I

[165] Es ist in der Geschichte der europäischen Staaten wohl kaum noch einmal vorgekommen, daß ein Souverän einer Großmacht einem Nachbarn dieselben Dienste erwiesen hat, wie der Kaiser Nicolaus der österreichischen Monarchie. In der gefährdeten Lage, in welcher diese sich 1849 befand, kam er ihr mit 200000 Mann zu Hülfe, unterwarf Ungarn, stellte dort die königliche Gewalt wieder her und zog seine Truppen zurück, ohne einen Vortheil oder eine Entschädigung zu verlangen, ohne die orientalischen und polnischen Streitfragen beider Staaten zu erwähnen. Dieser uninteressirte Freundschaftsdienst auf dem Gebiet der innern Politik Oesterreich-Ungarns wurde von dem Kaiser Nicolaus in der auswärtigen Politik in den Tagen von Olmütz auf Kosten Preußens unvermindert fortgesetzt. Wenn er auch nicht durch Freundschaft, sondern ebenso wohl durch die Erwägungen kaiserlich russischer Politik beeinflußt war, so war es immerhin mehr, als ein Souverän für einen andern zu thun pflegt, und nur in einem so eigenmächtigen und übertrieben ritterlichen Autokraten erklärlich. Nicolaus sah damals auf den Kaiser Franz Joseph als auf seinen Nachfolger und Erben in der Führung der conservativen Trias. Er betrachtete die letztere als solidarisch der Revolution gegenüber und hatte bezüglich der Fortsetzung der Hegemonie mehr Vertrauen zu Franz Joseph als zu seinem eignen Nachfolger. Noch geringer war seine Meinung von der Veranlagung unsres Königs Friedrich Wilhelm[165] für die Führerrolle auf dem Gebiete praktischer Politik; er hielt denselben zur Leitung der monarchischen Trias für so wenig geeignet wie den eignen Sohn und Nachfolger. Er handelte in Ungarn und in Olmütz in der Ueberzeugung, daß er nach Gottes Willen den Beruf habe, der Führer monarchischen Widerstandes gegen die von Westen vordringende Revolution zu sein. Er war eine ideale Natur, aber verhärtet in der Isolirung der russischen Autokratie, und es ist wunderbar genug, daß er sich unter allen Eindrücken von den Decabristen an durch alle folgenden Erlebnisse hindurch diesen idealen Schwung erhalten hatte.

Wie er über seine Stellung zu seinen Unterthanen empfand, ergibt sich aus einer Tatsache, die mir Friedrich Wilhelm IV. selbst erzählt hat. Der Kaiser Nicolaus bat ihn um Zusendung von zwei Unteroffizieren der preußischen Garde, behufs Ausführung gewisser ärztlich vorgeschriebener Knetungen, die auf dem Rücken des Patienten vorgenommen werden mußten, während dieser auf dem Bauche lag. Er sagte dabei: »Mit meinen Russen werde ich immer fertig, wenn ich ihnen in's Gesicht sehen kann, aber auf den Rücken ohne Augen möchte ich mir sie doch nicht kommen lassen.« Die Unteroffiziere wurden in discreter Weise gestellt, verwendet und reich belohnt. Es zeigt dies, wie trotz der religiösen Hingebung des russischen Volks für seinen Zaren der Kaiser Nicolaus doch auch dem gemeinen Manne unter seinen Unterthanen seine persönliche Sicherheit unter vier Augen nicht unbeschränkt anvertraute; und es ist ein Zeichen großer Charakterstärke, daß er von diesen Empfindungen sich bis an sein Lebensende nicht niederdrücken ließ. Hätten wir damals auf dem Throne eine Persönlichkeit gehabt, die ihm ebenso sympathisch gewesen wäre wie der junge Kaiser Franz Joseph, so hätte er vielleicht in dem damaligen Streit um die Hegemonie in Deutschland für Preußen ebenso Partei genommen, wie er es für Oesterreich gethan hat. Vorbedingung dazu wäre gewesen, daß Friedrich Wilhelm IV. den Sieg seiner Truppen im März 1848 festgehalten und ausgenutzt hätte, was ja möglich war ohne weitere Repressionen derart, wie Oesterreich sie in Prag und Wien durch Windischgrätz und in Ungarn durch russische Hilfe zu bewirken genöthigt war.

