|
[138] Im Frühjahr 1866 bezog ich die Universität Erlangen, mit mir noch zwei der Altonaer Schulkameraden, unter ihnen Freund Schacht. Ich holte ihn aus seinem Heimatsort Neritz bei Oldesloe ab, und wir machten die Reise nach dem Süden gemeinschaftlich. Wir waren zwei Tage unterwegs, in Leipzig wurde Station gemacht und die Messe auf dem Brühl besucht. In der Erinnerung ist mir auch geblieben, daß ich in Erlangen mit 5 Sorten deutschen Kleingeldes ankam: Hamburger Schillinge, von denen 40, Mecklenburger, von denen 48 auf den preußischen Taler gingen, dann preußische und sächsische Groschen, endlich bayrische Kreuzer. Nicht weniger mannigfaltig waren wohl auch die Kassenscheine, die ich von Hause mitbekommen hatte. Den ganzen deutschen Jammer trug man so in der Tasche.
Was mich nach Erlangen führte? Ich weiß es selbst nicht; vielleicht unbestimmte Vorstellungen vom deutschen Süden und süddeutschen Studentenleben, vage Gerüchte von der Erlanger Theologie, die damals in großem Ruf stand, sicher wirkte mit der Ruf von der Wohlfeilheit des dortigen Lebens: ich hatte in Altona für meine Verhältnisse ziemlich beträchtliche Schulden abzuzahlen.[138]
Ich ließ mich bei der theologischen Fakultät inskribieren, der alten Bestimmung folgend; innerer Antrieb war kaum dabei, religiösem Leben war ich völlig entfremdet; immerhin, tröstete ich mich, kann es nicht schaden, zu sehen, wie sich die Dinge, die mir doch von Kindesbeinen an nahegetreten waren, in der Beleuchtung der Wissenschaft ausnehmen; daß in der gelehrten Forschung sich manches anders darstelle als im überkommenen Glauben, davon war auch zu mir dieses und jenes gedrungen. Ich hatte nicht umsonst während der Gymnasialzeit mit Freunden die »Gartenlaube« gehalten.
Von größerer Bedeutung für die Gestaltung meines Erlanger Lebens war, daß ich in die Burschenschaft eintrat. Auch hierfür wüßte ich die Beweggründe kaum anzugeben: eine unbestimmte Vorstellung, daß die Burschenschaft für Deutschlands Einheit und Größe eintrete, verbunden mit dem Gefühl der Leere des Daseins, das durch den Anschluß des Freundes Schacht an die Uttenruthia gesteigert wurde, mag den Ausschlag gegeben haben. Im übrigen wußte ich von der Burschenschaft, ihrer Geschichte und ihren Bestrebungen, den programmatischen und den tatsächlichen, wenig oder nichts. Überhaupt, was weiß die Jugend von den Schritten, die sie tut? Nicht viel mehr als der Neugeborne, wenn er ins Leben tritt, nicht wissend von Eltern und Volk, von Stellung und Schicksal, die ihm bereitet sind. Und wie wäre Leben sonst möglich? Die Wahl haben wir in den kleinen Dingen, die großen sind vorbestimmt.
Die Burschenschaft Bubenruthia, so genannt nach dem kleinen Dorf Bubenreuth, eine Stunde nördlich von Erlangen im Tal der Regnitz gelegen, wo sie ihre vielgeliebte Exkneipe hatte, war eine der ältesten Burschenschaften; sie ging mit halben Unterbrechungen, die durch die politische Unterdrückung herbeigeführt worden waren, auf die alte Burschenschaft von 1817 zurück; ihr Stiftungsjahr datierte sie von 1833; neben ihr bestand als zweiter Zweig des alten Stammes die Germania, sie hatte sich im Jahre 1848 von der Bubenruthia als ihr politisch radikaler Flügel losgelöst. Der Bestand der Bubenruthia schwankte mit geringen Abweichungen um das halbe Hundert; sie war damit eine der stärksten farbentragenden Verbindungen Deutschlands. Alle Fakultäten waren in ihr vertreten, am zahlreichsten damals die Theologen, die auch an der Universität weitaus das Übergewicht hatten; Juristen und Mediziner waren etwa in gleicher Zahl vertreten, schwächer die philosophische Fakultät; ein paar Philologen machten ihren ganzen Bestand[139] innerhalb der Verbindung aus. Auch die Semester waren alle vertreten, am stärksten die Jungburschen, das 2. bis 4. Semester; doch fehlte nicht das 7. und 8., sie waren vielfach draußen gewesen und kehrten nun zum Examen nach Erlangen zurück. Mittel- und Oberfranken waren das eigentliche Stammland der Burschenschaft, das alte Ansbach-Bayreuth und Nürnberg stellten das Hauptkontingent; doch waren auch die übrigen bayrischen Lande, Unterfranken und die Pfalz, Schwaben und Oberpfalz, vertreten. Dagegen fehlten die altbayrischen Gebiete und auch Mitteldeutschland so gut wie ganz. Norddeutschland stellte sporadisch einige, zeitweilig auch eine ganze Anzahl Mitglieder; mit mir traten zwei Rheinländer, zwei Vettern, ein, Rehorn und Bungeroth, beide Theologen; ich bin ihnen später oft wieder begegnet. Die älteren Jahrgänge hatten zu meiner Zeit gar keine Norddeutschen, ein Umstand, der mir das Einleben sehr erschwert hat.
Das Leben in der Burschenschaft war sehr ungebunden. Der einzelne hatte bei der großen Zahl große Freiheit, über sich und seine Zeit selbständig zu verfügen, viel mehr, als es bei kleineren Verbindungen möglich ist, als es gegenwärtig auch bei den größeren der Fall ist: eine Bindung, die den ganzen Tag des einzelnen in Anspruch nimmt, hätten wir damals wohl für unerträglich, vielleicht auch für unwürdig angesehen. Zwei Kneipabende in der Stadt, der Samstagnachmittag und -abend in Bubenreuth, die tägliche Fechtstunde, das war, abgesehen von den Ehrengerichten und später den Mensuren, alles, was offiziell gefordert wurde. Im übrigen verfügte jeder über seine Zeit nach Gutdünken. Die Kollegien wurden von den meisten ziemlich regelmäßig besucht; manche, vor allem natürlich die Älteren, arbeiteten auch mehr oder minder fleißig zu Hause. Ein Studienabschluß mit anständigem Examen zu rechter Zeit galt durchaus als Pflicht auch gegen die Verbindung; man war stolz auf Leute, die sich eine Stellung schufen. Unter den Leuten, mit denen ich in Erlangen zugleich war, sind eine ganze Anzahl zu hervorragenden, zum Teil zu hohen Würden im Staatsdienst und in anderen Stellungen gelangt. Natürlich fehlte es auch nicht an solchen, die ihre Tage der Kneipe, dem Kartenspiel und dem Bummeln widmeten. Getrunken wurde im ganzen nicht übermäßig, manche schränkten sich auf wenige Gläser an den Kneipabenden ein, andere leisteten ein mehreres; schwere Betrunkenheit war doch nicht allzuhäufig. Eigentliche Roheit kam kaum vor, sie wäre auch nicht geduldet worden. Im ganzen herrschte ein harmlos fröhlicher Ton mit[140] einer Hinneigung zu inhaltleerer sogenannter Gemütlichkeit. Für allgemeine, philosophische, wissenschaftliche oder politische Fragen war im ganzen das Interesse gering, das Gespräch drehte sich meist um studentische Angelegenheiten, sofern es nicht entweder in bloßem Ulk und Neckereien versimpelte oder einmal, namentlich unter den Medizinern, auf Fachwissenschaftliches sich bezog. Auf das Äußere wurde wenig gegeben, in der ganzen Studentenschaft herrschte noch große Einfachheit, bei der Burschenschaft gehörte sie gewissermaßen zum Grundsatz: die Patentheit überließ man den Korps.
