Der lange, fast siebzehnhundertjährige Zeitraum der Zerstreuung ist zugleich ein Zeitraum beispielloser Leiden, eines ununterbrochenen Märtyrertums, einer mit jedem Jahrhundert gesteigerten Erniedrigung und Demütigung, wie sie einzig in der Weltgeschichte vorkommt, aber auch der geistigen Regsamkeit, der rastlosen Gedankenarbeit, der unermüdlichen Forschung. Wollte man von diesem Zeitraume ein deutliches, entsprechendes Bild entwerfen, so könnte man ihn unter einem Doppelbilde darstellen. Von der einen Seite das geknechtete Juda mit dem Wanderstabe in der Hand, dem Pilgerbündel auf dem Rücken, mit verdüsterten, zum Himmel gerichteten Zügen, von Kerkerwänden, Marterwerkzeugen und dem glühenden Eisen der Brandmarkung umgeben; auf der anderen Seite dieselbe Figur mit dem Ernste des Denkers auf der lichten Stirn, mit der Forschermiene in den verklärten Gesichtszügen, in einem Lehrsaale, gefüllt mit einer Riesenbibliothek in allen Sprachen der Menschen und über alle Zweige des göttlichen und menschlichen Wissens sich erstreckend, – Knechtsgestalt mit Denkerstolz. – Die äußere Geschichte dieses Zeitraums, eine Geschichte von Leiden, wie sie kein Volk in diesem gesteigerten Grade, in dieser unübersehbaren Ausdehnung erduldet, die innere Geschichte eine umfassende Geistesgeschichte, wie sie wiederum nur Eigentum dieses einzigen Volkes ist, die, von der Gotteserkenntnis auslaufend, alle Kanäle aus dem Stromgebiet der Wissenschaften aufnimmt, mit sich vermischt und vereinigt. Forschen und wandern, denken [1] und dulden, lernen und leiden füllen die lange Reihe dieses Zeitraums aus. Dreimal hat die Weltgeschichte in diesem Zeitraume ihr Kleid gewechselt. Das greise Römertum siechte und sank ins Grab; aus seinem Moder entwickelte sich die Puppe der europäischen und asiatischen Völker, diese entfalteten sich wiederum zu der glänzenden Schmetterlingsgestalt des christlichen und islamitischen Rittertums, und aus den eingeäscherten Burgen desselben schwang sich der Phönix der Gesittung empor. Dreimal wechselte die Weltgeschichte, aber die Juden blieben dieselben, höchstens wechselten sie die äußerliche Form. Dreimal wechselte aber auch der geistige Gehalt der Weltgeschichte. Aus dem ausgeprägten, aber hohlen Bildungszustande versank die Menschheit in Barbarei und finstere Unwissenheit; aus der Unwissenheit erhob sie sich wieder in die lichte Sphäre einer höheren Bildung; der geistige Inhalt des Judentums blieb derselbe, nur sättigte er sich mit neuen Gedankenstoffen und Gedankenformen. Hat das Judentum dieses Zeitraums die ruhmreichsten Märtyrer aufzuzählen, neben denen die gehetzten Dulder anderer Völker und Religionsbekenntnisse fast glücklich zu nennen sind, so hat es auch hochragende Denker erzeugt, die nicht bloß eine Zierde des Judentums geblieben sind. Es gibt wohl keine Wissenschaft, keine Kunst, keine Geistesrichtung, woran die Juden nicht mitgearbeitet, worin Juden nicht ihre Ebenbürtigkeit dargetan hätten. Denken ist ein eben so charakteristischer Grundzug der Juden geworden, wie leiden.
