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[113] Ostern 1863 kam ich nach Altona auf das Gymnasium. Die drei Gymnasien im Herzogtum Schleswig (Flensburg, Schleswig, Hadersleben) waren noch dänisch, Husum hatte seine alte Gelehrtenschule verloren. Den Weg nach Altona wiesen mehrere dorthin vorangegangene Schüler Pastor Thomsens. Dieser hatte mich und meinen Mitschüler bei Direktor Lucht für die Sekunda angemeldet. Wir stellten uns dem Direktor vor; er wies uns an den Konrektor Dr. Henrichsen, den Klassenlehrer der II. Der kleine freundlich-gesprächige Herr nahm uns mit viel Wohlwollen auf und bestellte uns auf einen nächsten Vormittag zur Aufnahmeprüfung. Noch drei von auswärts gekommene junge Leute fanden sich zur bestimmten Stunde mit uns ein. Wir nahmen um den großen runden Tisch in der Wohnstube des Herrn Konrektors Platz, wo Papier bereitlag. Er diktierte uns einen nicht eben allzu langen deutschen Text zum Übersetzen ins Lateinische. Die Sache fiel für alle fünf genügend aus, und wir wurden in die Sekunda aufgenommen, mein Latein verschaffte mir unter uns Neuen die erste Stelle. Eine Prüfung in anderen Fächern fand nicht statt, so sehr beherrschte das Lateinschreiben noch den ganzen Schulbetrieb.
Das Christianeum in Altona galt als die vornehmste Gelehrtenschule der Herzogtümer, es war wohl auch die besuchteste. Im 18. Jahrhundert von König Christian V. gegründet (ich hab im Jahr 1865 das Anderthalb-Jahrhundertsjubiläum durch einen Umzug durch die Stadt feiern helfen), hatte es den Charakter eines »akademischen« Gymnasiums erhalten: die beiden Oberklassen bildeten eine Art Mittelstufe zwischen Schule und Universität, im Unterricht und auch in den äußeren Ordnungen. So erzählt der spätere Rektor Schumacher von Husum, der als geborner Altonaer am Anfang des 19. Jahrhunderts Schüler des Christianeums war, wie die Primaner nicht wenig stolz auf das Recht gewesen seien, ihre Plätze in der Klasse selbst zu belegen. Diese Reste alter Herrlichkeit waren inzwischen geschwunden. Das Christianeum hatte die allgemeine Form des neuhumanistischen Gymnasiums angenommen; die geltenden Klassen- und Lehrordnungen gingen auf die Reform des holsteinischen Gelehrtenschulwesens zurück, die K.W. Nitzsch als Professor der Philologie an der Universität Kiel und Inspektor der Gelehrtenschulen in den Herzogtümern in den 30er Jahren durchgeführt[114] hatte. Es war im ganzen die preußische Ordnung, wie sie unter Joh. Schulzes Regiment gestaltet worden war: der altklassische Kursus, ergänzt durch einen Kursus in den modernen Wissenschaften. Doch hatte Nitzsch aus seiner sächsischen Heimat (er kam aus Wittenberg und hatte in Leipzig studiert) die Anschauung mitgebracht und herverpflanzt, daß der modern-realistische Kursus sich mit der Stellung eines Nebenfaches begnügen, der Schwerpunkt durchaus in dem klassischhumanistischen Unterricht liegen müsse. Insofern schlossen sich die holsteinischen Gymnasien dem sächsisch-bayrischen Typus an; für Mathematik und Naturwissenschaften galt einigermaßen der Grundsatz: wenn's einer kann, ist's gut, wenn er's nicht kann, ist's auch nicht schlimm.
Eine Erinnerung an die größere Vergangenheit der Anstalt, der übrigens auch mehrere in der Literatur nicht unbekannte Männer angehört hatten, waren die stattlichen Gebäude. Sie füllten eine Seite einer ganzen Straße, der »Hohenschulstraße«, fast vollständig aus. Drei große Häuser schlossen sich, da das mittlere etwa 15 Meter von der Straße zurücklag, um einen Vorhof zusammen; eine Reihe geschnittener Linden vor dem zweistöckigen Mittelgebäude gab diesem einen altmodisch-vornehmen Anstrich. Die beiden Seitengebäude lagen in der Straßenflucht. Diese drei Häuser enthielten die Klassenräume und die Lehrerwohnungen. Im Mittelgebäude waren im Parterre die vier oberen ungeteilten Klassen, I–IV, untergebracht; den oberen Stock bewohnte der Direktor. Im rechten Seitengebäude waren drei Lehrerwohnungen, darunter die uns schon bekannte des Konrektors; im linken zwei Lehrerwohnungen und die große Aula. Im Souterrain wohnte hier der Pedell, bei dem zwei alte Bekannte, ältere Schüler von Pastor Thomsen, darunter sein jüngerer Bruder, einlogiert waren. Es war der Anlaß, daß wir oft in der Wohnung des Pedells einkehrten. Hinter diesem Gebäudekomplex war ein Hof, auf dem das stattliche Bibliotheksgebäude und einige Turngeräte standen.
Diese Gebäude erschienen damals außerordentlich ansehnlich und reich. Die Gegenwart würde sie wohl kaum mehr als eine auch nur erträgliche Unterkunft ansehen, die Lehrerwohnungen wie die Unterrichtsräume. Nicht nur fehlten Zeichen-, Physik- und Gesangsäle, es war nicht einmal ein Lehrerzimmer vorhanden. Die Lehrer versammelten sich vor den Stunden einfach auf dem offenen Flur, links neben dem Haupteingang vor der Tür zur Prima. Hier standen regelmäßig, Sommer[115] und Winter, wenn wir eben vor 8 oder vor 2 Uhr in die Schule kamen oder aus der Pause um 101/4 zurückkehrten, drei, vier, fünf unserer Lehrer, der Direktor meist unter ihnen, in lebhaftem Gespräch; der Direktor hielt sich dabei nicht zu vornehm, den Gruß der hier vorübergehenden Primaner und Sekundaner mit jedesmaligem Abziehen des Hutes zu erwidern; er hatte dabei die Gewohnheit, sich in den Hüften zu wiegen, so daß er aus lebhafter Bewegung nicht herauskam.
Der Personalbestand der Anstalt war leicht übersehbar: 8 ordentliche Lehrer, 7 Klassen und 250–300 Schüler. Die Schüler der unteren Klassen waren fast ausschließlich aus der Stadt, Septima eine Art Vorschule, VI–IV die Unterstufe des Gymnasiums, die wohl auch von Schülern besucht wurden, die nicht dem Studium bestimmt waren. Mit der III und noch entschiedener mit der II nahm die Anstalt durchaus den Charakter der auf die Universität vorbereitenden Gelehrtenschule an; in den beiden oberen Klassen saßen kaum noch Schüler, die sich nicht als künftige Studierende betrachteten, höchstens daß ein künftiger Apotheker darunter war. Der Druck des Einjährigensystems führte damals den holsteinischen Gymnasien noch nicht die von Lagarde so genannten »Schnuraspiranten« zu; die dem Kaufmannsstand bestimmten Knaben zogen den Besuch höherer Bürgerschulen vor, die als öffentliche und als private Anstalten in größerer Zahl in den beiden eng benachbarten Elbstädten bestanden. So waren die holsteinischen Gymnasien damals viel mehr als die preußischen eigentliche Gelehrtenschulen. In den beiden ungeteilten Oberklassen war ein ansehnlicher Teil der Schüler von auswärts, vielleicht gegen die Hälfte, viele von ihnen draußen privatim vorbereitet, manche schon in höherem Lebensalter, so ein früherer Seminarist: er trat fast 20jährig mit mir in die II ein; so ein bärtiger Mann, der schon jahrelang zur See gefahren war. Von den 8 Lehrern der Anstalt waren die 6 Klassenordinarien natürlich klassische Philologen; dazu kam der Mathematiker und für die VII ein seminaristisch gebildeter Lehrer. Nicht zum Kollegium gehörte ein Franzose, der einige französische Stunden gab, und der Gesanglehrer. Vom Zeichnen und Turnen weiß ich keinen Bescheid zu geben; für die beiden Oberklassen, die ich allein aus eigener Anschauung kennen gelernt habe, gab es weder Zeichen- noch Turnunterricht: wer Lust hatte, hing sich in den Pausen einmal an die Geräte und machte einen Aufschwung, die Schule kümmerte sich nicht darum. Ebensowenig gab es[116] Jugendspiele oder Schulausflüge. Die Sorge für die leibliche Bildung lag noch ganz außerhalb des Gesichtskreises, ohne Zweifel ein sehr wesentlicher Mangel; die meisten taten gar nichts für den Körper, es sei denn, daß ein Spaziergang von 1 oder 2 Stunden oder einmal eine Ruderfahrt auf der Elbe gemacht wurde. Eine gewisse Verwahrlosung, gesteigert durch ein starkes Kneipenleben, war die Folge.