Als die eigentliche Heimstätte der Burschenschaft galt Bubenreuth. Hier war die Exkneipe, die am Sonnabend und Sonntag von fröhlichstem Leben erfüllt war: ein einfaches Dorfwirtshaus mit einem sehr großen und hübschen Garten, darin der »Salon«, ein kleines Gartenhäuschen, und eine von Linden ganz überdeckte große Laube, der »Pferch«, bidete die Szenerie. Im Hause waltete die »Madame«; sie nahm eine höchst eigentümliche Respektsstellung in der Verbindung ein; es war streng innegehaltene Sitte, daß man, wenn man kam und ging, sie in der Küche aufsuchte und mit Handschlag und Anrede begrüßte. Sie hatte schon die Anfänge der Bubenruthia gesehen und eine lebendige Erinnerung an die Schicksale der Verbindung und ihre einzelnen Mitglieder; ihr Urteil über die neu eintretenden Füchse galt als eine Art Orakel, ob sie einschlagen würden oder nicht. Ihr Mann, der alte Mörsberger, »Mörsch« genannt, kam daneben wenig in Betracht, weder für die Wirtschaft noch für die Verbindung. Er saß, bei irgendeinem Anlaß von einem Mitglied der Burschenschaft durch Zufall zum halben Krüppel geschossen, meist auf der Ofenbank und war durch seine Grobheit bekannt. Mit ihm und zwei erwachsenen Söhnen duzte man sich meist. An schönen Sommertagen kamen auch die Erlanger Honoratioren gern nach Bubenreuth, nach dem ein freundlicher Spaziergang durch den Wald oder am Kanal hinführte; dann war der Garten voll bunter Bilder; es wurde wohl einmal ein Spiel arrangiert, an dem auch die jungen Damen teilnahmen. Im Winter zog man sich in den »Salon« oder bei größerer Kälte in die Wirtsstube zurück; der enge Raum, in dem auch die Bubenreuther Bauern in der Ofenecke saßen, war dann bis zum Erdrücken gefüllt; wer von draußen hereinkam, sah die ersten Minuten in der von Talgkerzen dürftig erleuchteten Stube vor Qualm und Rauch überhaupt nichts. Spät abends zog man dann in größeren oder kleineren Gruppen, mit brennenden Pechfackeln ausgerüstet,[141] durch den nächtlich-finstern Wald nach der Stadt. Ein besonders beliebter Sport war es dabei, den verbotenen Weg durch den Tunnel zu nehmen; ein Wunder, daß den oft schwankenden Gestalten dabei niemals ein Unglück zugestoßen ist.
Drei Semester blieb ich in Erlangen. Sie liegen trotz jener im ganzen günstigen Verhältnisse vor mir nicht wie bei so vielen im Glanz sonniger Jugenderinnerung. Es lag zum Teil an den Umständen, in der Hauptsache an mir selber: ich fand keinen vernünftigen Lebensinhalt; und so fehlte es mir auch in jenen Semestern selbst trotz scheinbarer Fröhlichkeit, die sich wohl auch als ausgelassene Lustigkeit drapierte, an rechter Freude. Langeweile und Verstimmung waren, wenn sie auch wenig nach außen sichtbar wurden, auf dem Grunde der Seele vorherrschend. In der Verbindung wurde ich zunächst als Schleswig-Holsteiner freundlich aufgenommen, der »verlassene Bruderstamm« spielte in der Gedankenwelt jener Tage gerade in Erlangen eine nicht unwichtige Rolle. Trotzdem wurde ich in ihr nur sehr spät oder eigentlich überhaupt nie ganz heimisch.
Das erste Semester war der Kriegssommer: die Bayern rückten im Bund mit Österreich gegen die Preußen ins Feld. Eines Abends fanden wir die Kneipe von bayrischen Artilleristen ziemlich besetzt; es hieß: sie seien von einer anderen Korporation aufgehetzt worden, Streit zu suchen und die preußisch gesinnte Burschenschaft zu verhauen. Es kam zu keinem Streit und auch nicht zum Verhauen; die große Mehrheit der Verbindung war damals so preußenfeindlich als möglich, und so war man mit den Gästen bald auf bestem Fuß. Da ich aus meiner Gesinnung kein Hehl machte, so stand ich politisch fast isoliert da; nur ein paar Leute kamen meiner Anschauung näher, während andere ihrem Haß gegen Bismarck und Preußen nicht schroff und laut genug Ausdruck geben konnten. Die ersten falschen österreichischen Siegesnachrichten wurden mit Jubel aufgenommen. Freilich, die Freude dauerte nicht lange; die Wirklichkeit brachte bald die Ernüchterung und dann raschen Umschlag. In raschem Siegeslauf wurden, nachdem die österreichische Macht schon am Anfang Juli niedergeworfen war, die Streitkräfte des Bundes aufgerollt; die Bayern, überall geschlagen, gaben Franken preis, und eines Tages, es war gegen Ende Juli, wurde Erlangen durch das Einreiten mecklenburgischer Dragoner überrascht. Daß die wenigen Reiter, die Pistole in der Hand, ohne zu fragen, den direktesten Weg durch die ganze Stadt zum Bahnhof einschlugen und diesen[142] sogleich besetzten, erregte noch besonderes Staunen. Bald kam auch Infanterie; und am nächsten Sonntag nachmittag hatten wir zu unserer Überraschung einen »Feind« auf der Kneipe in Bubenreuth: es war ein Jenenser Armine, der als Einjähriger bei einem rheinischen Regiment diente. In der Verbindung und ebenso in der Bevölkerung erfolgte nun ein sehr rascher Umschwung in der Gesinnung: die Bewunderung der Kraft und Tüchtigkeit der bisher verachteten Preußen, die Erinnerung an alte geschichtliche Verbindungen mit der Dynastie, die Gemeinsamkeit der protestantischen Religion, für die Burschenschaft auch die jetzt am Horizont auftauchende Verwirklichung des Einheitstraumes und der Kaiseridee. Alles das wirkte zusammen, um die politischen Gesinnungen der Mehrzahl völlig umzuwandeln.
