Seneca, Lucius Annäus

[668] Seneca, Lucius Annäus, geb. um 3 n. Chr. in Corduba als Sohn des Rhetors L. Annäus Seneca, Erzieher Neros, später bei ihm verdächtigt und gezwungen, sich selbst den Tod zu geben (65 n. Chr.).

S. ist einer der bedeutendsten römischen Stoiker, der aber in manchem von Plato, den Kynikern und Epikur beeinflußt ist. Im Gegensatze zum älteren Stoizismus macht er Konzessionen an die menschlichen Schwächen und meint, die Menschen seien schlecht und schwach und würden es immer bleiben. Seine Weltanschauung ist ganz die Stoische. Gott ist die alles durchdringende Weltkraft, die erste Ursache, von der alle anderen abhängen (»prima ommium causa, ea a qua ceterae pendent.«). Gott ist das All, ist alles, das[668] Ganze der Dinge; sein Wille ist das Weltgesetz. Gott ist der Geist des Alls, dessen Vernunft, Schicksal und Vorsehung; er hat die Urbilder der Dinge (Ideen) in sich, welche ewig sind. Die menschliche Vernunft oder Seele ist ein Ausfluß des göttlichen »Pneuma«, im Leibe gefesselt; sie ist unsterblich, geht nach dem Tode in die Ruhe des göttlichen Seins ein. Gott wohnt in uns (»intus est«), er ist uns nahe; wir leben in Gemeinschaft mit ihm (»socii Dei sumus et membra«).

Die Philosophie ist Streben nach Weisheit (»sapientiae amor«) und von der Tugend unabtrennbar; sie lehrt das Handeln (»facere docet philosophia, non dicere«), ist die Kunst der rechten Lebensführung; die Ethik ist ihr Ziel. Die Tugend ist das einzige Gut. Das Eigentümliche des Menschen ist die »rechte Vernunft« (recta ratio), durch die er seine Bestimmung erreicht und naturgemäß lebt. Einheit, Harmonie. Konsequenz des Verhaltens ist die vollkommene Tugend (»perfecta virtus est aequalitas et tenor vitae per omnia consonans sibi«). Wir sollen bis zuletzt auf unserem Posten stehen, uns für andere, für das allgemeine Wohl bemühen und auch den Feinden helfen. Die Menschen sind soziale Wesen, sind Verwandte, sind Glieder eines und desselben Ganzen; sie sollen menschlich sein, auch gegen Sklaven. Der Weise ist innerlich frei, stark und groß, besonders wenn er mit dem Unglück ringt, der Gottheit ähnlich. Nicht leben, sondern gut leben ist ein Gut. Der Weise lebt nur solange er soll, nicht solange er kann; der Tod macht ihn frei von aller Knechtschaft.

S., den die Sage fälschlich zu einem Christen gemacht hat, wurde im Mittelalter und auch noch später viel gelesen und hat so einen großen Einfluß ausgeübt.

SCHRIFTEN: Quaestionum naturalium libri VII, ed. Köhler 1819. – Dialogorum libri XII, ed. Gertz 1886 (De providentia; de constantia sapientis; de ira; de consolatione; de brevitate vitae; de otio; de vita beata). – De tranquillitate animi; de clementia; de beneficiis. Epistolae morales ad Lucilium (1809). – Opera, 1649, 1797-1811, 1842-45, 1852 f., 1898 ff. (bei Teubner). – Von der Vorsehung, 1790. – Vom glückseligen Leben, deutsch von H. Schmidt (bei Kröner). – Sentenzen, deutsch von Preisendanz, 1908. = Vgl. AUBERTIN, Sénèque et St. Paul, 1857-69. – W. RIBBECK. S. der Philosoph, 1887. – A. GERCKE, Seneca-Studien, Jahrb. f. klass. Philologie, Supplem.-Bd. 22, 1896. – RUBIN, Die Ethik S.s, 1901. – STRÜBER, S. als Psychologe, 1906. – F. V. HAGEN, Zur Metaphysik des L. A. S., 1905.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 668-669.
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