[316] In Berlin war ich äußerlich mit dem Verhältniß Preußens zu den neuerworbenen Provinzen und den übrigen norddeutschen Staaten, innerlich mit der Stimmung der auswärtigen Mächte und Erwägung ihres wahrscheinlichen Verhaltens beschäftigt. Unsre innere Lage hatte für mich und vielleicht für Jeden den Charakter des Provisoriums und der Unreife. Die Rückwirkung der Vergrößerung Preußens, der bevorstehenden Verhandlungen über den[316] Norddeutschen Bund und seine Verfassung ließen unsre innere Entwicklung ebenso sehr im Fluß begriffen erscheinen wie unsre Beziehungen zum deutschen und außerdeutschen Auslande es waren, vermöge der europäischen Situation, in welcher der Krieg abgebrochen wurde. Ich nahm als sicher an, daß der Krieg mit Frankreich auf dem Wege zu unsrer weiteren nationalen Entwicklung, sowohl der intensiven als der über den Main hinaus extensiven, nothwendig werde geführt werden müssen und daß wir diese Eventualität bei allen unsern Verhältnissen im Innern wie nach Außen im Auge zu behalten hätten. Louis Napoleon sah in einiger Vergrößerung Preußens in Norddeutschland nicht nur keine Gefahr für Frankreich, sondern ein Mittel gegen die Einigung und nationale Entwicklung Deutschlands; er glaubte, daß dessen außerpreußische Glieder sich dann des französischen Schutzes um so bedürftiger fühlen würden. Er hatte Rheinbundreminiscenzen und wollte die Entwicklung in der Richtung eines Gesammt-Deutschlands hindern. Er glaubte es zu können, weil er die nationale Stimmung des Tages nicht kannte und die Situation nach seinen süddeutschen Schulerinnerungen und nach diplomatischen Berichten beurtheilte, die nur auf ministerielle und sporadisch dynastische Stimmungen gegründet waren. Ich war überzeugt, daß ihr Gewicht schwinden würde; ich nahm an, daß ein Gesammt-Deutschland nur eine Frage der Zeit und daß zu deren Lösung der Norddeutsche Bund die erste Etappe sei, daß aber die Feindschaft Frankreichs und vielleicht Rußlands, das Revanchebedürfniß Oesterreichs für 1866 und der preußisch-dynastische Particularismus des Königs nicht zu früh in die Schranken gerufen werden dürfe. Ich war nicht zweifelhaft, daß ein deutsch-französischer Krieg werde geführt werden müssen, bevor die Gesammt-Einrichtung Deutschlands sich verwirklichte. Diesen Krieg hinauszuschieben, bis unsre Streitkräfte durch Anwendung der preußischen Wehrgesetzgebung nicht blos auf Hannover, Hessen und Holstein, sondern, wie ich damals schon nach der Fühlung mit den Süddeutschen hoffen durfte, auch auf diese, gestärkt wären, war ein Gedanke, der mich damals beherrschte. Ich hielt einen Krieg mit Frankreich im Hinblick auf die Erfolge der Franzosen im Krimkriege und in Italien für eine Gefahr, die ich damals überschätzte, indem mir die für Frankreich erreichbare Truppenziffer, die Ordnung und die Organisation und das Geschick in der Führung als höher und besser vorschwebten, als sich 1870 bestätigt hat. Die Tapferkeit des französischen Troupiers und die Höhe des nationalen Gefühls und der verletzten[317] Eitelkeit haben sich vollkommen in dem Maße bewährt, wie ich sie für die Eventualität einer deutschen Invasion in Frankreich eingeschätzt hatte, in Erinnerung an die Erlebnisse von 1814, 1792, und zu Anfang des vorigen Jahrhunderts im spanischen Erbfolgekriege, wo das Eindringen fremder Heere stets ähnliche Erscheinungen wie das Stökern in einem Ameisenhausen hervorgerufen hat. Für leicht habe ich den französischen Krieg niemals gehalten, ganz abgesehen von den Bundesgenossen, welche Frankreich in dem österreichischen Revanchegefühl und in dem russischen Gleichgewichtsbedürfniß finden konnte. Mein Bestreben, diesen Krieg hinauszuschieben, bis die Wirkung unsrer Wehrgesetzgebung und militärischen Erziehung auf alle nicht altpreußischen Landestheile sich vollständig hätte entwickeln können, war also natürlich, und dieses mein Ziel war 1867 bei der Luxemburger Frage nicht annähernd erreicht. Jedes Jahr Aufschub des Krieges stärkte unser Heer um mehr als 100000 gelernte Soldaten. Bei der Indemnitätsfrage dem Könige gegenüber und bei der Verfassungsfrage im preußischen Landtage aber stand ich unter dem Druck des Bedürfnisses, dem Auslande keine Spur von vorhandenen oder bevorstehenden Hemmnissen durch unsre innre Lage, sondern nur die einige nationale Stimmung zur Anschauung zu bringen, um so mehr, als sich nicht ermessen ließ, welche Bundesgenossen Frankreich im Kriege gegen uns haben werde. Die Verhandlungen und Annäherungsversuche zwischen Frankreich und Oesterreich in Salzburg und anderswo bald nach 1866, konnten unter Leitung des Herrn von Beust erfolgreich sein, und schon die Berufung dieses verstimmten sächsischen Ministers zur Leitung der Wiener Politik ließ darauf schließen, daß dieselbe die Richtung der Revanche einschlagen würde.