Dennoch blieb auch nach der Beseitigung dieser Spannung eine gewisse Fremdheit des Süddeutschen gegen den Norddeutschen, wie sie denn auch heute noch besteht und in derselben Verbindung immer aufs neue gefühlt wird. Die Verschiedenheit der Sprache ist schon ein Hemmnis, anfangs wurde es mir wirklich schwer, den Schwaben oder Pfälzer zu verstehen und umgekehrt. Aber auch nachdem diese Schwierigkeit gehoben war, blieb eine gewisse Abneigung gegen die Sprechweise des Norddeutschen, sie klang, weil undialektisch und buchmäßig, geziert und absichtlich, als ob man seine Vornehmheit und Bildung gegenüber der volkstümlicheren Art des Süddeutschen hervorkehren wolle. Es kam keine volle Behaglichkeit des Tons dabei heraus. Dazu kam, daß der Norddeutsche die Heimat- und Schulerinnerungen, wodurch die meisten verbunden waren, und die vielfach den Gegenstand der harmlosen Plauderei oder auch Vexationen auf der Kneipe bildeten, nicht teilte. An den Einzeltischen setzten sich gerne Gruppen alter Schulfreunde zusammen, die einen Kreis engeren Verständnisses bildeten, der Fremdling fühlte sich hier überflüssig; und versuchte er seinerseits am Gespräch sich zu beteiligen, naturgemäß es auf allgemeinere Gegenstände hinlenkend, so gab er wieder dem Gefühl Nahrung, daß er höher hinaus und den Vornehmen spielen wolle. Endlich ein letztes: die bayrischen Gymnasien hatten nur Herbstentlassungen, die Zugänge zur Verbindung, die sogenannten Konfuchsien, bildeten ziemlich geschlossene Gruppen; der zu Ostern Eintretende stand zwischen zwei Jahrgängen und gehörte weder recht zu dem älteren noch zu dem jüngeren. Eine Rolle in der Verbindung zu spielen, war ihm schon dadurch so gut wie unmöglich gemacht.[143]
Alles dies bewirkte, daß ich ein gewisses Gefühl der Fremdheit niemals ganz überwunden habe. Durch gelegentlichen Ausbruch feindlicher Stimmung gegen die Norddeutschen, wie er namentlich aus Anlaß der Lösung des Kartells mit den Bonner Alemannen in meinem zweiten Semester stattfand, wurde dies Gefühl zu bitterem Unmut gesteigert, und ich bin ernstlich mit dem Gedanken des Austritts umgegangen. Doch kam es nicht dazu. Ich blieb dabei, hab aber manchen Verdruß vertrunken und manche Stunde innerer Leerheit mit Spiel ausgefüllt. Die Kegelbahn sah mich als regelmäßigsten und ausdauerndsten ihrer Gäste; und viele lange Stunden der Langeweile habe ich in Ermangelung anderer Unterhaltung mit Kartenspiel zugebracht; Tarock war das beliebteste Spiel. Es waren so viele Versuche, mich selbst los zu werden, sie gelangen doch nur sehr unvollkommen; das peinvolle Gefühl der Nichtigkeit dieses Daseins hat mich im Grunde keinen Augenblick verlassen. Ich hatte keinen Inhalt für mein geistiges Leben.
Denn das war nun der eigentliche Schaden. Zu der Wissenschaft, die ich vergeblich studierte, gewann ich gar kein inneres Verhältnis. Die Dogmatik, die uns der alte Thomasius in die Feder diktierte, durch Scharren eines weniger Behenden jeden Augenblick unterbrochen und aufgehalten, bot im Grunde nichts, als was uns auch schon in der Schule oder im Konfirmationsunterricht in Langenhorn dargereicht war; meine Mutter, der ich die Hefte mitbrachte, fand sie ebenso verständlich als mit ihrem Glauben stimmend. So konnte auch Delitzsch, bei dem ich Genesis hörte, mein Vertrauen nicht gewinnen, wenn er z.B. aus naturhistorischen Werken den Nachweis führte, daß die Schlangen unsichtbare Rudimente von Beinen unter der Haut hätten: ein offenbarer Hinweis darauf, daß sie erst durch den Fluch um diese ihre Fortbewegungsorgane gekommen und zum Kriechen auf dem Bauch gebracht worden seien; oder wenn er die Maße der Arche Noä ausrechnete und die Länge gerade der Länge des Berliner Schlosses entsprechend fand, was dann die Aufnahme so vieler Tiere und des zugehörigen Futters möglich erscheinen lassen sollte. Plitts Apostelgeschichte bot ebensowenig etwas, was mich hätte anziehen können. Wäre ich zu Strauß oder zu Baur gekommen, möglicherweise hätte ich dann ein Interesse für diese Wissenschaft gewonnen: so blieb sie mir völlig fremd.
Ein kleiner Versuch mit der Philosophie schlug nicht besser aus: ich[144] hatte Fischers Geschichte der Philosophie von Thales bis Schopenhauer (sic!) belegt, hab sie aber wohl nur zwei- oder dreimal besucht, und ich glaube nicht, daß ich dabei viel für mich Genießbares eingebüßt habe. In welcher Richtung meine Gedanken sich damals bewegten, zeigt die Äußerung eines Theologen, mit dem ich über solche Dinge einmal sprach: »Das ist ja der reine Feuerbach.« Ich wußte von L. Feuerbach, der damals bei Nürnberg auf dem Bruckberg lebte, schwerlich mehr als den Namen, ließ es mir aber ohne viel Umstände gefallen, mit ihm zusammengestellt zu werden, und auch die Vorhaltung, daß ich Materialist sei, hat mich nicht weiter erschreckt: ich war es, soweit denn von einer Einheit des Denkens bei mir damals überhaupt die Rede sein konnte.
Gearbeitet habe ich in diesen Semestern eigentlich gar nichts. Ich besuchte meine theologischen Vorlesungen im ganzen ziemlich regelmäßig, aus Gewohnheit, aus Langeweile, weil ich die andern es tun sah, schrieb aus denselben Ursachen auch nach; aber gezündet hat kein Wort. Gelesen habe ich dies und das, Literarisches, Historisches, auch Medizinisches, mein Hausgenosse, ein Pfälzer, war Mediziner: ich hab lange seinen Schädel und seine Anatomie von Hyrtl bei mir gehabt und wohl auch dies und das daraus gelernt. Aber alles war zusammenhang- und ziellos und vermochte mir keine Befriedigung zu geben.