Unsere Lehrer stellten noch ganz den alten Typus des Gelehrtenschullehrers dar. Sie erschienen vor unseren Augen kaum anders als im schwarzen Tuchrock; der klerikale Habitus, der dem ganzen Lehrerstand in meiner Heimat damals noch anhaftete, hätte den hellen Anzug oder gar die Joppe und den Schlapphut als ein indecorum empfinden lassen. Ebenso wäre es uns schlechthin absurd und unmöglich vorgekommen, daß ein Lehrer auf dem Turn- oder Spielplatz als Vorturner und Ordner sich gezeigt hätte. Übrigens war auch der Übergang aus dem gelehrten Schulamt in das geistliche Amt in den Herzogtümern damals noch nichts Ungewöhnliches. Preußen war in der Deklerikalisierung des Gymnasiallehrerstandes infolge der Heereseinrichtungen und des damit zusammenhangenden Turnwesens beträchtlich weiter vorgeschritten: der Reserveoffizier und der Turnlehrer hatten hier dem weltlichen Typus längst die Herrschaft gegeben. Inzwischen ist der neue Habitus überall in Deutschland druchgedrungen, in mancher Hinsicht sicherlich zum großen Vorteil der Schule und der Schüler; ob in jeder, ob im besonderen zum Vorteil der sozialen Einschätzung des Lehrerstandes, scheint mir nicht außer allem Zweifel zu liegen. Die Stellung neben dem geistlichen Stande, wie sie an sich der Berufstätigkeit des Erziehers entspricht, befreite auf der einen Seite von Repräsentationspflichten, auf der anderen gab sie an der Würde des Standes Anteil, zu dem die Bevölkerung mit Achtung und Ehrfurcht aufzublicken gewöhnt war. Neben den Offizier- und Beamtenstand sich stellend, wird der Lehrerstand immer mit merklichem Abstand die zweite Rolle spielen. Jeder einzelne unter den fünf Lehrern, in deren Händen der Unterricht in den beiden Oberklassen lag, stellt sich mir in der Erinnerung als eine eigentümliche, fest umrissene Persönlichkeit dar: es waren nicht Lehrkräfte, die nach Anweisung Stunden gaben, sondern, mit Ausnahme des Mathematikers, Männer, die jeder mit seiner Art ihre Klasse beherrschten.
An der Spitze des Kollegiums stand Dr. Lucht als primus inter pares, nicht als Vorgesetzter; so wenigstens empfanden wir: der Konrektor und[117] Subrektor schienen uns ihre Sekunda und Tertia ebenso selbständig als der Direktor die Prima zu beherrschen. Wie das rechtliche Verhältnis war, weiß ich nicht, aber das tatsächliche war nicht Unterordnung, sondern Kollegialität, nur daß der Direktor nach außen die Anstalt repräsentierte. Er war ein Mann zwischen 50 und 60, eine hohe, schlanke, überaus biegsame Gestalt, in beständiger Bewegung; ein kräftig gebauter hoher Schädel, von weißen Haaren weniger verdeckt als umrahmt, gab ihm etwas Ehrwürdiges. Er stand bei uns im Ruf großer Gelehrsamkeit besonders im Gebiet der römischen Altertümer. Sein Unterricht büßte an Wirksamkeit durch einen gewissen Mangel an Energie ein, er hatte nicht das Vorwärtsdrängende, das die Jugend mitnimmt; schon die schleppende, mit eingeschobenen, mißtönenden Flicklauten, die sich oft zu ganzen Reihen häuften, überladene Sprache gab seinen Stunden oft etwas Schläfrig-Mattes. Doch hierauf komme ich später zurück.
Das vollkommene Gegenstück dazu war der Subrektor Dr. Siefert. Er war Ordinarius der Tertia, hatte aber in den beiden Oberklassen den historischen und einen Hauptteil des griechischen Unterrichts. Eine kleine, untersetzte Figur, mit gemessensten Bewegungen und etwas starrem Ausdruck des immer glattrasierten Gesichts (es ging unter uns das Gerücht, daß er als Student ein Auge im Duell verloren habe und ein Glasauge trage), war er die verkörperte Energie. Im Unterricht war er von nie nachlassender Entschiedenheit und Zielstrebigkeit: man hatte beständig die Empfindung, daß es ihm höchster Ernst um die Sache sei. Goethes Wort variierend, konnte man von ihm sagen:
Ich rede nicht, euch zu gefallen,
Ihr sollt was lernen.
Seine Sprache war ein wenig hart und stockend, nicht leicht und anmutig; auch darin trat uns die Entschiedenheit des Willens entgegen, mehr als der Mangel an Leichtigkeit und Beweglichkeit des Talents. Im Zorn, der nicht fern war, wenn er auf Unachtsamkeit und Leichtfertigkeit stieß, erhob sich die Stimme zu verhaltenem Donner: über wen die Scheltrede erging, der nahm sich vor, sich das nächste Mal zu hüten. Dr. Siefert wurde kurz nach meinem Abgang von Altona von der neuen preußischen Verwaltung zum Direktor des Gymnasiums in Flensburg ernannt. Leider hat er das Amt nur kurze Zeit verwaltet; er verunglückte ein paar Jahre nachher auf einer Reise in die Schweiz,[118] von allen, die ihn kannten, betrauert. Unter meinen Altonaer Lehrern habe ich ihm am meisten zu danken.
Wieder eine durchaus eigenartige Persönlichkeit war der Konrektor Dr. Henrichsen, der als Beherrscher der Sekunda mein erster Ordinarius war. Ich sehe ihn vor mir: eine kleine Gestalt, in den Vierzigern, etwas zum Embonpoint neigend; das ausdrucksvolle Gesicht, von zahlreichen kleinen Falten durchzogen, von braunem Haar und Vollbart umrahmt, zeigt meist ein freundliches Lächeln, das freilich nicht von allen für ganz echt gehalten wird; die ungewöhnlich biegsame Stimme hat eine große Skala von Tönen: vom zartesten, einschmeichelndsten Flüstern erhebt sie sich zu starker, volltönender, dröhnender Deklamation. Ein wenig schauspielerisches Talent unverkennbar; er liebt es vorzulesen, und er liest gut und wirksam, gleichviel ob die rollenden Perioden Ciceronianischer Reden oder die prachtvollen Hexameter der Ilias oder eine intime Stelle aus Goethes Hermann und Dorothea. Seine Schüler redete er gern: meine lieben jungen Freunde an; kleine Moralisationen oder Erinnerungen aus dem eigenen Leben mit Nutzanwendung werden je zuweilen in den Unterricht eingestreut; er hörte sich offenbar gern sprechen, ein kleiner Anklang von Kanzelpathos steht ihm nicht übel. Seine Sekunda hat er in guter Zucht und beherrscht sie mühelos. Nicht ganz so gut gelingt es in der Prima, wo er einen Teil des lateinischen Unterrichts gibt; indem seine Freundlichkeit sich hier zuweilen zu einer fast schmeichlerischen Bewerbung um die gute Meinung der Klasse und der einzelnen zu steigern scheint, mindert sie die Achtung. Die Fähigkeit zur Selbstdarstellung, die der Sekunda imponiert hatte, erhält für die Primaner einen kleinen Beigeschmack von Eitelkeit. Ich habe lange nachher mit Bedauern gehört, daß er bei zunehmendem Alter, wo die Fehler unverhüllter hervorzutreten pflegen, völlig unter durch gekommen sei, auch in seiner eigenen Klasse. Es gibt wohl nichts, wovor der Lehrer sich mehr zu hüten Ursache hat, als zu stark aufgetragene Freundlichkeit: sie wird immer mißverstanden und bald mißachtet.
