Die Reformen Heinrichs I.

[111] Die berühmte Stelle bei Widukind I, 35 lautet: »ex agrariis militibus nonum quemque eligens in urbibus habitare fecit, ut caeteris confamiliaribus suis octo habitacula exstrueret, frugum omnium tertiam partem exciperet servaretque, ceteri vero octo seminarent et meterent frugesque colligerent nono et suis eas locis reconderent. Concilia et omnes conventus atque convivia in urbibus voluit celebrari.« Ferner cap. 39: »cum jam militem haberet equestri proelio probatum.«

Die erste Stelle über die agrarii militis und den Burgenbau hat jüngst DIETR. SCHÄFER in den Sitz.-Ber. d. Berl. Akad. d. Wissensch. XXVII, 1905, 25. Mai behandelt. Während NITZSCH in der Deutschen Geschichte I, 306 rundweg erklärt, »was agrarii milites heißt, wissen wir nicht«, HEGEL »Umwohner des Landes«, KEUTGEN »heerbannpflichtige Bauern«, RODENBERG (Mitteil. d. Instituts für östreich. Gesch. XVII, 162) (1896) alle Freien darunter verstehen will, sucht SCHÄFER[111] die Ansicht, die ehedem KÖPKE, WAITZ, GIESEBRECHT aufgestellt haben, zu rechtfertigen, daß nämlich die agrarii milites die auf dem Lande angesiedelten Berufskrieger des Königs, die Ministerialen, seien. Alles, was Schäfer für diese Ansicht anführt, scheint mir zutreffend, aber, abgesehen von der unrealisierbaren Neunerzahl, ist er auf das eigentliche Gegen-Argument, daß nämlich die acht draußenbleibenden milites säen und ernten sollen, nicht eingegangen.

Hier steckt aber erst die Schwierigkeit, und zwar die unlösbare. Die »agrarii milites« waren Berufskrieger – Schäfer hat es schlagend nachgewiesen. Sie waren aber auch Bauern – Widukind beschreibt sie ausdrücklich als solche. Berufskrieger sind aber nicht zugleich Bauern.111 Folglich ist die Erzählung Widukinds überhaupt kein historischer Vorgang, sondern eine Legende. Sobald man sie unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, lösen sich alle ihre Rätsel. Denn bei einer Volksüberlieferung geschieht es sehr leicht und oft, daß mehrere Vorgänge, ohne daß man sich des Widerspruchs, der dabei entsteht, bewußt wird, untereinander verschmolzen werden. Man hat zu Widukinds Zeit den bestehenden Zustand, daß ein Teil des Kriegerstandes, die karolingische scara, auf den Burgen als stehende Besatzung, ein Teil auf dem Lande auf Lehnsgütern lebte, projiziert auf die Erinnerung, daß ehedem alle freien Volksgenossen zugleich Krieger und Bauern waren und sich die Abwandlung durch ein Gesetz Heinrichs I. zu erklären gesucht. Dabei flossen dann die agrarii milites der älteren Zeit (als sie noch Bauern waren) mit denen der neueren zusammen (als sie Berufskrieger waren), und so entstand der Widersinn, daß die Lieferungen und Abgaben, die auf den Burgen gesammelt und wodurch sie verproviantiert wurden, als Leistungen der angesiedelten Vasallen, statt der Bauerschaften erscheinen.

Eine interessante Parallel-Sage zu der Erzählung Widukinds von den militärischen Einrichtungen Heinrichs I. bildet die oben schon erwähnte Erzählung des Presbyter Bremensis, der um die Mitte des 15. Jahrhunderts schrieb und berichtet: Rustici de parochiis Scenevelde, Hademersch, Westede, Nortorpe, Bornehovede, Bramstede, Koldenkerken, Kellinghusen »cum inhabitantibus paludem Wilstriae, hi dicuntur veri Holsati. Et horum auxilio seniores comites Holsatie obtinuere triumphos. Ex his elegit comes Nicolaus (Mitte des 14. Jahrh.) certos viros, de magnis villis unum villanum, de parvis duabus villis unum. Hos, quando indiguit, habuit secum in armis. Nam dictus e. N. sic ordinavit, quod dicti rustici non offendebantur ab advocatis et quod equos valentes tenerent et arma haberent praesertim pileum ferreum, scutum et troyam sive diploidem, ferrea brachialia et chirothecas[112] ferreas, circum amicti balteis latis et amplis. Rustici autem remanentes domi stabant expensas illorum, qui fuerant cum domino terre in campo usque ad reditum ipsorum in domos suos.«

Was den Roßdienst betrifft, so meint WAITZ in seinem Heinrich I. S. 391, 3. Aufl. S. 101 (vgl. D. Verf.-Gesch. VIII, 112): »Es ist wahrscheinlich, daß Heinrich das allgemeine Aufgebot zu Roß dienen ließ oder wenigstens aus demselben eine leichte Reiterei bildete.« Die Meinung KÖPKES und GIESEBRECHTS, es seien Vasallen gemeint, verwirft er ausdrücklich. Was hätten aber Bauern auf Bauernpferden wohl als leichte Reiterei gegen die Ungarn ausrichten sollen? KÖPKE und GIESEBRECHT sind natürlich der Wahrheit näher, nur daß es sich um nichts Neues, sondern um Pflege und Ausbau des Überlieferten handelte.

D. V.-G. VIII, S. 114, meint auch WAITZ selbst, daß die »expediti equites«, die öfter genannt werden, keine besondere Art der Reiterei gewesen seien, woran auch gar nicht zu denken ist. Lambert in dem Zitat bei Waitz gibt die richtige Erklärung: »qui rejectis sarcinis et ceteris bellorum impedimentis, itineri tantum et certamini se expedierant«.[113]

Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1923, Teil 3, S. 111-114.
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