In meinem dritten Semester traten die beiden Erlanger Burschenschaften, des Haders und des Holzkomments müde geworden, in ein Paukverhältnis. Die nun regelmäßig alle Woche stattfindenden Mensuren brachten ein neues Element in das Leben, freilich auch nicht eben erhebender Natur, es war aber doch eine erregende Abwechslung. Ich hab dreimal gefochten, nicht ohne einiges Glück und nicht ohne einige Empfänglichkeit für den Reiz des blutigen Spiels. Doch brachte ich es nicht zu hervorragenden Leistungen.
Als ich im August des Jahres 1867 von Erlangen Abschied nahm und durch das Werratal in langsamer Eisenbahnfahrt der Heimat zustrebte, konnte ich nicht umhin, mir einzugestehen, daß diese ersten drei Studiensemester für mich verloren seien. Bittere Erinnerungen und die sorgenvolle Frage: Was nun? beschäftigten mich. Hätte ich noch Freude gehabt, auch ohne sonstigen Gewinn, ich hätte es mir gefallen lassen. Aber so? Es war doch gar zu wenig gewesen. Wie hatte das Land der Freiheit lachend und lockend vor mir gelegen, als ich Ostern 66 über die schiefe Ebene ins Frankenland hinunterfuhr und bald darauf[145] an einem ersten sonnigen Frühlingstag von der Höhe des Ratsberges in das Regnitztal hinunterschaute: und nun, alles zu Asche geworden! Ich war sehr mißgestimmt.
Im Oktober fuhr ich zur Fortsetzung des Studiums nach Berlin. Was mich zu dieser Wahl bestimmte, war wohl die große Universität und das große Leben, das dort in Aussicht stand. Was ich dort studieren wollte, wußte ich nicht, nur das stand mir fest: nicht Theologie. Ich ließ mich bei der philosophischen Fakultät inskribieren, in der unbestimmten Hoffnung, daß sich dort etwas mir Gemäßes bieten werde. Die Eltern gaben zum Wechsel ihre Zustimmung, sie hatten wohl eingesehen, daß es mit der Theologie nichts werde.
Es folgen jetzt zwei Semester unruhigen Suchens, voll peinvoller Enttäuschungen und bitterer Gefühle der Ungewißheit und Ziellosigkeit. Ich hatte den Sinn auf das Studium der Philosophie gerichtet; Weltweisheit war es eigentlich gewesen, die zu suchen ich einst ausgezogen war. Aber wie an die Sache herankommen? Ich hörte Logik bei Harms, der eben damals nach Berlin gekommen war, mit wenig Erleuchtung und geringer Regelmäßigkeit. Ein Kolleg über vergleichende Sprachwissenschaft bei Steinthal ließ ich auch bald fallen, es war mir zu schwer. Ich las einiges aus Überwegs Geschichte, sie wollte mir keineswegs zusagen, und nicht besser ging es mit H. Ritters Enzyklopädie. Ich versuchte, die Wolken des Aristophanes bei Haupt zu hören, ich konnte dem lateinischen Vortrag nicht folgen. So überall Zurückweisung erfahrend, fiel ich, da sich auch Genossen aus Erlangen und Jena fanden, bald wieder in das alte Kneipleben zurück, ohne allen Genuß, es war, ganz wie es Tolstoi einmal ausführt, lediglich das Mittel der Selbstbetäubung. Die Ferien brachten wohltätige Unterbrechung, aber keine Ruhe. Ich las einiges aus meinen alten Klassikern, die ich zu Hause fand, besonders den Horaz, schrieb wohl einmal etwas Latein, was mir früher Freude gemacht hatte; die Stimmung blieb trübe.
So auch, als ich nach Berlin zurückkehrte. Ich hörte ein paar Vorlesungen, bei Harms und Droysen, aber ohne viel Förderung. Ich versuchte Plato zu lesen, das Griechische wurde mir nach langer Pause schwer, ich sah die acht Bände der Teubnerschen Ausgabe verzweifelt an: die kann man doch nicht ganz durchlesen. Ein heißer Sommer, in einem heißen und eingeschlossenen Zimmer auf dem Hof, machte mir[146] auch äußerlich das Leben höchst unerfreulich; die alten Kameraden hatten Berlin meist verlassen: ich fühlte mich sehr einsam.
Da führte mir ein glücklicher Zufall die nicht lange vorher erschienene Geschichte des Materialismus von F.A. Lange in die Hände. Es ist das erste Buch, das ich mit lebhaftem, ja leidenschaftlichem Interesse gelesen habe. Es kam mir wie gerufen in meiner Not: es half mir einerseits die Gedankenreihen, die ich spontan zu bilden begonnen hatte, zu Ende denken, indem es mit den großen Systematikern der materialistischen Weltanschauung von den ältesten bis zu den damals jüngsten mich bekannt machte; es wies andererseits darüber hinaus: das relative Recht einer naturalistischen Weltansicht, ihr Recht gegenüber dem wissenschaftsfeindlichen Dogmatismus der damaligen Theologie wurde überall rücksichtslos anerkannt, das gewann mein Vertrauen; auf der anderen Seite wurde einleuchtend gezeigt, daß es unmöglich sei, auf diesem Standpunkt als dem letzten stehenzubleiben: der Kantische Idealismus trat als der siegreiche Überwinder dem dogmatischen Materialismus gegenüber: kein Objekt ohne Subjekt, die Welt, wie sie dem Physiker sich darstellt, gesetzt in der Sinnlichkeit und dem Verstande eines denkenden Wesens. Der lebhafte, faßliche, auch an Gefühl und Imagination sich wendende Vortrag, der auch einmal eine derb-kräftige Wendung nicht verschmähte, nahm mich ganz für das Buch und seinen Verfasser ein.
Die Folge war, daß ich seinen Spuren nun auch weiter nachging. Unter den lebenden Schriftstellern, die er erwähnte, wurde Ueberweg mit besonderer Hochachtung genannt. Das war für mich die Veranlassung, dessen vor kurzem veröffentlichtes System der Logik anzuschaffen. Ich benutzte, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, die Sommerferien 68, die ich wie gewöhnlich zu Hause zubrachte, zu einem gründlichen Durcharbeiten dieses Werkes; es hat mir durch seine faßliche Darstellung der Logik, durch die historische Entwicklung der Terminologie, endlich auch durch die erkenntnistheoretischen Ausführungen reiche Förderung und Anregung gebracht. Ich fing an, wieder Mut zu schöpfen, daß ich doch noch zurechtkommen und etwas Rechtschaffenes lernen und leisten werde. Daneben las ich Humboldts Kosmos, den ich in einer wohlfeilen Ausgabe gekauft hatte, nicht ohne mannigfaltige Belehrung daraus zu schöpfen: vor allem gewann neben dem Historischen das Geologische und Entwicklungsgeschichtliche darin mein Interesse. Freilich hätte ich das auf leichterem und kürzerem Wege haben können,[147] wenn ich ein kleines Lehrbuch angeschafft hätte; aber daß ich hier die Dinge selbst suchen und zusammentragen mußte, hatte auch seinen Wert. So kehrte ich in hoffnungsvollerer Stimmung im Herbst 68 nach Berlin zurück, entschlossen, mit aller Kraft an die Arbeit mich zu machen. Vor allem trat ich nun in Trendelenburgs philosophische Übungen ein. Ich hörte daneben seine Psychologie, eine Vorlesung bei Harms über Enzyklopädie, dann zum zweitenmal Steinthals Vorlesung über vergleichende Sprachwissenschaft und zugleich seine Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft, endlich Bonitz über Platos Leben und Schriften. Daneben wurde abends manches an öffentlichen Vorlesungen gehört: Dubois über physische Anthropologie, Dühring über politische Parteien usw.