Infolge der größtenteils gezwungenen, selten freiwilligen Wanderungen der Juden, umfaßt die jüdische Geschichte dieses Zeitraums die ganze bewohnte Erde, sie dringt bis in die Schneeregion des Nordens, bis in die Sonnenglut des Südens, sie durchschifft alle Meere, siedelt sich in den entlegensten Erdwinkeln an. Sobald ein neuer Teil der Erde von einem neuen Volke in Angriff genommen wird, so finden sich sofort Zerstreute dieses Stammes ein, mit ihrer Eigentümlichkeit jedem Klima, jedem Ungemache trotzend. Wird ein neuer Weltteil entdeckt, so sieht dieser bald jüdische Gemeinden hier und da sich durch einen inneren Kristallisationstrieb gestalten und gruppieren, ohne weltliche Nachhilfe, ohne äußeren Zwang. Um den in seinem eingeäscherten Zustande noch heiligen Tempel stehen die in alle Weltgegenden Zerstreuten in einem großen unübersehbaren Kreise, dessen Peripherie zugleich die Enden der bewohnten Erde bilden. Durch diese Wanderungen sammelte das jüdische Volk neue Erfahrungen, und der Blick der Heimatlosen übte und schärfte sich; so trug selbst die Leidensfülle dazu bei, den Gesichtskreis der Denker im Judentume zu erweitern. Die überwältigenden Ereignisse der Weltgeschichte, von der Zeit an, da über das überfeinerte Römerreich [2] sich der ganze Schrecken der Barbarei entlud, bis zur Zeit, da aus dem harten Kiesel der Barbarei wiederum der Funke der Gesittung geschlagen wurde, hat die jüdische Geschichte dieses Zeitraums miterlebt, miterlitten und teilweise mitgemacht. Jeder Sturm in dem weltgeschichtlichen Umkreise hat auch das Judentum bis in sein Innerstes tief bewegt, ohne es jedoch zu erschüttern. Die jüdische Geschichte der siebzehn Jahrhunderte stellt die Weltgeschichte im Kleinen dar, wie denn auch das jüdische Volk ein Universalvolk geworden ist, das, weil nirgends, darum überall zu Hause ist.
Was hat es bewirkt, daß dieses ewig wandernde Volk, dieser wahre ewige Jude, nicht zum vertierten Landstreicher, nicht zur vagabundierenden Zigeunerhorde herabgesunken ist? Die Antwort ergibt sich von selbst. Das jüdische Volk führte in seinem achtzehnhundertjährigen Wüstenleben die Bundeslade mit sich, die ein ideales Streben in sein Herz legte und selbst den Schandfleck an seinem Kleide mit einem apostolischen Glanze verklärte. Der geächtete, vogelfreie, über die ganze Erde gehetzte Jude fühlte einen erhabenen, edlen Stolz in dem Gedanken, Träger und Dulder für eine Lehre zu sein, in welcher sich die Ewigkeit abspiegelt, an welcher sich die Völker allmählich zur Gotteserkenntnis und zur Gesittung heranbildeten und von welcher das Heil und die Erlösung der Welt ausgehen soll. Das hohe Bewußtsein von seinem ruhmreichen Apostelamte erhielt den Leidenden aufrecht, ja stempelte die Leiden selbst zu einem Teile seiner erhabenen Sendung. Ein Volk, dem seine Gegenwart nichts, seine Zukunft hingegen alles gilt, das gleichsam von Hoffnung lebt, ist eben deswegen ewig wie die Hoffnung. Das Gesetz und die Hoffnung auf einen Messias waren zwei Schutz- und Trostengel an der Seite der Gebeugten und bewahrten sie vor Verzweiflung, vor Verdampfung und Selbstaufgeben. Das Gesetz für die Gegenwart, die Messiashoffnung für die Zukunft, beide vermittelt durch die Forschung und der Dichtkunst überströmende Ergüsse, sie träufelten Balsam in die wunden Herzen des unglücklichsten Volkes. Weil die weite Welt für das geknechtete Volk zu einem düstern, schmutzigen Kerker zusammenschrumpfte, in dem es seinen Tatendrang nicht zu befriedigen vermochte, zogen sich die Begabteren dieses Volkes in die innere Gedankenwelt zurück, und diese erweiterte sich in dem Verhältnisse, je enger die Schranken der Außenwelt um sie gezogen wurden. Und so tauchte die gewiß seltene Erscheinung auf, daß der Verfolgte überlegen wurde seinem Dränger, der Gepeinigte fast Mitleid hatte mit dem Peiniger, der Geknechtete sich freier fühlte als der Kerkermeister. Den Abglanz dieses tiefsinnigsten Gedankenlebens bildet die jüdische Literatur, und sie mußte um so reicher ausfallen, als sie nicht nur ein Bedürfnis für die Begabteren, [3] sondern eine Arznei für das ganze leidende Volk war; durch das Heimischwerden des jüdischen Volkes auf der ganzen bewohnbaren