Der vierte Lehrer war Herr Kirchhoff, Ordinarius der IV. Er hatte zu meiner Zeit den Religionsunterricht und das Englische in den oberen Klassen; später, nach meiner Zeit, übernahm er den griechischen Unterricht, wie er denn auch durch gelehrte Arbeiten aus dem Gebiet des griechischen Theaterwesens und der Musik hervorgetreten ist. Eine poetische Ader hat er in mehreren Dichtungen episch-erzählender Art[119] betätigt. Für uns blieben diese Qualitäten unsichtbar; im Unterricht war er wenig wirksam; der Religionsunterricht bestand in anhaltendem, die ganze Stunde füllenden Diktieren eines Hefts, aus dem dann hin und wieder, nach vorher angesagter Repetition, eine schriftliche Prüfungsarbeit gemacht wurde. Der Einförmigkeit des Diktierens und Nachschreibens zu entgehen, wurden allerlei Künste und Listen aufgeboten; vor allem wurde Herrn Kirchhoffs Neigung zu politischen Expektorationen ausgebeutet. Es waren die Jahre, da die Neugestaltung Deutschlands unter Bismarck sich vollzog; die Herzogtümer standen dabei in erster Linie. Da wurde denn wohl vor der Stunde verabredet, daß dieser oder jener ihn wegen eines neuesten Ereignisses, einer politischen Rede, von der die Zeitung berichtete, interpellieren solle. Und es gelang regelmäßig; manche Stunde ist so der Dogmatik oder der Kirchengeschichte oder der Lehre Pauli durch eine Rede Beusts oder des Darmstädter Metz, die der Anhänger der Trias lebhaft bewunderte, entzogen worden. Am Schluß der Stunde sprach dann wohl der gutmütige Mann mit den tiefliegenden Augen sich selber einen Tadel für die versäumte Aufgabe aus, ließ es sich aber auch gefallen, daß ihm aus der Klasse die Meinung entgegengebracht wurde, daß die Stunde auf diese Weise viel interessanter und lehrreicher verwendet worden sei.
Und nun folgst du betrübteste Gestalt unter allen Lehrern, die ich jemals gehabt habe, armer Dr. Scharenberg, Mathematiker, Physiker und Geograph des Christianeums. Eine Figur von mittlerer Größe, stets tadellos mit schwarzem Rock, hohem, weißem Kragen und steifer Atlaskrawatte angetan, den Ausdruck hoffnungsloser Resignation auf dem blassen bartlosen Gesicht, so steht er vor meiner Erinnerung. Ich weiß nicht, wie es mit seinen wissenschaftlichen Fähigkeiten bestellt war, seine pädagogischen standen unter Null. Die Klasse in ihrer Gesamtheit kümmerte sich um seine Anwesenheit durchaus nicht, im günstigsten Fall waren es drei oder vier, die seinem Vortrag wenigstens gelegentlich zuhörten. Im übrigen trieb jeder, was er wollte: einige präparierten sich für die folgende Stunde oder erledigten eine versäumte schriftliche Arbeit, andere lasen einen Roman, die meisten plauderten und machten Unfug, oft mit einem Getöse, daß es auf der Straße muß zu hören gewesen sein. Wurde es gar zu arg, dann redete Dr. Scharenberg wohl einmal einen mit bittendem Ton in der Stimme an: Aber N., Sie sollten doch etwas aufmerksamer sein; worauf gar[120] nicht selten eine freche Antwort erfolgte: Ich? Ich passe ja die ganze Stunde auf! Und wenn der Dr. dann zaghaft erwiderte: Aber ich sehe doch, daß Sie etwas anderes treiben, Sie sind ja gar nicht auf Ihrem Platz; dann wurde er unter dem Gelächter der Klasse berichtigt: Sie müssen sich täuschen, Herr Doktor; sehen Sie nach, ich bin hier auf meinem Platz und habe das Buch vor mir. Ein andermal, wenn er vor Lärm sein eigenes Wort nicht mehr hören konnte, hörte er wohl eine ganze Weile auf zu sprechen, blieb ganz still am Katheder oder an der Tafel stehen und sah mit unaussprechlich wehmütigem Blick in das tobende Meer der durcheinanderwogenden, sich balgenden und schreienden Sekunda. Veranlaßte endlich sein dauerndes Stillschweigen einen Moment der Ruhe, dann begann er mit leiser, zitternder Stimme den Faden seiner Demonstration wiederaufzunehmen, aber alsbald schlugen die Wellen aufs neue darüber zusammen. Ich kann jetzt nicht ohne Pein an diesen Blick vollendeter Hilflosigkeit denken, den wir damals ohne das mindeste Gefühl von Scham oder Mitleid auf uns gerichtet sahen.
Monsieur Demory, der Franzose, vollendet den Kreis meiner Lehrer. Er stand außerhalb des Lehrerkollegiums und liebte, das zu markieren: er war ein in der Stadt beliebter Privatlehrer und behandelte auch die Stunden im Gymnasium als zufällig erteilten Privatunterricht; er sprach in der Stunde französisch, das Deutsche war ihm sehr wenig geläufig, redete uns: Messieurs oder meine Erren an und kümmerte sich um die Disziplin und die Fortschritte seiner Schüler überhaupt nicht, nach der Maxime des Privatunterrichts: Sie zahlen, ich doziere, sehen Sie zu, was dabei für Sie herauskommt. Die Eitelkeit stand ihm auf dem Gesicht geschrieben; er liebte es, mit den fein gepflegten, zierlichen, beringten Händen seinen rötlich blonden, in langen Koteletten herabfallenden Bart zu streichen und mit süßlichem Lächeln, das die tadellosen Zähne sichtbar werden ließ, in echtem Pariser Ton (man fühlte den Wohlgeschmack, mit dem er die Phrasen über die Lippen gleiten ließ) Anekdoten zu erzählen. Sie haben uns nicht viel geschadet, denn die wenigsten hörten darauf, und die meisten wären wohl auch kaum imstande gewesen, zu folgen.
Indem ich zu einem kurzen Bericht über meine Gymnasialjahre mich anschicke, kann ich nicht umhin, zunächst der allgemeinen Bemerkung Raum zu geben, daß ich auf die nun folgenden Jahre durchaus nicht mit der Befriedigung zurückblicke, mit der die Erinnerung auf den vorhergehenden[121] Langenhorner Jugendjahren ruht. Es sind Jahre der Selbstentfremdung, ja der Verwilderung des Lebens und des Urteils gewesen, die mir lange Zeit bitterer Selbstanklagen eingetragen haben, und deren widriger Nachgeschmack noch nicht völlig ausgelöscht ist. Der lebendige Eifer für die Studien erlahmte allmählich und machte einem trägen Schullernen Platz; das brennende Verlangen nach Wissen, das mich aus meines Vaters Haus und Beruf herausgerissen hatte, erlosch, um erst nach Jahren wieder sich zu entzünden. Ohne Zweifel hing diese ungünstige Veränderung mit der Versetzung in eine vollkommen neue Umgebung zusammen; die schützenden Hemmungen und Hilfen des Elternhauses und aller seiner Verhältnisse und Notwendigkeiten entbehrend, in dem gefährdetsten Lebensabschnitt ganz auf mich selbst und meine Willkür gestellt, verlor ich das sichere Gleichgewicht des Lebens, das ich bisher in glücklicher Unwissenheit um mich selbst besessen hatte. Es hat langer Kämpfe und schmerzlicher Erfahrungen bedurft, um an Stelle jener natürlichen und unbefangenen Klarheit der Lebensführung eine auf Überlegung und Selbstdisziplin beruhende Sicherheit wiederzugewinnen.
Das erste Jahr des Altonaer Aufenthaltes brachte ich in der Sekunda zu. Hier ging es noch leidlich mit Arbeit und Fortschritt. Der mitgebrachte Fleiß hielt noch einigermaßen vor, den Anforderungen der Schule zu genügen, war leichte Mühe; im ganzen wurden die Aufgaben noch regelmäßig erledigt, abgesehen von der Mathematik und dem Französischen, die völlig liegenblieben. Es wurde sogar noch etwas privatim gearbeitet, Plutarchs Timoleon, von Dr. Siefert herausgegeben, wurde von einem kleinen Kreise gemeinsam gelesen, hier und da wohl auch etwas schriftlich übersetzt. Der Mittelpunkt des kleinen Kreises, mit dem ich während dieses Jahres hauptsächlich lebte, war der schon erwähnte Seminarist, Schacht mit Namen, der mit mir und drei anderen Auswärtigen gleichzeitig aufgenommen war. Er war uns übrigen wie an Alter, so auch an Charakter und Energie weit überlegen. Er hielt uns fünf beisammen und dirigierte unser Verhalten und Leben. So hielt er z.B. darauf, daß wir regelmäßig nach Schluß der Schule unsern Spaziergang machten, sei es am Elbufer hinaus gegen Blankenese zu oder nordwärts vor die Stadt nach dem Diebsteich hinaus. Auch den Mittagstisch hatten wir gemeinsam in einem Privathause bei der Schule, wo übrigens noch eine ganze Anzahl Sekundaner und Primaner um ein Bescheidenes (6 Schilling = 45 Pfennig) ihren[122] Hunger, freilich nicht immer vollständig, stillte. Abends speiste man allein zu Hause, vielfach von Vorräten, die das elterliche Haus spendete; jeder hatte in der Kommode beständig Brot und Butter, meist auch Wurst und Käse, wozu eine Tasse Tee oder im Sommer auch wohl eine Flasche Dünnbier getrunken wurde. War bei dem einen oder andern eine Sendung von zu Hause angelangt, dann fanden sich die Kameraden gern zu hilfsbereiter Teilnahme ein, besonders wenn Freund Schacht eine der delikaten geräucherten Gänsebrüste erhalten hatte. Öfter noch führte uns eine Neigung für das Kartenspiel zusammen, die sich allmählich zu einer wahren Leidenschaft entwickelte; wir haben nicht selten sechs, acht Stunden ohne Unterbrechung Solo gespielt, bis tief in die Nacht hinein. Die langen Pfeifen gingen dabei natürlich nicht aus, man mag sich die Atmosphäre, in der wir zuletzt atmeten, und in der der zurückbleibende Bewohner der Stube dann schlief, ausmalen. Getrunken wurde dabei übrigens nicht, wie denn das Kneipenleben erst in der Prima begann. Eine sogenannte »Fuchskneipe«, die mit Zulassung der Schule abgehalten wurde, brachte mir den ersten Rausch und den ersten schrecklichen Katzenjammer: ich hatte bisher niemals bayrisches Bier getrunken, ausgenommen einen Schluck auf dem Pferdemarkt zu Niebüll, der mir abscheulich geschmeckt hatte; als ich nun auf der Kneipe mit Todesverachtung den Forderungen des Komments nachkam, der mit unglaublicher Wichtigkeit gehandhabt wurde, war es natürlich bald um mich geschehen. Als ich am andern Morgen auf der Schulbank saß, empfand ich so unaussprechliche Gefühle, daß ich am Leben verzweifelte; ich hätte geschworen, niemals wieder einen Tropfen des schrecklichen Getränks über die Lippen bringen zu können.