Es ist dies mein erstes eigentlich fruchtbares Studiensemester gewesen; ich fühlte mein Wachstum nach allen Seiten, und es begann jene peinvolle Unruhe der letzten Jahre von mir zu weichen. Die Anregungen, die von Universitätsvorlesungen ausgingen, und ein energisches Bücherstudium wirkten sehr glücklich zusammen, um mich innerlich weiterzubringen.
Von großer Bedeutung war der Eintritt in Trendelenburgs aristotelische Übungen. Ich hatte mit einigem Zagen mich zur Meldung entschlossen, fürchtend, daß die gestellten Aufgaben für mich als Anfänger zu schwer seien. Ich sah mich bald angenehm enttäuscht: was meine Nachbarn leisteten, die zum Teil schon länger teilnahmen, das vermochte ich auch zu leisten, und bald meinte ich zu beobachten, noch ein wenig mehr. Ich zog die Aufmerksamkeit Trendelenburgs bald durch die schriftliche Lösung einer kleinen Aufgabe auf mich, die er gelegentlich bei einer Textschwierigkeit gestellt hatte. Zwar fand die Lösung, ich wollte eine Stelle des zweiten Buches der Physik durch Ausschaltung von einigen Wörtern, die auch an anderer Stelle wiederkehren, heilen, indem ich sie von dort erst an den Rand, dann in den Text unserer Stelle einwandern ließ, also die Lösung fand als zu gewalttätig nicht den Beifall Trendelenburgs, der mit einer Interpretation auskommen zu können meinte; aber sie hatte ihm doch meinen Namen vor Augen gebracht und gezeigt, daß ich ernstlich mitzuarbeiten entschlossen sei. Auch meine mächtige Ausgabe, ich hatte mir gleich die 4 Bände der großen Bekkerschen Ausgabe angeschafft und trug zweimal die Woche den Wälzer nach der Universität, mochte seine Aufmerksamkeit auf mich lenken. Kurz, nach Weihnachten erhielt ich zu meiner[148] größten Überraschung eine Einladung von ihm zu einer Abendgesellschaft, der ersten Gesellschaft außer meinen Langenhorner Gesellschaften, zu der ich geladen worden bin. Sie setzte mich in nicht geringe Verlegenheit, aber ich nahm an, weil ich nicht abzulehnen wußte und wagte; und damit begann für mich ein Verkehr in dem liebenswürdigen Hause, an den sich vielverzweigte Beziehungen für mich angeknüpft haben.
Die Übungen, die Trendelenburg lange Jahre hindurch abhielt, bezogen sich regelmäßig auf den Aristoteles, dessen Philosophie zu erneuern und zeitgemäß auszubauen Trendelenburg von Anfang an sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte. Die idealistisch-te leologische Weltanschauung war ihm ebenso sympathisch wie seine Hinneigung zur Breite empirischer Forschung und im besonderen auch seine Freude an geschichtlicher Anknüpfung seiner Gedanken an frühere und an die Sprache. Er fühlte sich eigentlich ganz eins mit dem Denker seiner Wahl, wie er ihn denn im Vortrag der Geschichte der Philosophie als den philosophus perennis trotz einem Neoscholastiker pries: durch zwei Jahrtausende habe er geherrscht »bis herab zu uns«, höre ich ihn noch mit Betonung sagen.
Dies Verhältnis gab auch seinen Übungen, die ich durch drei Semester mitgemacht habe, den Charakter: die Schriften des Aristoteles, Physik, Metaphysik und Ethik wurden als Textbücher behandelt; es wurde der Text in ganz kleinen Abschnitten gelesen, übersetzt, kommentiert, aus dem Zusammenhang und aus anderen Stellen, nicht eben viel anders als ein Autor in der Schule. Auf den Wert der Gedanken kritisch einzugehen liebte er nicht, auch gegen derartige Versuche der Teilnehmer verhielt er sich ablehnend, nicht so, daß er sie überhaupt zurückgewiesen hätte, wohl aber in der Form, daß er nach kurzer Verteidigung des Philosophen alsbald zum Text zurückrief. Ich bin damals nicht immer mit dieser Behandlung zufrieden gewesen, ich hätte oft gern über die Sache selbst etwas gehört und auch gesagt. Und ohne Zweifel können auch solche mehr »philosophischen« Übungen sehr fruchtbar sein, ja sie werden, wenn es sich um einen modernen Philosophen handelt, sich als ganz unvermeidlich von selber einstellen. Indessen, Trendelenburg hatte doch wohl recht, wenn er sich im wesentlichen auf die »philologische« Auslegung und Behandlung des Textes beschränkte. Die Aristotelischen Begriffe sind dem Studierenden zunächst so fremd und schwierig, daß es eine ganze Zeit dauert, ehe er damit umgehen und[149] denken lernt; die hierfür notwendige Einübung nicht durch materiale Kritik gleichsam stören und durchqueren zu lassen, ist ein gefunder pädagogischer Grundsatz: erst lernen, dann kritisieren. Da die Neigung des jungen Mannes mehr auf Kritik zu gehen pflegt, so wird es die Aufgabe des Lehrers sein, das Lernen in den Vordergrund zu stellen.
In der Form des Verkehrs mit den Teilnehmern der Übungen war Trendelenburg von vollendeter Urbanität; er behandelte sie durchaus nicht als Schüler von oben herab, sondern nahm sie als Mitforscher und Mitdenker, vielleicht auch einmal mit zu großer Geduld Trägheit und Unfähigkeit schonend. Übrigens war die Zahl meist klein, es stellte sich bald ein persönliches Verhältnis zwischen den Teilnehmern untereinander und mit dem Lehrer her. Ich verdanke diesen Übungen vor allem die Bekanntschaft mit meinem nachmaligen langjährigen Freunde Christian Belger. Wir haben uns auch im Hause bei Trendelenburg gesehen, es freute diesen offenbar, junge Leute zusammenzuführen, von denen er glaubte, daß sie sich etwas sein könnten.