Erde wurde das jüdische Schrifttum eine wahrhafte Weltliteratur. Sie bildet den Kern der jüdischen Geschichte, den die Leidensgeschichte mit einer bitteren Schale umgeben hat. In dieser Riesenliteratur hat das ganze Volk seinen Gedankenschatz und sein innerstes Wesen niedergelegt. Die Lehren des Judentums liegen da veredelt, verklärt, dem blödesten Auge sichtbar ausgebreitet, nur dem geringfügig scheinend, der ein erhabenes, überwältigendes Weltwunder in den Dunstkreis alltäglicher Erscheinung herabzuziehen gewohnt ist. An dem Faden dieses Schrifttums müssen die aufeinanderfolgenden Tatsachen und Ereignisse aufgereiht werden, es gibt den pragmatischen Zusammenhang an und darf daher nicht so nebenher, als Anhang zur Hauptgeschichte behandelt werden. Die Erscheinung eines neuen, bedeutenden Schrifterzeugnisses galt in diesem Kreise nicht als interessante Einzelheit, sondern wurde hier eine Tat, welche folgenreiche Nachwirkungen hatte. Die jüdische Literatur, unter Schmerzen und Todeszuckungen geboren, mannigfaltig wie die Länder ihrer Entstehung, bunt wie die Trachten der Völker, unter denen sie erblühte, reich und vielgestaltig wie die Erinnerung tausendjähriger Erfahrungen, trägt die unverkennbaren Spuren eines einzigen Erzeugers, des Judentums, an sich; ein einheitlicher Charakterzug ist allen Gestalten aufgedrückt, und sie spiegeln in allen Flächen und Kanten das Ideal ab, dessen Strahlen sie aufgefangen. Sie ist also das Grundeigentum dieses Zeitraums, und man kann diesen daher mit Fug und Recht nach seiner tätigen Seite hin, nach seiner charakteristischen Eigentümlichkeit den theoretisch-religiösen Zeitraum nennen, im Gegensatz zum zweiten nachexilischen, der vielmehr politisch-religiöser Natur war, und zum ersten vorexilischen Zeitraum, der vorherrschend einen politischen Charakter hatte.
So mannigfaltig und umfangreich auch diese Literatur ist, so lassen sich doch drei Hauptrichtungen, drei eigene Strömungen in ihr unterscheiden, welche, wenn auch Zuflüsse aus andern Gebieten in sich aufnehmend, doch in ihrem Laufe nur unmerklich abgelenkt wurden. Jede dieser Hauptrichtungen kann als Hauptwissenschaft angesehen werden, zu denen sich die übrigen als Nebenfächer verhalten. Die vorherrschenden Tätigkeiten dieses langen Zeitraums waren zuerst das allmähliche Anwachsen des Talmuds, dann die philosophische Schriftauslegung und das selbständige Philosophieren und endlich die einseitig-rabbinische Tätigkeit mit vollständiger Hintansetzung der Bibelforschung und des selbständigen Denkens. Der Zeitraum zerfällt demnach in drei [4] ausgedehnte Perioden, in die rein-talmudische, in die wissenschaftlich-rabbinische und in die einseitig-rabbinische. Es versteht sich von selbst, daß diese drei Hauptrichtungen keinen plötzlichen Anfang haben, sondern durch allmähliche Übergänge vorbereitet wurden. Die Entwicklung der reintalmudischen Richtung, welche bis in die gaonäische Zeitepoche hineinreicht, erleidet eine geringe Abbiegung erstens durch den Gegensatz des den Talmud verleugnenden Karäertums und zweitens durch die Bekämpfung desselben von Seiten rabbinischer Denker. Dadurch wurde das bibelexegetische und philosophische Interesse geweckt, drang aber erst gleichzeitig mit dem Untergange des Gaonats in vollen Strömen ein. Und auf der Mittagshöhe des von der Philosophie geläuterten Judentums sammeln sich schon die trüben Wolken der wissensfeindlichen Strömung, die sich als Dunst eines für Lichtstrahlen unzugänglichen Rabbinertums und einer wirren Mystik niederschlagen.
I. Die talmudische Periode durchläuft die Zeit von der Gründung des Synhedrions und des Lehrhauses in Jamnia bis zum Untergange des Gaonats und der babylonisch-talmudischen Hochschulen (70-1040).
II. Die rabbinisch-philosophische Periode erfüllt die Zeit von der festen Gründung der rabbinischen und wissenschaftlichen Schulen in Spanien bis zur Spaltung zwischen der Denkgläubigkeit und der Stockgläubigkeit (1040-1230).
III. Die einseitig-rabbinische Periode entwickelt sich in dem Kampf gegen das freie Forschen und hat ihr Ende erst mit dem Hereinbrechen der neuen Zeit unter Mendelssohn (1230-1780).
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