In der Petersburger Gesellschaft ließen sich zu meiner Zeit drei Generationen unterscheiden. Die vornehmste, die europäisch und classisch gebildeten Grand Seigneurs aus der Regierungszeit Alexander's I., war im Aussterben. Zu derselben konnte man noch rechnen Mentschikow, Woronzow, Bludow, Nesselrode und, was[166] Geist und Bildung betrifft, Gortschakow, dessen Niveau durch seine übertriebene Eitelkeit etwas herabgedrückt war im Vergleich mit den übrigen Genannten, Leuten, die classisch gebildet waren, gut und geläufig nicht nur französisch, sondern auch deutsch sprachen und der creme europäischer Gesittung angehörten.

Die Generation, die mit dem Kaiser Nicolaus gleichaltrig war oder doch seinen Stempel trug, pflegte sich in der Unterhaltung auf Hofangelegenheiten, Theater, Avancement und militärische Erlebnisse zu beschränken. Unter ihnen sind als der ältern Kategorie geistig näher stehende Ausnahmen zu nennen der alte Fürst Orlow, hervorragend an Charakter, Höflichkeit und Zuverlässigkeit für uns; der Graf Adlerberg Vater und sein Sohn, der nachherige Hofminister, mit Peter Schuwalow der einsichtigste Kopf, mit dem ich dort in Beziehungen gekommen bin und dem nur Arbeitsamkeit fehlte, um eine leitende Rolle zu spielen; der Fürst Suworow, der wohlwollendste für uns Deutsche, bei dem der russische General nicolaitischer Tradition stark, aber nicht unangenehm, mit burschikosen Reminiscenzen deutscher Universitäten versetzt war; mit ihm dauernd im Streit und doch in gewisser Freundschaft Tschewkin, der Eisenbahn-General, von einer Schärfe und Feinheit des Verständnisses, wie sie bei Verwachsenen mit der ihnen eigenthümlichen klugen Kopfbildung nicht selten gefunden wird; endlich der Baron Peter von Meyendorff, für mich die sympathischste Erscheinung unter den älteren Politikern, früher Gesandter in Berlin, der nach seiner Bildung und der Feinheit seiner Formen mehr dem alexandrinischen Zeitalter angehörte und in demselben durch Intelligenz und Tapferkeit sich aus der Stellung eines jungen Offiziers in einem Linienregimente, in welchem er die französischen Kriege mitgemacht, zu einem Staatsmanne emporgearbeitet hatte, dessen Wort bei dem Kaiser Nicolaus erheblich in's Gewicht fiel. Die Annehmlichkeit seines gastfreien Hauses in Berlin wie in Petersburg wurde wesentlich erhöht durch seine Gemahlin, eine männlich kluge, vornehme, ehrliche und liebenswürdige Frau, die in noch höherem Grade als ihre Schwester, Frau von Vrints in Frankfurt, den Beweis lieferte, daß in der gräflich Buol'schen Familie der erbliche Verstand ein Kunkellehn war. Ihr Bruder, der österreichische Minister Graf Buol, hatte daran nicht den Antheil geerbt, der zur Leitung der Politik einer großen Monarchie unentbehrlich ist. Die beiden Geschwister standen einander persönlich nicht näher als die russische und die österreichische Politik. Als ich 1852 in besonderer Mission in Wien beglaubigt war,[167] war das Verhältnis zwischen ihnen noch derart, daß Frau von Meyendorff geneigt war, mir das Gelingen meiner für Oesterreich freundlichen Mission zu erleichtern, wofür ohne Zweifel die Instruktionen ihres Gemahls maßgebend waren. Der Kaiser Nicolaus wünschte damals unsre Verständigung mit Oesterreich. Als ein oder zwei Jahre später zur Krimzeit von meiner Ernennung nach Wien die Rede war, fand das Verhältniß zwischen ihr und ihrem Bruder in den Worten Ausdruck: sie hoffe, daß ich nach Wien kommen und »dem Karl ein Gallenfieber anärgern würde«. Frau von Meyendorff war als Frau ihres Gemahls patriotische Russin und würde auch ohnedies schon nach ihrem persönlichen Gefühl die feindselige und undankbare Politik nicht gebilligt haben, zu welcher der Graf Buol Oesterreich bewogen hatte.