Ich gestehe gern, daß ich diesen Übungen viel verdanke, mehr als ich oft im Augenblick empfinden mochte, wenn ich gern eine mehr in die Sache selbst eingehende Behandlung philosophischer Materien gesehen hätte. Sie haben mir vor allem wieder Sicherheit und Ausdauer des Arbeitens gegeben, ich hatte ein Ziel und eine kleine äußere Nötigung, es zu erreichen: Aristoteles mit seiner eigentümlichen Begriffswelt und Terminologie kennen zu lernen. So seltsam und wenig genießbar mir zunächst seine Physik, die Lehre von den vier Ursachen (wir lasen das zweite Buch), erschien, so drang ich doch allmählich so weit ein, daß ich die Vernunft auch in diesen dem modernen Denken so befremdlichen Formeln sehen lernte. Ich schätze es jetzt doch für einen großen Gewinn, daß ich durch Trendelenburg zu einem so eingehenden Studium des Aristoteles geführt worden bin: wäre ich erst zu der modernen Philosophie gekommen, dann hätte ich vielleicht den Weg rückwärts zu dieser Urform des philosophischen Denkens in der abendländischen Welt überhaupt nicht gefunden.
Unter den Vorlesungen, die ich in diesem Winter hörte, war mir Bonitz' vierstündige Platovorlesung von besonderem Wert. Er las als Mitglied der Akademie der Wissenschaften, in übrigen war er Direktor des Grauen Klosters; ich glaube, es war seine erste Universitätsvorlesung in Berlin. Sie war in gewisser Weise das Vollendetste, was ich gehört habe: nur mit ein paar Notizen auf einzelnen Blättchen ausgerüstet,[150] so schien es uns wenigstens, stellte sich Bonitz auf das Katheder, meist auf der Treppenstufe stehenbleibend und sich an das Katheder bloß anlehnend, und entwickelte nun in dem leichtesten, fließendsten Vortrag ohne Unterbrechung zwei Stunden hindurch (er las Mittwochs und Sonnabends von 11 bis 1 Uhr) den Inhalt eines Platonischen Dialogs, so sicher, als ob er ihn leibhaftig vor sich sähe: die Gliederung, die einzelnen Teile, der Zusammenhang des Ganzen trat greifbar dem Hörer vor Augen.
Ganz anders war die Art Steinthals. Er war damals in den Jahren seiner Vollkraft, eine kleine, schmächtige Gestalt, das blasse, schmale Gesicht von einem dunklen Vollbart umrahmt. Er saß auf dem Katheder, eine Fülle von Papieren vor sich, unter denen er sich zuweilen zu verwirren und zu verlieren schien. Der Vortrag war langsam, oft durch längere Pausen unterbrochen, in denen er den Faden zu suchen schien. Auch wenn er zusammenhängend sprach, lösten die Worte sich langsam von der Lippe. Dennoch bin ich seinen Vorlesungen mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt. Die Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft eröffnete nach allen Seiten weite Blicke: Physiologisches wurde vorausgeschickt, Psychologisches folgte, die Sprachtheorie machte den Beschluß. Vor allem die Psychologie war mir lehrreich, der Begriff der Apperzeption stand im Mittelpunkt seiner Auffassung des Seelischen: er diente vor allem zur Darstellung der Bildung der Begriffs- und Sprachwelt im Kinde. Auch die Elemente der Sprachvergleichung in der andern Vorlesung, die Entwicklung der Formen der indogermanischen Sprachen, die Übersicht über die Kulturwelt des gemeinsamen Ur- und Stammvolkes, wie sie sich aus dem Gemeinbesitz an Namen zu ergeben scheint, fesselte jetzt mein Interesse in hohem Grade: ein ahnungsvoller, dämmernder Hintergrund des geschichtlichen Lebens dieser Völker- und Sprachengruppe schien sich aufzutun, der in unermeßliche Fernen den Blick schweifen ließ.
Die Vorlesungen gaben Anregung zu weiteren Studien. Sowohl bei Trendelenburg als vor allem bei Steinthal sah ich mich auf eingehenderes Studium der Physiologie hingewiesen. Ich verschaffte mir Joh. Müllers Handbuch und habe mit heißem Bemühen die fünf Bände durchgearbeitet und manche Frucht daraus gezogen; so daß ich nicht bedaure, nicht den bequemeren Weg des Kompendiums gewählt zu haben. Ferner studierte ich in diesem Winter Benekes Philosophie. Durch Überwegs hohe Schätzung dieses Mannes auf ihn geführt, habe[151] ich zuerst die neue Psychologie, dann auch die Metaphysik und andere Werke Benekes gelesen. Und auch das bedaure ich nicht; seine zugängliche Behandlung der erkenntnistheoretischen und metaphysischen Probleme hat mir in diesen Dingen zuerst auf den Weg geholfen; und bis zu einem gewissen Grade hat seine Denkweise auch dauernd auf mich abgefärbt, so vor allem an einem Punkt, dem Punkt, wo er, über Kant hinausgehend, die Phänomenalität der Erkenntnis für das Seelenleben ablehnt. Es ist der Punkt, an dem er, im Grunde in Übereinstimmung mit der ganzen deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts, in die Spuren des objektiven Idealismus wieder einlenkt. Auch seine Psychologie, ich hatte sie schon vor Beginn der Vorlesungen gelesen, gab mir diesen gegenüber eine gewisse Freiheit: ich brachte Kategorien mit, durch die ich zu dem dort Gebotenen Stellung zu nehmen in den Stand gesetzt war. Und gerade die, ich würde jetzt sagen, falsche Anschaulichkeit der Benekeschen Psychologie, die übrigens in überraschender Weise die falsche Anschaulichkeit der gegenwärtigen physiologischen Konstruktion des Vorstellungslebens aus Besetzung und Nichtbesetzung von Hirnzellen vorausnimmt, war mir damals bequem und hilfreich. Ich habe seitdem oft die damals gemachte Erfahrung wiederholt, daß der Wert eines Buchs für den Leser nicht allein auf seiner objektiven Bedeutung beruht, sondern ebensosehr darauf, daß es im rechten Augenblick ihm in die Hände kommt. Das an sich wertvollste Buch, verfrüht gelesen, kann zum größten Hemmnis werden, zur Sache zu kommen. Ich fürchte, daß die Kantischen Kritiken vielfach diese Wirkung haben; sie stoßen die Anfänger zurück und hinterlassen nichts als die dauernde Empfindung der Unfähigkeit zur Philosophie. Ich darf in dieser Absicht von Glück sagen, daß mir in Langes Geschichte, in Überwegs Logik und in Benekes Werken die rechten Bücher zur rechten Zeit in die Hände gefallen sind.