In der Klasse herrschte, wie gesagt, Dr. Henrichsen, der Konrektor; sein Unterricht umfaßte Lateinisch, Griechisch und Deutsch. Weitaus an erster Stelle stand das Lateinschreiben, es beherrschte das Interesse des Lehrers und der Schüler. Dr. Henrichsen war selbst ein gewandter Stilist, er schrieb und sprach ein elegantes, vielleicht ein wenig geziertes Latein. Der große Akt im Schulleben der Woche war die Stunde, wo die Exerzitien zurückgegeben wurden. Ihre Anfertigung bildete das Geschäft des Sonnabends und Sonntags; ein Stück aus Seifferts Materialien war die Vorlage. Es handelte sich darum, den deutschen Text nicht bloß in grammatisch fehlerlosem, sondern in gewähltem Latein wiederzugeben. Der color Latinus war der höchste zu erwerbende[123] Ruhm. Bei der Rückgabe herrschte die größte Spannung in der Klasse, die meisten hatten ein Blatt angelegt, auf dem die Fehlerstatistik regelmäßig eingetragen wurde, ganze, halbe und viertel. Dr. Henrichsen behandelte die Sache mit größter Wichtigkeit; jedem wurde sein Fehlerregister vorgelesen, mit Hervorhebung der gröbsten oder der interessantesten, an die sich eine belehrende oder auch eine witzige Bemerkung anknüpfen ließ. Die Beschämung, welche grammatische Schnitzer im ganzen hervorriefen, war ernst und tief; übrigens wurde dem, der über die nachbarlichen Böcke triumphierte und sich damit über die eigenen halben und viertel Fehler tröstete, wohl vorgehalten: die halben (die Verstöße gegen die Syntax, die consecutio temporum, Germanismen, übelgewählte Ausdrücke wurden so berechnet), das seien die schlimmen; eine falsch gebildete Form sei ein Versehen, jene aber ein Vergehen gegen die Logik und den Geist der römischen Sprache. Kein Zweifel, daß diese Übungen in nicht geringem Maße den Verstand und die Sprache bildeten, abgesehen davon, daß die Herrschaft über das lateinische Idiom dadurch gesteigert wurde. Ich bin auch der Überzeugung, daß im ganzen und großen die auf diese Leistung gegründete Abschätzung der Leistungsfähigkeit des Schülers überhaupt nicht allzu weit vom Ziel vorbeiging: im allgemeinen waren die besten Lateiner auch die besten Schüler und die fähigsten Köpfe. Freilich, die Mathematik fiel bei dieser Einschätzung aus; aber für die allgemeine Geisteskraft war dieser Betrieb des Lateinschreibens kein allzu ungenauer Maßstab.
Neben den Exerzitien, die mit angestrengtestem Fleiß und von vielen auch mit Neigung gemacht, von anderen freilich als die Schreckgestalt der Woche gehaßt wurden, spielte das Extemporale keine Rolle; es wurde, wenn ich nicht irre, einmal in der Woche eine Stunde dazu verwendet, die Stilistik Nägelsbachs durchzugehen und hierbei deutsche Sätze und Perioden zur sofortigen lateinischen Niederschrift zu diktieren. Dann wurde einer aufgerufen, seine Übersetzung vorzulesen, worauf Kritik und Verbesserung durch die übrigen erfolgte.
Die Lektüre diente auch dem Schreiben, ohne jedoch darüber ihren Eigenwert einzubüßen; namentlich den Virgil wußte Dr. Henrichsen geschmackvoll zu interpretieren und zu übersetzen. Auch Cicero lag ihm, die rhetorische Anlage war ihnen gemeinsam. Die Livius-Stunden beim Direktor traten dagegen zurück.
Die Voraussetzung für das Gelingen dieses Lateinbetriebs ist natürlich: daß das Lateinschreiben bei den Schülern als die erste und eigentliche[124] Kunst des Gelehrten in Geltung steht. Sie traf für uns noch in vollem Maße zu; vor allem wußte uns eben Dr. Henrichsen in dieser Anschauung zu erhalten: das Latein macht den Gelehrten, mit einem guten lateinischen Stil kommt man durch die ganze Welt, pflegte er zu sagen. Und es kam nichts an uns, was uns hierin hätte zweifelhaft machen können. Wir verachteten getrost die modernen Sprachen, sie sind für den Kaufmann, nicht für den Gelehrten; wir schätzten die Mathematik gering, von Naturwissenschaften wußten wir nichts, und von Technik und Industrie war damals, wenigstens in unseren Kreisen, nirgends die Rede. Ebensowenig hörten wir von Schulreform und Überbürdung: wir lebten noch ungestört in den Anschauungen, mit denen der Neuhumanismus am Anfang des Jahrhunderts die allgemeine Bildung und die Gelehrtenschule durchdrungen hatte: das Altertum die vornehme Welt, in der heimisch zu sein, das Vorrecht des Gelehrten ist; der lateinische Stil das gemeinsame Erkennungszeichen und gleichsam die Legitimation der gelehrten Bildung.
In anderen Teilen Deutschlands trafen diese Voraussetzungen schon damals nicht ganz mehr zu, das preußische Gymnasium entzog selbst durch die weit stärkere Betonung der modernen Bildungselemente den Altertumsstudien den Vorzug der Einzigkeit, was denn freilich durch seine völlig andere Stellung zum gesellschaftlichen Leben notwendig gemacht wurde. In den Herzogtümern war das Gymnasium, wie gesagt, so gut wie ausschließlich Gelehrtenschule, die Vorbereitung für die Universität seine erste und einzige Aufgabe; in Preußen hatte das bei uns unbekannte Berechtigungswesen, vor allem der Einjährigenschein, die Gymnasien zugleich zu höheren Bürgerschulen gemacht; die größere Hälfte der Schüler, bis in die III und II hinein, waren nicht dem Studium bestimmt, sondern verließen die Anstalt mit der Erreichung des Militärpapiers, um in das bürgerliche Leben einzutreten. An dieser Zwitterstellung des Gymnasiums hat sich L. Wieses Schulpolitik aufgerieben, mit ihr hat noch Bonitz vergeblich gerungen.
Inzwischen ist eine andere Welt heraufgekommen; die große Flutwelle des neuen politisch-nationalen Lebens ist über Deutschland dahingegangen; die mächtig aufsteigende industrielle und kommerzielle Entwicklung hat neue Interessen in den Vordergrund gedrängt; die Gegenwart ist im Steigen, das Altertum im Sinken. Und die Schule folgt allmählich der Zeit, der dann die Jugend wohl schon hier und da auch voraufeilt. Ich hab mir freilich als Schüler in Altona nicht träumen[125] lassen, daß mir einmal der Beruf zufallen würde, diese große Wandlung der Zeit der Schulwelt zu deuten. Gerade das Lateinschreiben war in Altona meine Freude und mein Vorzug.
Außer dem Lateinischen und dem Homer gab Dr. Henrichsen den deutschen Unterricht in II. Wir lasen im ersten Halbjahr Don Carlos, im zweiten Hermann und Dorothea. Es war meine erste Bekanntschaft mit Schiller und Goethe; ich weiß nicht, ob in meinem heimischen Dorf mich auch nur die Namen erreicht hatten. Von einem starken Eindruck weiß ich nicht zu berichten. Doch erinnere ich mich mit Vergnügen der Aufsätze, zu denen die Lektüre den Stoff bot: die Freundschaft des Don Carlos und Marquis Posa, die Gegend, worin Goethes Epopöe spielt und ähnlicher. Es waren meine ersten derartigen Versuche, ich freute mich, den Stoff zusammenzubringen und zu ordnen und meine Reflexionen daran zu knüpfen. Als gleich der erste Aufsatz mir ein Wort freundlicher Anerkennung eintrug, war ich sehr glücklich.