Die dritte Generation, die der jungen Herren, zeigte in ihrem gesellschaftlichen Auftreten meist weniger Höflichkeit, mitunter schlechte Manieren und in der Regel stärkere Abneigung gegen deutsche, insbesondere preußische Elemente als die beiden älteren Generationen. Wenn man, des Russischen unkundig, sie deutsch anredete, so waren sie geneigt, ihre Kenntniß dieser Sprache zu verleugnen, unfreundlich oder gar nicht zu antworten und Civilisten gegenüber unter das Maß von Höflichkeit herabzugehen, welches sie in den Uniform oder Orden tragenden Kreisen untereinander beobachteten. Es war eine zweckmäßige Einrichtung der Polizei, daß die Dienerschaft der Vertreter auswärtiger Regierungen durch Tressen und das der Diplomatie vorbehaltene Costüm eines Livree-Jägers gekennzeichnet war. Die Angehörigen des diplomatischen Corps würden sonst, da sie nicht die Gewohnheit hatten, auf der Straße Uniform oder Orden zu tragen, sowohl von der Polizei als von Mitgliedern der höheren Gesellschaft denselben zu Conflicten führenden Unannehmlichkeiten ausgesetzt gewesen sein, welche ein ordensloser Civilist, der nicht als vornehmer Mann bekannt war, im Straßenverkehr und auf Dampfschiffen leicht erleben konnte.

In dem napoleonischen Paris habe ich dieselbe Beobachtung gemacht. Wenn ich länger dort gewohnt hätte, so würde ich mich haben daran gewöhnen müssen, nach französischer Sitte mich nicht ohne Andeutung einer Dekoration auf der Straße zu Fuß zu bewegen. Ich habe auf den Boulevards erlebt, daß bei einer Festlichkeit einige hundert Menschen sich weder vorwärts noch rückwärts bewegen konnten, weil sie infolge mangelhafter Anordnung zwischen zwei in verschiedener Richtung marschirende Truppentheile gerathen[168] waren, und daß die Polizei, welche das Hemmniß nicht wahrgenommen hatte, auf diese Masse gewaltthätig mit Faustschlägen und den in Paris so üblichen coups de pied einstürmte, bis sie auf einen »Monsieur décoré« stieß. Das rothe Bändchen bewog die Polizisten, die Protestationen des Trägers wenigstens anzuhören und sich endlich überzeugen zu lassen, daß der anscheinend widerspenstige Volkshaufe zwischen zwei Truppentheilen eingeklemmt war und deshalb nicht ausweichen konnte. Der Führer der aufgeregten Polizisten zog sich durch den Scherz aus der Affaire, daß er auf die bis dahin von ihm nicht bemerkten im pas gymnastique defilirenden chasseurs de Vincennes deutend, sagte: »Eh bien, il faut enfoncer ça!« Das Publikum, einschließlich der Mißhandelten, lachte, die von Thätlichkeiten Verschonten entfernten sich mit einem dankbaren Gefühl für den décoré, dessen Anwesenheit sie gerettet hatte.

Auch in Petersburg würde ich es für zweckmäßig gehalten haben, auf der Straße die Andeutung eines höheren russischen Ordens zu tragen, wenn die großen Entfernungen es nicht mit sich gebracht hätten, daß man in den Straßen mehr zu Wagen mit Tressenlivree als zu Fuße sich zeigte. Schon zu Pferde, wenn in Civil und ohne Reitknecht, lief man Gefahr, von den durch ihr Costüm kenntlichen Kutschern der höheren Würdenträger wörtlich und thätlich angefahren zu werden, wenn man mit ihnen in unvermeidliche Berührung gerieth; und wer hinreichend Herr seines Pferdes war und eine Gerte in der Hand hatte, that wohl, sich bei solchen Conflicten als gleichberechtigt mit dem Insassen des Wagens zu legitimiren. Von den wenigen Reitern in der Umgebung von Petersburg konnte man in der Regel annehmen, daß sie deutsche oder englische Kaufleute waren und in dieser ihrer Stellung ärgerliche Berührungen nach Möglichkeit vermieden und lieber ertrugen, als sich bei den Behörden zu beschweren. Offiziere machte nur in ganz geringer Zahl von den guten Reitwegen auf den Inseln und weiter außerhalb der Stadt Gebrauch, und die es thaten, waren in der Regel deutschen Herkommens. Das Bemühen höheren Ortes, den Offizieren mehr Geschmack am Reiten beizubringen, hatte keinen dauernden Erfolg und bewirkte nur, daß nach einer jeden Anregung derart die kaiserlichen Equipagen einige Tage lang mehr Reitern als gewöhnlich begegneten. Eine Merkwürdigkeit war es, daß als die besten Reiter unter den Offizieren die beiden Admiräle anerkannt waren, der Großfürst Constantin und der Fürst Mentschikow.[169]