Mein persönlicher Verkehr war in diesem Winter sehr beschränkt. Von dem Kneipleben hatte ich mich vollständig zurückgezogen. Genossen der philosophischen Studien fand ich nicht, und so war ich im wesentlichen allein mit mir selber, wobei ich mich übrigens durchaus nicht schlecht befand. Doch erinnere ich mich gern eines Erlanger Freundes, eines Juristen, mit dem ich öfter zusammenkam; wir lasen auch etwas Griechisch zusammen, die Wolken, Ritter und Frösche des Aristophanes. Das Sommersemester 1869 verbrachte ich in Bonn. Trendelenburg ließ mich, als ich mich von ihm verabschiedete, ziemlich unverhohlen[152] seine Mißbilligung dieses Entschlusses erkennen: er hatte recht, ich hätte in Berlin meine eben ernstlich begonnenen Studien fortsetzen sollen. Indessen der vorige heiße Sommer in Berlin war mir in allzu übler Erinnerung, und dazu kam eine unbestimmte Sehnsucht, noch etwas von deutschen Landen und Universitäten zu sehen; ich blieb also bei meiner Absicht. Und ich will nicht sagen, daß ich sie bereut habe, wenn auch das Bonner Semester hinter meinen Erwartungen vielfach zurückgeblieben ist.
Vor allem gilt das von den Vorlesungen. Sie haben mir wenig geboten. Ich hörte Jürgen Bona Meyer über den Materialismus; es kam mir vor, daß er weder in der Darstellung noch in der Kritik von ferne F.A. Lange erreiche. Auch Useners Geschichte der griechischen Literatur bot mir wenig; es wurde eine Darstellung ihres »organischen Zusammenhangs« in Aussicht gestellt, aber alsbald wurden wichtige Glieder amputiert, so die philosophisch-wissenschaftliche Entwicklung. Die Aufzählung philologischer Arbeiten, schon gemachter und noch zu machender, war für den Fachphilologen vielleicht wertvoll, ich hätte gern darauf verzichtet. Und die Mühsal des freien, oft sich überhastenden peripatetischen Vortrags wurde auch peinlich. So blieb mir von größeren Vorlesungen, die ich leidlich regelmäßig hörte, nur Bernays über Lukrez, mit einer Einleitung über die Philosophie bei den Römern. Er las nachmittags von 3 bis 4 Uhr, im Sommer und in Bonn nicht eine günstige Stunde; die von Anfang an nicht große Zahl der Hörer sank bald auf 4 oder 5; Lukrez-Bernays vermochte die Konkurrenz mit dem Rhein und dem Siebengebirge nicht auszuhalten. Der Abfall wirkte wieder ungünstig auf den Vortrag; man hatte die Empfindung, daß der berühmte, wohl auch etwas eingebildete Gelehrte es eigentlich unter seiner Würde fand, die Perlen seiner Wissenschaft den wenigen und dazu wechselnden Zuhörern vorzulegen; vor allem machte die Art des Schlusses der Vorlesung den Eindruck: kaum begann die Uhr, die im Auditorium hing, zu schlagen, so hörte er mitten in der Darlegung auf und verließ den Saal, als ob er es bereue, schon so viel Zeit mit uns verloren zu haben.
Viel anziehender war Sybels Vortrag über die Geschichte des 18. Jahrhunderts. Er las vor einem großen Kreise; seine klare Darlegung der jeweiligen politischen Situation war ebenso aufklärend wie seine Charakteristik der handelnden Personen anziehend und eindringlich; ich erinnere mich besonders Friedrich II. und Katharina II. von Rußland.[153] Auch Aegidi hörte ich hier wieder, er las ein Kolleg über den Zollverein, mit lebhaftestem nationalem Pathos, das mir nicht immer im rechten Verhältnis zur Sache zu stehen schien. Eine Karte an ihn habe ich nicht abgegeben: ich konnte eine gewisse Scheu und Unbeholfenheit zu meinem Schaden nicht überwinden. Ein Publikum über Horaz' Satiren bei Heimsoeth entsprach meiner alten Neigung für den Dichter. Clausius Wärmetheorie führte mich in die Betrachtungsweise der modernen mechanistischen Physik ein, wenn ich denn auch an der mathematischen Entwicklung bald scheiterte. Endlich habe ich in diesem Sommer noch einen Anlauf genommen, bei Gildemeister das Sanskrit zu erlernen; mein Interesse für die Sprache des fernen Ostens, zugleich des fernen Altertums, war durch Steinthal erregt worden. Ich habe es bis zum Lesen, d.h. zum Lesen der Wörter gebracht; dann sah ich: ein wirkliches Studium würde mich mehr Zeit und Kraft kosten, als ich für eine Liebhaberei, denn in diesem Licht stellte sich mir die Sache dar, zur Verfügung habe, und ließ die Sache fahren.
Der Schwerpunkt meiner Arbeit lag während des Bonner Semesters in dem Studium Platos. Ich hab dort an der Hand der Nachschrift der Bonitzschen Vorlesung und mit Benutzung von Schleiermacher, Hermann und der Überwegschen Preisschrift über die Echtheit der Platonischen Schriften die lange Reihe der Dialoge sehr aufmerksam mit der Feder in der Hand durchgelesen, mit großem Gewinn für meine Lesefähigkeit: die Nötigung, Inhalt und Gliederung, die bei dieser Darstellungsform nicht wie bei der systematischen dem Leser mühelos dargeboten werden, durch genauestes Achten auf den Fortgang des Gesprächs und die kleinen Winke über Bedeutung und Zusammenhang der Teile, die nicht ganz fehlen, selbsttätig herauszubringen, ist eine unvergleichliche Erziehung zu aufmerksamem Lesen. Die Sprache, die mir vor einem Jahre noch als ein fast unübersteigliches Hindernis erschienen war, machte mir bald keine Mühe mehr, ich las den Text so gut wie ohne Unterstützung durch Lexikon oder andere Hilfe zu großer Genugtuung für mein philologisches Selbstbewußtsein.
Mein Umgang in Bonn wurde wesentlich durch die alten burschenschaftlichen Beziehungen bestimmt. Ich besuchte öfters das »Schänzchen«, die herrlich am Rhein gelegene Kneipe der Alemannen. Ein kleiner Kreis von Auswärtigen, die hier verkehrten, darunter meine beiden Rheinländer aus Erlangen, schloß sich enger aneinander und bildete eine besonders lebhafte Ecke. In diesem Kreis fand sich auch[154] öfter ein etwas älterer Mann ein, Dr. Carl Göring, er hat sich später in Leipzig habilitiert und als Verfasser eines Systems der kritischen Philosophie bekannt gemacht. Wir haben manchen Abend über philosophische Probleme tiefsinnig disputiert, als dritter gesellte sich meist der Westfale, Osthoff, jetzt Professor der vergleichenden Sprachwissenschaft in Heidelberg, dazu. Göring hatte eine eigentümlich trockene, etwas sarkastische Art, die sich dem Jüngeren wohl auch als Überlegenheit fühlbar machte. Daß er im Grunde eine melancholisch angelegte Natur war, fühlten wir wohl auch damals schon; für harmlose Fröhlichkeit hatte er wenig Sinn, eher einmal für einen starken Trunk. Ich hab ihn zum letztenmal gesehen, als er mich als Kollegen d.h. als jungen Privatdozenten in Berlin wieder aufsuchte. Bald darauf hat er seinem Leben durch eigene Hand ein Ziel gesetzt.