Im Griechischen war es vor allem Dr. Siefert, der als höchst energisch wirkender Lehrer uns weiterbrachte. Sicherheit im Grammatischen das erste: die unregelmäßigen Verben wurden nach einer kleinen Tabelle von Zeit zu Zeit repetiert und zu voller Sicherheit gebracht; durch wöchentliche Exerzitien wurden die syntaktischen und etymologischen Formen befestigt; so ging auch die Lektüre, Lysias Reden und Herodots Erzählung der Perserkriege wurden gelesen, auf gebahntem Geleise. Beim Herodot wurde gelegentlich der Versuch der Übersetzung in das Lateinische gewagt: die beiden alten Sprachen wurden auf diese Weise in engste Beziehung gebracht. Auch die alte Geschichte wurde in II von Dr. Siefert vorgetragen und zu der Lektüre in Beziehung gesetzt. Wir gewannen so lebendige Anschauungen wenigstens für einen kleinen Ausschnitt der griechischen Geschichte.
Nach einem halben Jahre wurde ich mit meinem Freunde Schacht in die erste Abteilung der II versetzt und zu Ostern 64 mit nochmaliger Überspringung eines Halbjahres nach Prima, das vorgeschrittene Lebensalter und der lateinische Stil gaben hierfür wohl den entscheidenden Anstoß. Dr. Henrichsen entließ uns mit herzlichen Worten und Wünschen in die neue Klasse.
Ob diese so ungewöhnlich rasche Beförderung in jeder Hinsicht gut für mich war? Ich wage es nicht die Frage zu bejahen. War sie auch sachlich vielleicht nicht unbegründet, waren auch die Fähigkeiten den Forderungen der höheren Klasse gewachsen, so hatte eine so sichtbare Voranstellung[126] vor andern doch ihre großen Gefahren. Mit der Steigerung des Selbstbewußtseins, auch wenn sie nicht gerade zur Selbstüberhebung ausschlägt, ist eine Minderung der Energie allzuleicht verknüpft; der gewonnene Vorsprung scheint ein sorgloses Sichgehenlassen zu rechtfertigen, das zur Erschlaffung der Kräfte ausschlägt. Keiner dieser üblen Wirkungen bin ich entgangen. Dazu kamen ungünstige äußere Umstände. Die Prima war überfüllt, wir waren unser 36 Schüler. Der Direktor hatte nicht die Kraft, eine so große Zahl fest am Zügel zu halten; er hatte dazu die Gewohnheit, sich fast ausschließlich mit dem obersten Jahrgang, den demnächstigen Abiturienten, zu beschäftigen. Den zweiten Jahrgang behandelte er im Grunde als bloße Mitläufer, denen er es überließ selber zuzusehen, wieviel sie von der Anwesenheit in den Stunden zu profitieren vermöchten.
Endlich ein Schlimmstes. Durch die Versetzung in die Prima wurde ich dem Verkehr mit dem alten Kreise entfremdet; dafür kam ich in die Gesellschaft von ein paar Landsleuten, darunter einem alten Schulkameraden aus Langenhorn, die mich bisher ein wenig von oben herab behandelt hatten. An Alter und mannigfachen Lebenserfahrungen, nicht immer löblicher Art, mir überlegen, imponierten sie mir, und ich fühlte durch ihren näheren Umgang mich geschmeichelt. Zugleich empfand ich es als Notwendigkeit, durch Mittun in allerlei Dingen, in denen sie mir voraus waren, bei ihnen mich in Respekt zu setzen. Eine Nachwirkung der Langenhorner Verhältnisse spielte mit hinein; mein Elternhaus war als ein »frommes« Haus bekannt, ich war schon in der Dorfschule geneckt worden; nun galt es, den Schein, als ob auch ich dieser Richtung angehöre, als einen schimpflichen Verdacht abzuwehren.
So begann eine Zeit, die ich nicht besser als mit dem Wort des heiligen Augustinus bezeichnen kann: ich schämte mich nicht schamlos zu sein. Die Arbeit hörte vollständig auf, dafür begann ein wüstes Kneipenleben, in dem alle edlen und tüchtigen Bestrebungen erstickten. Die Lehrer merkten wohl die Veränderung, die in meinem Wesen vorging; es hat auch nicht an gelegentlicher Zusprache gefehlt, so hat mich Dr. Siefert einmal auf sein Zimmer kommen lassen und mir ins Gewissen geredet. Auch die Eltern sahen mit Kummer, daß es nicht wie früher stand: aber auch sie vermochten nicht zu helfen; es wurde einmal an eine Verpflanzung auf eine andere Schule gedacht, aber sie unterblieb.
Die Schuld für diese Verirrungen lag bei mir. Doch kann ich die Schule[127] und besonders den Direktor nicht von aller Mitschuld freisprechen. Er brachte der Prima, seiner Prima, ein unbedingtes Vertrauen entge gen. Gewiß ist Vertrauen Lebensbedingung für das rechte Verhältnis von Lehrer und Schüler, aber es darf dem Lehrer die Augen für die Wirklichkeit nicht verschließen, und so war es hier in einigem Maße der Fall: er sah die Dinge nicht, die da waren; vielleicht wollte er sie auch nicht sehen. Er wollte von seinen Primanern nicht glauben, daß sie noch sehr zarte Pflänzlein seien, ein jeder cereus in vitium flecti. Die Stammkneipe, in der wir regelmäßig verkehrten, namentlich die Auswärtigen, stieß unmittelbar an das Gymnasium; wir gingen dort ungeniert, bei Tag und bei Nacht, aus und ein, unsere farbigen Mützen auf dem Kopf; eine ganze Reihe pflegte in der Schulpause hinüberzugehen, um sich mit Butterbrot, Bier und Schnaps für die nächste Stunde zu stärken. Unser Geschrei auf der Kegelbahn, unser nicht eben melodiöser Gesang bei nächtlichen Zechereien muß in den Räumen des Gymnasiums widergehallt haben; und bei Tage saßen wir vor dem freien Straßenfenster um den großen runden Tisch und würfelten eine Runde nach der andern aus. Ein Verbot des Besuchs von Wirtschaften hätte, bei dem Charakter der Großstadt und der Schülerschaft, gewiß nichts geholfen, hätte uns höchstens in andere Lokale gedrängt. Wohl aber hätte die Unterdrückung offensichtlicher Exzesse stattfinden sollen; und eine scharfe Kontrolle der Arbeit und der Gesichter hätte bald entweder zur Änderung des Lebens oder zum vollständigen Bruch mit der Schule führen müssen. Aber freilich, das letztere hätte Skandal gegeben, und der mußte unter allen Umständen vermieden werden.
Zu meinem Glück verließ jener ältere Langenhorner nach einem Jahr die Anstalt; er ging, was damals in den Herzogtümern noch möglich war, ohne Reifeprüfung zur Universität. Ihm selber nicht zum Heil; der Prüfungszwang hätte ihn doch genötigt, sich in einigem Maße zusammenzunehmen und zu arbeiten; so hat er sich überhaupt nicht wiedergefunden. Nach langen Jahren wüsten Studentenlebens ist er nach Amerika gegangen und dort verdorben und gestorben. Er war nicht ohne Begabung und Kraft; auf seine Umgebung übte er überall einen bedeutsamen Einfluß, schon durch eine gewisse Stattlichkeit der Figur und des Auftretens. Aber die Selbstzucht fehlte, die Willensenergie wurde falschen Bestrebungen dienstbar; und so war das Ende durch verspätete Anläufe zu einer neuen Lebensgestaltung nicht mehr abzuwenden. Mein Verhältnis zu ihm hatte immer etwas Zwiespältiges;[128] wir waren äußerlich befreundet, aber es bestand zwischen uns niemals ein volles Vertrauen; ich konnte mich des Gefühls eines gewissen Drucks nie ganz erwehren, das von seiner Überlegenheit nicht nur in rühmlichen Dingen ausging; er vermochte wohl eine gewisse Empfindung nicht loszuwerden, die aus einem Element ursprünglicher Fremdheit unserer Natur und Herkunft und etwas Neid, auch wegen meiner rascheren Schulkarriere, gemischt war. Wir sind uns in der Folge noch oft in den Ferien zu Hause begegnet; ich gewann später, als ich mich selber wiedergefunden hatte, ihm gegenüber volle Freiheit; wir haben dann wohl auch ernst miteinander gesprochen; ich erinnere mich, daß ich ihm einmal sagte: Es handelt sich für uns jetzt um Arbeiten oder Untergehen. Er widersprach nicht; aber unsre Wege gingen immer weiter auseinander.