Auch abgesehen von der Reiterei mußte man wahrnehmen, daß in guten Manieren und gesellschaftlichem Tone die jüngere zeitgenössische Generation zurück stand gegen die vorhergehende des Kaisers Nicolaus und beide wieder in europäischer Bildung und Gesammterziehung gegen die alten Herren aus der Zeit Alexander's I. Dessenungeachtet blieb innerhalb der Hofkreise und der »Gesellschaft« der vollendete gute Ton in Geltung und in den Häusern der Aristokratie, namentlich so weit in diesen die Herrschaft der Damen reichte. Aber die Höflichkeit der Formen verminderte sich erheblich, wenn man mit jüngeren Herren in Situationen gerieth, welche nicht durch den Einfluß des Hofes oder vornehmer Frauen controllirt waren. Ich will nicht entscheiden, wie weit das Wahrgenommene aus einer socialen Reaktion der jüngeren Gesellschaftsschicht gegen die früher wirksam gewesenen deutschen Einflüsse oder aus einem Sinken der Erziehung in der jüngeren russischen Gesellschaft seit der Epoche des Kaisers Alexander I. zu erklären ist, vielleicht auch aus der Contagion, welche die sociale Entwicklung der Pariser Kreise auf die der höheren russischen Gesellschaft auszuüben pflegt. Gute Manieren und vollkommene Höflichkeit sind in den herrschenden Kreisen von Frankreich außerhalb des Faubourg St. Germain heut nicht mehr so verbreitet, wie es früher der Fall war und wie ich sie in Berührung mit älteren Franzosen und mit französischen und noch gewinnender bei russischen Damen kennen gelernt habe. Da übrigens meine Stellung in Petersburg mich nicht zu einem intimen Verkehr mit der jüngsten erwachsenen Generation nöthigte, so habe ich von mei nem dortigen Aufenthalt nur die angenehme Erinnerung behalten, welche ich der Liebenswürdigkeit des Hofes, der älteren Herren und der Damen der Gesellschaft verdanke.

Die antideutsche Stimmung der jüngeren Generation hat sich demnächst mir und Andern auch auf dem Gebiete der politischen Beziehungen zu uns fühlbar gemacht, in verstärktem Maße, seit mein russischer Kollege, Fürst Gortschakow, seine ihn beherrschende Eitelkeit auch mir gegenüber herauskehrte. So lange er das Gefühl hatte, in mir einen jüngeren Freund zu sehen, an dessen politischer Erziehung er einen Antheil beanspruchte, war sein Wohlwollen für mich unbegrenzt, und die Formen, in denen er mir Vertrauen zeigte, überschritten die unter Diplomaten zulässige Grenze, vielleicht aus Berechnung, vielleicht aus Ostentation einem Collegen gegenüber, an dessen bewunderndes Verständniß mir gelungen war ihn glauben zu machen. Diese Beziehungen wurden unhaltbar,[170] sobald ich als preußischer Minister ihm die Illusion seiner persönlichen und staatlichen Ueberlegenheit nicht mehr lassen konnte. Hinc irae. Sobald ich selbstständig als Deutscher oder Preuße oder als Rival im europäischen Ansehen und in der geschichtlichen Publicistik aufzutreten begann, verwandelte sich sein Wohlwollen in Mißgunst.

Ob diese Wandlung erst nach 1870 begann oder ob sie sich vor diesem Jahre meiner Wahrnehmung entzogen hatte, lasse ich dahingestellt. Wenn Ersteres der Fall war, so kann ich als ein achtbares und für einen russischen Kanzler berechtigtes Motiv den Irrthum der Berechnung in Anschlag bringen, daß die Entfremdung zwischen uns und Oesterreich auch nach 1866 dauernd fortbestehen werde. Wir haben 1870 der russischen Politik bereitwillig beigestanden, um sie im Schwarzen Meere von den Beschränkungen zu lösen, welche der Pariser Vertrag ihr auferlegt hatte. Dieselben waren unnatürlich, und das Verbot der freien Bewegung an der eignen Meeresküste für eine Macht wie Rußland auf die Dauer unerträglich, weil demüthigend. Außerdem lag und liegt es nicht in unserm Interesse, Rußland in der Verwendung seiner überschüssigen Kräfte nach Osten hin hinderlich zu sein; wir sollen froh sein, wenn wir in unserer Lage und geschichtlichen Entwicklung in Europa Mächte linden, mit denen wir auf keine Art von Concurrenz der politischen Interessen angewiesen sind, wie das zwischen uns und Rußland bisher der Fall ist. Mit Frankreich werden wir nie sichern Frieden haben, mit Rußland nie die Nothwendigkeit des Krieges, wenn nicht liberale Dummheiten oder dynastische Mißgriffe die Situation fälschen.

Quelle:
Bismarck, Otto Eduard Leopold: Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart 1959, S. 165-171.
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