht die Seele, noch über das Schauen hinausgehend, mit Vereinfachung und Hingabe ihrer selbst (haplôsis, VI, 9, 11) in Gott, der unmittelbar erfaßt, »berührt« wird (haphê). Dann weiß die Seele nichts mehr von sich, sondern ist durch ihre eigene Einheit eins mit dem Einen, Göttlichen geworden (VI, 9, 7; 9, 11; 7, 25). Dann schaut sie »die Quelle des Lebens, die Quelle des Intellekts, das Prinzip des Seienden, den Grund des Guten, die Wurzel der Seele«. Dann ist sie dort, wo das wahre Leben ist, das Leben als geistige Tätigkeit, von dem sich das irdische Dasein entfernt hat. Dort sind wir selbst Gott geworden, vorläufig nur für kurze Zeit (in der Ekstase), einst aber dauernd. »Und so ist das Leben der Götter, der göttlichen und glückseligen Menschen eine Befreiung von allen Erdenfesseln, ein Leben ohne irdisches Lustgefühl, eine Flucht des einzig Einen zum einzig Einen.«
Göttlich ist nach P. auch das Schöne an sich, das intelligible Urschöne (V, 8, 1 ff.; VI, 2, 18). In der Natur ist das Urbild der sichtbaren Schönheit, ebenso in der Seele. Das Schöne ist »das an der Idee gleichsam Hervorstrahlende« (VI, 2,18). Das Schöne liegt nicht im Stoffe, sondern in der [563] Idee, wonach der Stoff gestaltet wird, also in etwas Geistigem. Die Künste ahmen nicht bloß die sinnlichen Erscheinungen nach, sondern steigen auf zu den Ideen (logoi), aus denen die Natur stammt und fügen dem Mangelhaften (aus der in der Künstlerseele wohnenden Idee) etwas hinzu (ouch haplôs to horômenon mimountai hai technai, all' anatrechousin epi tous logous, ex hôn hê physis; eita kai polla par' hautôn poiousin. Kai prostitheasi gar hotô ti elleipei, hôs echousai to kallos, V, 8, 1; ästhetischer Idealismus, Gehaltsästhetik). »Wenn nun... die sinnliche Wahrnehmung die den Körpern innewohnende Idee erblickt, wie sie die gegenüberstehende gestaltlose Natur bewältigt und zur Einheit verbindet..., so faßt sie jenes Vielfache zu einer Totalität zusammen, hebt es empor und setzt, es in Verbindung mit der bereits vorhandenen ungeteilten Idee im Innern und führt, es ihr als etwas Übereinstimmendes, Verwandtes und Befreundetes zu« (I, 6, 3).
Schüler P.s sind Amelios, Porphyrios u. a. (vgl. Neuplatoniker).
SCHRIFTEN: Enneaden, das Werk erschien zuerst lateinisch (in der Übersetzung des M. Ficinus) 1492, dann griechisch und lateinisch 1580, 1615, 1835, 1855, 1856; griechisch (ed. H. F. Müller), 1878-80, (ed. Volkmann), 1883-84; deutsch (von Müller), 1878-80; Auswahl von Kiefer, 1905. – Vgl. PORPHYRIOS, Vita Plotini, in der Ausgabe der Enneaden (ed. Müller, 1878) und bei Diog. Laërtius (ed. Cobet, 1850). – C. H. KIRCHNER, Die Philosophie des P., 1854. – A. RICHTER, Neuplatonische Studien, 1864-67. – A. DREWS, P. und der Untergang der antiken Weltanschauung, 1907. – K. HÖRST, P.s Ästhetik, 1905. – FALTER, Philon u. Plotin, 1906.
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