Das letzte Jahr meines Altonaer Aufenthalts wurde so erheblich besser als das mittlere, das die Zeit der tiefsten Erniedrigung meines Wesens war. Das Vorrücken in der Klasse und das Herannahen der Abgangsprüfung brachte den notwendigen äußeren Antrieb zum Arbeiten; hinter dem, was hätte geschehen können und sollen, blieb es gleichwohl weit zurück. Immerhin retablierte ich mich bei den Lehrern wieder einigermaßen in meiner Stellung, und im letzten Halbjahr wurde manches repetiert und gelernt, vor allem in der Geschichte und Literatur. Der Unterricht in der Prima, um über ihn nur kurz zu berichten, lag in denselben Händen wie in der Sekunda, nur daß die Rollen zwischen dem Direktor und Konrektor wechselten. Dr. Lucht hatte als Ordinarius hier den lateinischen, griechischen und deutschen Unterricht in der Hand, in der Hauptsache, denn Dr. Henrichsen und Dr. Siefert hatten ihren Teil daran.
Das Lateinschreiben stand auch hier im Mittelpunkt, doch hatte es weder für das Interesse der Schüler noch für die Schätzung ihrer Leistungen so sehr die herrschende Stellung als in der II. Die Exerzitien wurden einem Übungsbuch (Forbiger) entnommen, das nach unserer Meinung erheblich weniger Aufwand von Kraft und Nachdenken erforderte als Seiffert. Bei der Zurückgabe der Arbeiten fiel sowohl die Zusammenzählung und Klassierung der Fehler als ihre Besprechung fort: der Direktor erteilte nur Nummern, die uns öfter nicht so der Leistung, als dem Platz des Schülers in der Klasse angepaßt erschienen, was wohl auch von den Zensuren der deutschen Aufsätze behauptet wurde: die erste Abteilung erhielt Nr. 1 und so abwärts.[129] Übrigens war auf die Rückgabe nicht bald und nicht sicher zu rechnen. Kein Zweifel, daß Dr. Henrichsen in II einen lebhafteren Eifer für diese Arbeiten, eine stärkere Aufmerksamkeit bei der Zurückgabe und eine größere Scheu vor seiner Zensur erreichte. Hin und wieder wurde auch ein lateinischer Aufsatz geschrieben; ich glaube, daß er sich in der Regel auf eine Zusammenstoppelung von Reminiszenzen aus der Lektüre beschränkte und an Wert hinter den Exerzitien zurückblieb.
Die Lektüre von Ciceros und Platos philosophischen Schriften litt unter dem allzu langsamen Tempo; sonst hätte sie sowohl als die Erklärung des Direktors Teilnahme erwecken können. Platos Phädon, das einzige, was ich auf der Schule von diesem Autor gelesen habe, wurde mit drei Stunden wöchentlich durch zwei Semester hindurch fortgesetzt; dabei ging jede Konzentration auf den Inhalt verloren, trotz oder soll ich sagen wegen der immer wiederkehrenden Aufnahme des Fadens durch den Lehrer. Freilich hat der Dialog auch unglaublich sterile Partien, wenigstens für den heutigen Leser, sie sind wohl nur durch rasches Durchgehen in einer Übersetzung zu überwinden. Von Thucydides lasen wir das erste Buch, von Demosthenes unter anderem die Kranzrede: beide gaben dem Direktor zu Ausführungen antiquarischen Inhalts Gelegenheit, die manche Belehrung brachten.
Der deutsche Unterricht war wenig fruchtbar; gelesen wurde in der Klasse überhaupt nicht mehr, dafür trat ein Vortrag der Literaturgeschichte ein, in dem der Direktor einen Leitfaden (Pischon) durch sehr detaillierte Angaben über die Lebensverhältnisse der Dichter (ich erinnere mich besonders des 18. Jahrhunderts, Gerstenberg, Hamann, Herder) ergänzte. Daß diese Mitteilungen uns viel Gewinn gebracht haben, glaube ich nicht, wir hätten dazu mehr von den Dichtungen selbst lesen müssen; vielleicht war darauf gerechnet, aber schon die Schwierigkeit der Beschaffung ihrer Werke stand dem entgegen; es gab noch nicht die wohlfeilen Volksbibliotheken. Übrigens fiel die Stunde oft aus, und wir brachten sie auf der Kegelbahn der anstoßenden Kneipe zu. Für den deutschen Aufsatz fiel so die Verbindung mit der Lektüre fort; es wurden Themata reflektierenden, moralisierenden, philosophischen Inhalts gegeben, die vielfach über den Schülerhorizont hinausgingen.
Weitaus am meisten verdanke ich in der I den Stunden Dr. Sieferts. Hier war es kaum möglich, sich ganz dem Arbeiten zu entziehen. Wenn für die übrigen Stunden die Präparation meist unterblieb (bei der großen Zahl der Schüler kam, namentlich bei dem Direktor, der einzelne[130] selten daran, vorzuübersetzen, und bei der Art des Aufrufens ließ sich die Stunde fast genau ausrechnen), so kam in die griechischen Stunden des Subrektors selten jemand ohne wenigstens einige Vorbereitung. Die Tragiker wurden gelesen, von Sophokles die beiden Oedipus und Antigone, ferner des Euripides Iphigenie bei den Tauriern. Die Erklärung war eindringend und lehrreich; Dr. Siefert war auf Sizilien und in Athen gewesen; er kannte das griechische Theater; Otfried Müller war sein Lehrer gewesen, ich erinnere mich noch der Bewegung, womit er vom Grab auf dem Kolonoshügel sprach, als der Oedipus uns dorthin führte. So waren dies fruchtbare Stunden. Auch das bot eine Anregung für mich, daß ich im letzten Semester eine Ausgabe der Iphigenie von G. Hermann besaß und gelegentlich abweichende Lesarten zur Sprache brachte, auf die Dr. Siefert nicht selten ein wenig einging. Für die Hinführung zu vertieftem Eindringen in den Autor gibt es vielleicht kein erregenderes Mittel, als hier und da eine gut gewählte varietas lectionum, mit freier Diskussion der Gründe, die für diese oder jene Lesart sprechen; so ist mir eine Stunde im Gedächtnis geblieben, wo Dr. Henrichsen uns die Stelle in der ersten Satire des Horaz: miles gravis annis oder gravis armis? mit Gründen für und wider erörtern ließ.
Auch die griechische Grammatik mit den begleitenden schriftlichen Übungen blieb in der Hand Dr. Sieferts, und er ließ es zu keinem Vergessen kommen. Bei der Zurückgabe der Exerzitien lief fast regelmäßig eine Tücke, ich weiß nicht, ob des Objekts oder des Subjekts, unter; die falsche Akzentuierung der Enklitika, besonders des ärgerlichen τε; er regte sich jedesmal darüber, nicht selten bis zu heftiger Zornexplosion, auf.
Vortrefflich und gründlich war auch der Unterricht, den uns Dr. Siefert in der Geschichte erteilte; er umfaßte in der I Mittelalter und Neuzeit bis 1815. Das Lehrbuch von Pütz wurde zugrunde gelegt; doch gab Dr. Siefert für alle wichtigeren Perioden eine Darstellung in eigenem freien Vortrag, der der Form nach wenig geglättet, dem Inhalt nach aber wohldurchdacht war und auf selbständiger Durcharbeitung des Stoffes und auch wohl der Quellen beruhte. Wir schrieben aus eigenem Antriebe nach, so gut es ging, und hatten auch daran eine nicht wertlose Übung. Zu Hause wurde dann ein Tableau der Materie angefertigt, in einem dicken Quartheft wurden zwei Kolumnen, für äußere und für innere Geschichte, angelegt, und die Hauptdaten mit den Jahreszahlen[131] eingetragen, ein vortreffliches Hilfsmittel für die Einprägung. Während des Semesters fand alle vier Wochen eine Repetition statt, bei der Frage und Antwort Schlag auf Schlag folgen mußte und in der Regel auch folgte. Am Schluß des Semesters war Generalrepetition, in der ein Versagen ebensowenig geduldet wurde. So war die große Repetition der gesamten Geschichte für das Abiturientenexamen vorbereitet, die uns einen Leitfaden der Begebenheiten und der Daten von den Anfängen bis aufs 19. Jahrhundert herab zu stets gegenwärtigem Gebrauch in die Hand gab. Ist seitdem auch manches von dieser Übersicht aus dem Gedächtnis geschwunden, so sind die großen Umrißlinien doch geblieben und dazu die Möglichkeit, nach Bedürfnis auch die verblaßten Teile rasch wieder aufzufrischen. Ich bin Dr. Siefert für diesen höchst energisch gehandhabten Geschichtsunterricht zu dauerndem Dank verpflichtet, er hat mir für alle meine folgenden Studien, und sie haben sich zu einem beträchtlichen Teile auf dem Boden der Geschichte bewegt, eine sehr haltbare Grundlage geboten. Habe ich einige Fähigkeit bewiesen, die Perioden geschichtlichen Lebens übersichtlich zusammenzufassen und ihr Wesen charakterisieren, so ist dafür in diesen Stunden der Grund gelegt worden.