Die Haltung Italiens war nach der Fügsamkeit gegen Napoleon, die wir 1866 kennen gelernt hatten, eine unberechenbare, sobald französischer Druck stattfand. Der General Govone war, als ich in Berlin im Frühjahr 1866 mit ihm verhandelte, erschrocken, als ich den Wunsch äußerte, er möge zu Haus anfragen, ob wir auch gegen Napoleonische Verstimmungen auf Italiens Vertragstreue rechnen dürften. Er sagte, daß eine solche Rückfrage an demselben Tage nach Paris telegraphirt werden würde, mit der Anfrage, »was man antworten solle?« In der öffentlichen Meinung Italiens konnte ich auf sicheren Anhalt nicht rechnen nach der Haltung der italienischen Politik während des Krieges, nicht blos auf Grund der persönlichen Freundschaft Victor Emanuels für Louis Napoleon, sondern nach[318] Maßgabe der durch Garibaldi im Namen der öffentlichen Meinung Italiens bekundeten Parteinahme und der Thatsache, daß seine Popularität durch die Rolle, die er als französischer Condottiere gespielt, sich nicht vermindert hatte. Der Dreibund Italiens mit Frankreich und Oesterreich lag nicht blos nach meiner Befürchtung, sondern nach der öffentlichen Meinung in Europa nicht außerhalb der Wahrscheinlichkeit.
Von Rußland war einer solchen Coalition gegenüber activer Beistand schwerlich zu erwarten. Mir selbst hatte der russenfreundliche Einfluß, den ich in der Zeit des Krimkrieges auf die Entschließungen Friedrich Wilhelms IV. auszuüben vermochte, das Wohlwollen des Kaisers Alexander erworben, und sein Vertrauen zu mir war in der Zeit meiner Gesandtschaft in Petersburg gewachsen. Inzwischen aber hatte in dem dortigen Cabinet unter Gortschakows Leitung der Zweifel an der Nützlichkeit einer so bedeutenden Kräftigung Preußens für Rußland die Wirkung der kaiserlichen Freundschaft für den Kaiser Wilhelm und der Dankbarkeit für unsre Politik in der polnischen Frage von 1863 aufzuwiegen angefangen. Wenn die Mittheilung richtig ist, welche Drouyn de Lhuys dem Grafen Vitzthum von Eckstädt1 gemacht hat, so hat Gortschakow im Juli 1866 den Kaiser Napoleon zu einem gemeinsamen Proteste gegen die Beseitigung des Deutschen Bundes aufgefordert und eine Ablehnung erfahren. Der Kaiser Alexander hatte in der ersten Ueberraschung und nach der Sendung Manteuffels nach Petersburg dem Ergebniß der Nikolsburger Präliminarien generell und obiter zugestimmt; der Haß gegen Oesterreich, welcher seit dem Krimkriege die öffentliche Meinung der russischen »Gesellschaft« beherrschte, hatte zunächst seine Befriedigung gefunden in den Niederlagen Oesterreichs; dieser Stimmung standen aber russische Interessen gegenüber, die sich an den zarischen Einfluß in Deutschland und an dessen Bedrohung durch Frankreich knüpften.
Ich nahm zwar an, daß wir gegen eine Coalition, welche Frankreich etwa gegen uns aufbringen würde, auf russischen Beistand würden zählen können, oder [aber] doch erst, wenn wir das Unglück gehabt haben sollten, Niederlagen zu erleiden, vermöge deren die Frage näher gerückt wäre, ob Rußland die Nachbar schaft einer siegreichen französisch-österreichischen Coalition an seinen polnischen Grenzen vertragen könne. Die Unbequemlichkeit einer solchen Nachbarschaft wäre vielleicht noch größer geworden,[319] wenn statt des antipäpstlichen Königreichs Italien das Papstthum selbst der Dritte im Bunde der beiden katholischen Großmächte geworden wäre. Bis zum Näherrücken solcher Gefährlichkeit infolge preußischer Niederlagen hielt ich aber für wahrscheinlich, daß Rußland es nicht ungern sähe, wenigstens es nicht verhindern würde, wenn eine numerisch überlegene Coalition einiges Wasser in unsern Wein von 1866 gegossen hätte.
Von England durften wir einen activen Beistand gegen den Kaiser Napoleon nicht erwarten, obschon die englische Politik einer starken befreundeten Continentalmacht mit vielen Bataillonen bedarf und dieses Bedürfniß unter Pitt, Vater und Sohn, zu Gunsten Preußens, später, seit 1814, Oesterreichs, und dann unter Palmerston bis zu den spanischen Heirathen, dann wieder unter Clarendon zu Gunsten Frankreichs gepflegt hatte. Das Bedürfniß der englischen Politik war entweder entente cordiale mit Frankreich oder Besitz eines starken Bundesgenossen gegen Frankreichs Feindschaft. England ist wohl bereit, das stärkere Deutsch-Preußen als Ersatz für Oesterreich hinzunehmen; und in der Lage vom Herbst 1866 konnten wir auf platonisches Wohlwollen und belehrende Zeitungsartikel dort allenfalls zählen; aber bis zum activen Beistande zu Wasser und zu Lande würde sich die theoretische Sympathie schwerlich verdichtet haben. Die Vorgänge von 1870 haben gezeigt, daß ich in der Einschätzung Englands Recht hatte. Mit einer für uns jedenfalls verstimmenden Bereitwilligkeit übernahm man in London die Vertretung Frankreichs in Norddeutschland, und während des Krieges hat man sich niemals zu unsern Gunsten so weit compromittirt, daß nicht die französische Freundschaft gewahrt worden wäre; im Gegentheil.
1 | London, Gastein und Sadowa. Stuttgart 1890. S. 248. |
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