Noch erwähne ich eines Vortrags der griechischen und der römischen Literaturgeschichte und ebenso der »Antiquitäten«, tatsächlich des Staatsrechts. Dr. Siefert diktierte einen kurzen Abriß, der nach Gelegenheit erläutert und ausgeführt wurde. Es war eine Antizipation akademischen Unterrichts, die uns aber durchaus erfreulich und nützlich war; auch hier war selbstverständlich Repetieren und Lernen strenge Forderung. Mir sind auch diese knappen, aber festen Umrisse in der Folge sehr wert gewesen, manches davon haftet mir noch heute im Gedächtnis. Auf die übrigen Fächer will ich nicht eingehen; die Horaz-Stunden von Dr. Henrichsen wären etwa zu erwähnen: sie haben wohl beigetragen, mir den Geschmack an diesem Dichter, besonders an seinen Satiren und Episteln beizubringen, der bis auf diesen Tag nicht vergangen ist. So wenig es eigentlich Poesie ist, so sehr ist es lebhafte, witzige, springende Konversation, deren Reiz durch die oft so seltsam verrenkte Wortstellung, die der lateinische Vers möglich macht, erhöht wird. Und schließlich wird in der munteren und sorglosen Form auch manches Goldkorn echter Weisheit verstreut. Weniger wüßte ich von der Tacitusstunde zu sagen; er ist mir erst später aufgegangen.
Die modernen Sprachen wurden von uns durchaus als quantité[132] négligeable betrachtet: das Französische bei Herrn Demory (Démory sprachen wir ihn zu seinem Verdruß: er heiße Demóry) ging seinen trübseligen Gang weiter; das Englische bei Herrn Kirchhoff brachte auch geringe Fortschritte, Shakespeares Antonius und Kleopatra war zu schwer für die meisten; im Dänischen wurden Ingemanns Romane gelesen: hier war ich vor der Stunde ein begehrter Berater und Vorübersetzer. Mathematik und Physik, allgemeine und topische Geographie bei Dr. Scharenberg schleppte sich auch so weiter hin. An die Mathematik versuchte ich wohl, als das Abgangsexamen in die Nähe rückte, heranzukommen; aber es wollte nicht mehr gelingen, unter den gegebenen Umständen kein Wunder. Ein wenig besser ging es mit den Naturwissenschaften. Es fehlte mir dafür durchaus nicht an Teilnahme, ja für Geographie hatte ich von klein auf ein leidenschaftliches Interesse gehabt. So brachte ich es denn, mehr durch das Lesen der Lehrbücher als durch den Unterricht des Lehrers, dahin, daß ich zu den Schülern gehörte, auf die er Hoffnungen setzte. Der Unterricht bestand übrigens in der Hauptsache in dem Vorlesen, Umschreiben und Erklären dessen, was in den Büchern stand. Das Experiment in der Physik stand nicht am Eingang, die Erscheinung dem Schüler vor Augen bringend, sondern kam hinterher als eine im Grunde überflüssige Bestätigung der Theorie: alle vier oder sechs Wochen versammelte sich die Klasse in der Aula, angeblich, um Experimente zu sehen, die übrigens vielfach nicht gerieten, tatsächlich, um in dem ungewohnten und größeren Raum neuen und größeren Unfug zu machen.
Endlich kam das Abiturientenexamen. Es machte uns keine Sorge, wir wußten im ganzen, wie wir standen. Das Urteil lag ausschließlich in der Hand unserer Lehrer, es erschien kein Kgl. Kommissarius mit der Befugnis, die Noten zu korrigieren und etwa auch den von dem Kollegium für reif Befundenen auf Grund seiner Eindrücke zurückzuweisen. Nur einige Männer aus der Stadt, darunter der Bürgermeister und der Propst, erschienen zur mündlichen Prüfung, um unter dem Titel von Scholarchen tatsächlich die Rolle von Statisten zu spielen. Die Prüfung begann mit einer großen Anzahl schriftlicher Arbeiten, ein lateinischer und ein deutscher Aufsatz, ein lateinisches Exerzitium, mathematische, physikalische, geschichtliche und literaturgeschichtliche Aufgaben wurden schriftlich bearbeitet. Die historische Aufgabe war: Friedrich Barbarossas Beziehungen zu Italien, ich hatte die Römerzüge des Kaisers am Schnürchen; die literarhistorische: Herders Leben und Wirken. Das Thema[133] des deutschen Aufsatzes war: Glaube nicht alles was du hörst, sage nicht alles was du weißt, tue nicht alles was du kannst. Bei der Lösung der mathematischen Aufgaben wurde stark mit fremden Kälbern gepflügt, sonst würden die meisten wohl leere Blätter haben abgeben müssen. Die mündliche Prüfung dauerte vom frühen Morgen bis in den späten Abend; sie fiel ebenso befriedigend wie die schriftliche aus: es erhielten von, ich meine, 11 Abiturienten 9 die erste Note »völlig reif«, unter ihnen auch ich, 2 die zweite. Daß der Maßstab, der bei der Beurteilung der Leistungen angelegt wurde, kein allzu strenger war, wird man nach dem Vorhergehenden glauben. Allerdings war unter dem Jahrgang eine ganze Anzahl gut begabter Schüler; dazu kam, daß mehrere um eines bedeutenden Stipendiums willen, das nur alle drei Jahre zur Vergebung kam und diesmal verliehen wurde, ihren Aufenthalt in I etwas ausgedehnt und auch besonders dafür gearbeitet hatten. Im übrigen stand es mit der »völligen Reife«, die uns auf dem Zeugnis bescheinigt wurde, in Wirklichkeit bescheidener; was mich anlangte, so konnten meine Kenntnisse in den alten Sprachen und der Geschichte wohl auch vor größeren Ansprüchen bestehen. Dagegen waren sie in allen übrigen Fächern, auch die deutsche Literatur eingeschlossen, mangelhaft, und da und dort gingen sie nicht über das hinaus, was ich in die Sekunda aus Langenhorn mitgebracht hatte.
Als wir von den alten schwarzen Mauern und den engen Klassenräumen des Christianeums Abschied nahmen, war uns nicht schwer ums Herz, auch nicht, als wir mit den alten Lehrern letzte Händedrücke und Abschiedsgrüße wechselten. Gefühle des Danks sprießen bei Schülern spät. Ich habe lange Zeit mit Widerwillen an jene Jahre zurückgedacht. Jetzt kann ich doch nicht ohne dankbare Empfindung an die Männer denken, die alle mit viel Geduld und Wohlwollen mich getragen, zum Teil auch mit redlichem Eifer mich gefördert haben. Daß es nicht in reicherem Maße geschehen ist, das war, ich wiederhole es, meine Schuld, nicht ihre. In fine laus, so stand über der Eingangspforte des Mittelbaus unseres Klassengebäudes. Es mag auch als Über- oder Unterschrift über die Zeit meiner vorbereitenden gelehrten Studien, unter die Arbeit meiner Lehrer gesetzt sein.
Mit einem Wort will ich zum Schluß noch der politischen Verhältnisse und Vorgänge dieser Jahre gedenken, die doch auch in unser Leben und Empfinden hineinspielten. Als ich nach Altona ging, bestand noch der dänische Gesamtstaat unter Friedrich VII.; aber er ging seinem Ende[134] entgegen. Die Lage war gespannt: zwischen Dänemark und den Herzogtümern, zwischen dem deutschen Bund und dem Herzog von Holstein, in zwischen den Kleinstaaten und den beiden deutschen Großmächten, zwischen Preußen und Österreich, zwischen dem Volk und dem König in Preußen, überall Feindschaft und Mißtrauen. Auch wir Schüler fühlten uns als gute Deutsche zur Feindschaft gegen alles Dänische verpflichtet und äußerten sie, wo wir konnten. So ärgerten wir die dänischen Soldaten, die in Garnison lagen, indem wir sie vom Trittstein herunterdrängten; so vexierten wir die dänischen Zollgendarmen, die Altona, das mit Hamburg ein Freihafengebiet bildete, rings umgaben, indem wir z.B. beim Passieren der Zollgrenze durch Aufbauschen des Überziehers ihre Aufmerksamkeit erregten, als ob wir allerlei zollbare Sachen darunter verborgen trügen, um dann auf Anrede die Vermutung mit Entrüstung abzuweisen. Als am 18. Oktober 1863 in ganz Deutschland das Gedächtnis der Leipziger Völkerschlacht gefeiert wurde, wollten wir auch nicht zurückbleiben, trotz oder gerade wegen des Verbots. Am späten Abend zogen in der Dunkelheit auf mannigfachen Wegen Turner und Schüler nach einer Anhöhe bei Bahrenfeld, eine Stunde draußen vor der Stadt: hier wurde eine mitgebrachte Teertonne mit einem Holzstoß angezündet und patriotische Lieder gesungen. Auf einmal entstand eine Unruhe, es hieß: die Gendarmen kommen. Und eilends zerstob der Haufe; ich kam mit Freund Schacht erst spät in der Nacht auf allerlei Umwegen nach Hause.
Da starb im November König Friedrich VII. Daß er der letzte Dänenkönig sein müsse, der zugleich Herzog von Schleswig und Holstein war, stand uns natürlich auch ohne alle Untersuchung der staatsrechtlichen Verhältnisse fest. In rascher Folge kam nun zuerst die Bundesexekution in Holstein: Hannoveraner und Sachsen zogen ein, und die verhaßten dänischen Uniformen verschwanden. Blau-weiß-rote und schwarz-rot-goldene Fahnen hingen aus allen Fenstern, wir legten Bänder und Kokarden in denselben Farben an, lasen eifrig die patriotischen Zeitungen und berauschten uns in Hoffnungen und Vorsätzen. Der Herzog Friedrich VIII. kam nach Kiel, es hieß, er werde bald auch nach Altona kommen: unter uns ging das Gerücht, es sei ein altes Privileg der Schüler der beiden Oberklassen des Christianeums, in solchem Falle bei Tisch aufzuwarten, und wir waren entschlossen, uns dieses Privileg nicht verkürzen zu lassen. Glücklicherweise sind unsere Dienste für diese Zwecke nicht in Anspruch genommen worden. Ebensowenig auch für[135] die herzogliche Armee, deren Bildung damals in Hamburg geplant und vorbereitet wurde: ich meine, daß auch einmal unter den Schülern eine Liste der Freiwilligen umgegangen ist und von uns unterzeichnet wurde; von wannen sie kam und wohin sie ging, ist mir nicht bekannt. Mit Eifer wurden von uns die öffentlichen patriotischen Vorträge besucht, die in diesem Winter Prof. Aegidi in der Aula des Johanneums hielt: er handelte von der Geschichte der Befreiungskriege, flocht aber politische und staatsrechtliche Exkurse über die Vorgänge der Gegenwart ein: so erinnere ich mich, wie er eines Abends uns demonstrierte, daß das Recht des Herzogs Friedrich VIII. durch den Verzicht des Vaters für sich und seine Familie keineswegs aufgehoben sei: das gelte zwar im Privatrecht, nicht aber im Staatsrecht, wo das Recht des Fürsten durch das Recht des Landes auf die Dynastie begrenzt werde.
Im Februar 64 kam der Krieg; ich sehe noch die österreichischen Liechtenstein-Dragoner in ihren weißen Mänteln, die im flackernden Gaslicht von den schwarzen Mauern der alten Straßen wirksam abstachen, vom Berliner Bahnhof in Hamburg her in die Stadt ziehen, ein andermal bei Sonnenschein preußische Garderegimenter in blitzendem Helmschmuck durch die Königstraße marschieren. Bald kam die Nachricht von der Vertreibung der Dänen aus dem gefürchteten Dannevirke durch Österreicher und Preußen und rief großen Jubel hervor. Die Erstürmung von Düppel führte den König von Preußen zum erstenmal ins Land, ich hab, wenn nicht ihn selbst, so doch wehende Helmbüsche durch die Palmaille fahren sehen. Die politischen Verhältnisse nahmen damit freilich einen Verlauf, der den Wünschen der Bevölkerung der Herzogtümer und der großen Mehrheit des deutschen Volkes entgegenging. Der Herzog wurde nicht anerkannt, der Bund ausgeschaltet, die Hannoveraner und Sachsen ausgetrieben. Als ich eines Tages zur Nachmittagsschule über den Rathausmarkt ging, stand ein Bataillon Preußen vor der Wache, die noch von sächsischen Truppen besetzt war. Es herrschte die äußerste Spannung. Es hieß, die Preußen hätten die Forderung gestellt: bis 3 Uhr ist die Wache geräumt, oder sie wird erstürmt. Glücklicherweise kam es nicht dazu, die Sachsen erhielten Befehl, abzuziehen. Seitdem hatte Altona preußische Besatzung. Der Wiener Friede endlich brachte nicht die Selbständigkeit der Herzogtümer, sondern ihre Abtretung an Preußen und Österreich und jenen schwebenden Zustand des Kondominiums, der den Krieg zwischen den[136] beiden deutschen Großmächten im Busen trug. In Holstein wurden die Gefühle gegen Preußen immer feindlicher; das Bismarckische Regiment, dazu die Hoffnung, durch Österreich zum selbständigen Staatswesen unter dem Herzog zu gelangen, führten die Massen der österreichischen Seite zu. Ein kleiner rothaariger Jude May, der viel in der Wirtschaft verkehrte, wo wir Stammgäste waren, ich habe ihn oft dort gesehen, war das politische Orakel von Altona; ein großer Preußenfresser, interpretierte er uns im Altonaer Anzeiger die politische Lage im österreichischen Sinne. So wurde der Gasteiner Vertrag, der Holstein unter ausschließlich österreichische Verwaltung brachte, von der Altonaer Bevölkerung mit Freuden begrüßt. Die österreichische Besatzung wurde mit großen Sympathien aufgenommen, die Regimentskonzerte mit Leidenschaft besucht, die Offiziere überall fetiert. Vor allem auch von der Weiblichkeit; und man muß gestehen, sie wußten sich liebenswürdig zu machen. Unter anderem brachten sie auch den Import böhmischen Bieres zuwege; das »Leitmeritzer«, das besonders in einem großen Biergarten der Königstraße ausgeschenkt wurde, wurde das beliebteste Getränk; es hat auch uns oft dorthin gezogen und manchen Nachmittag bis in die Nacht hinein festgehalten. Auch unserem Christianeum brachte die österreichische Verwaltung eines Tages hohen Besuch. Der Statthalter, General Gablenz, der Sieger von Översee und später im Jahre 1866 von Trautenau, erschien in Altona und inspizierte bei der Gelegenheit auch unsere hohe Schule. Ein stattlicher Herr, in glänzender Husarenuniform, betrat er, vom Direktor mit tiefen Bücklingen eingeführt, die Prima und musterte die Klasse mit seinen lebhaften Augen. Auf die Frage des Direktors: welchen Unterricht Exzellenz zu sehen wünsche?, forderte er auf, das Gericht des Tages ihm vorzusetzen. Es wurde Thucydides gelesen und interpretiert; ich glaube nicht, daß der vornehme Besuch einen Buchstaben Griechisch verstand. Er machte denn auch bald der Sache ein Ende und hielt uns nun eine kleine Ansprache, worin er zunächst seine Befriedigung mit dem Stand der Anstalt und unseren Leistungen ausdrückte, dann aber zu einer Exhortation an die Primaner ausholte; ich erinnere mich daraus einer Stelle, die, in österreichischem Deutsch gesprochen, unseren Enthusiasmus für Österreich und seinen Vertreter niederzuschlagen recht geeignet war. Er forderte uns auf, unseren Lehrern dankbar zu sein und vor allem unsern Eltern, daß sie uns in eine so gute Schule schickten; »da draußen im Reich habe ich Kinder gesehen[137] auf der Landstraße den Mist aufsammeln, haben nix gelernt und sind in keine Schule gekommen.« Daß wir mit solchen »Kindern« in Parallele gestellt wurden, war wohl das ärgste Attentat auf unsere Primanerehre, das wir erlebt haben.
Meine Sympathien hatten sich überhaupt schon länger von der österreichisch-herzoglichen der preußischen Seite zugewendet. Die Gründe dafür vermag ich selbst nicht anzugeben; vielleicht war ein wenig von dem allgemeinen Oppositionsgeist dabei, der mich von jeher geneigt gemacht hat, die Sache des allgemein Verworfenen lieber als die des allgemein Anerkannten zu führen. Dann wirkte wohl auch die Empfindung des Schleswigers mit, daß die Herzogtümer und im besonderen das nördliche gegen einen Rückfall in dänische Herrschaft doch nur durch Preußen wirksam geschützt werden könnten: ein Kleinstaat an der gefährdeten Grenze eine Unmöglichkeit. So war ich schon in Altona zuletzt entschieden für die Einverleibung in Preußen und habe in mancher erregten Debatte diese Lösung vertreten.
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