Daß es an Ausflügen in die schöne Umgebung nicht fehlte, ist selbstverständlich. Der Kreuzberg, Endenich, Kessenich, Godesberg waren die gewöhnlichen Tagesspaziergänge, das Siebengebirge der übliche Sonntagsausflug. Öfters habe ich auch einsam am frühen Sonntagmorgen die Wanderung zur Löwenburg angetreten, wo beim Förster Mittagsstation gemacht wurde. Über die Wolkenburg oder den Ölberg ging der Weg zurück. Nicht selten wurde ein Kahn genommen und von ihm aus im Rhein gebadet; ich bin wiederholt, halb dem Strome folgend, von einem Ufer zum andern geschwommen; es kam mir jetzt zugute, daß ich in Erlangen in der seichten Regnitz allein durch an haltende Versuche das Schwimmen gelernt hatte.
In Bonn ist mir auch erst der Blick für das katholische Wesen aufgegangen. Auch von Erlangen aus wäre Gelegenheit gewesen, es zu sehen, in Bamberg und noch näher in den nördlich angrenzenden Dörfern; ich hab aber kaum etwas davon gemerkt. Am Rhein dagegen gewann ich den Blick dafür. Auf dem Kreuzberg hatten die Jesuiten damals eine Niederlassung; mit einem eigentümlichen, mit Abneigung und Scheu gemischten Interesse wurden die fremdartigen Gestalten betrachtet. Ich hab auch einmal einen der Väter predigen hören; seine klare, sachliche und eindringliche Darlegung rein praktischen Charakters war nicht übel, die Abwesenheit der abgestandenen Dogmatik und des gewohnten Kanzeltons war mir besonders überraschend; ich hatte eher erwartet, diese Dinge gesteigert hier anzutreffen. Natürlich wurde auch die Messe im Dom gelegentlich besucht. Die katholische Umgebung machte sich übrigens auf Schritt und Tritt bemerklich. Meiner[155] Wohnung, die nach dem Garten ging, gegenüber lag das Franziskanerkloster, das durch häufiges und frühes Läuten zuweilen beschwerlich wurde. Auf den Landstraßen sah ich mit Erstaunen die Weiber ihre Rosenkränze beten; die Öffentlichkeit und Geschäftsmäßigkeit, womit die Sache verrichtet wurde, war dem Protestanten nicht minder überraschend als jener Weltton in der Predigt des Jesuiten. Der Protestantismus ist Religion des einzelnen, der Katholizismus Volksreligion; jene sucht die Verborgenheit, diese die Öffentlichkeit. Dort hat auch der öffentliche Gottesdienst einen privaten, weltfremden Charakter, ganz wie der Kanzelton des lutherischen Predigers alten Schlages, die Kirche steht völlig außerhalb des alltäglichen Weltgetriebes, eine Welt für sich. Der katholische Gottesdienst hat viel von dem Charakter eines Volksfestes; er stellt sich als ein durchaus Zugehöriges mitten in die Welt hinein, selbst die Straße nicht scheuend: mit Erstaunen sah ich am Fronleichnamstag hier zum erstenmal die Ausschmückung der Straßen mit improvisierten, blumenbekränzten Altären, die Umzüge mit Gesang und Prunk jeder Art. In meiner Heimat wäre das alles als Profanierung empfunden worden, schon ein Blumenschmuck des Altars undenkbar; eingesperrte Luft und ein gewisser muffiger Geruch schien zur Feierlichkeit der Kirche wesentlich zu gehören. So seltsam paradox ist die Wirklichkeit: das Luthertum, das nach der üblichen Rede die Religion in die Welt geführt und den Gottesdienst mit dem Leben und den Berufsaufgaben versöhnt haben soll, hat tatsächlich zur völligen Entfremdung und Isolierung der Kirche gegen das wirkliche Leben geführt; wogegen die alte Kirche, trotz aller Überweltlichkeit, in Wahrheit sich in der Welt auf das vollkommenste heimisch gemacht hat, mit tausend Fäden das Gewebe ihres Lebens durchdringend und umspinnend.
Zwei etwas größere Ausflüge haben mich, der eine zu Pfingsten in die Eifel, der andere am Schluß des Semesters bis Heidelberg geführt. Auf dem ersten hatte ich Freund Bungeroth zum Begleiter; wir sind das Ahrtal hinaufgewandert, über Höhen und Täler bis Adenau hinauf, unter mannigfachsten krausen Disputen: er war im Begriff, zum orthodoxen Theologen sich zu entwickeln, ich stellte meine Philosophie dagegen, die eben erste Umrisse zu gewinnen begann. Durch das Brohltal und über den Laacher See ging's wieder abwärts zum Rhein, von wo aus er seinen Weg zu Fuß nach Altenkirchen zu den Eltern einschlug; ich kehrte zu meinem Plato nach Bonn zurück. Die zweite Tour[156] hab ich einsam machen müssen, es fand sich kein Begleiter, auch wegen des Stiftungsfestes der Alemannen, das in diesen Tagen gefeiert wurde. Ich fuhr mit dem Dampfschiff an Oberwesel vorüber, wo eben die Genossen das Fest begingen, dem ich auswich; in Bingen stieg ich aus und ging über Rüdesheim durch den Rheingau nach Mainz. Die Römererinnerungen wurden hier aufgesucht; dann ging's nach Frankfurt, wo mich die Paulskirche besonders anzog: die Erinnerung an sie war in der Burschenschaft noch recht lebendig. Hans v. Raumer hatte der Bubenruthia angehört. An der Bergstraße hingehend, blieb ich in Auerbach die Nacht: mir ist in lebhafter Erinnerung, wie mir beim Auerbacher Rotwein sentimental zumute wurde: ich dachte an meine Einsamkeit und träumte von einem Gefährten oder einer Gefährtin, mit der ich platonische Gespräche führen könne. In Worms sah ich im Vorübergehen den Dom und den Luther mit seiner Umzäunung; dann fuhr ich nach Mannheim, von wo mir außer der Selbstgerechtigkeit der gleichgewachsenen Häuser und Straßen nur die Stimme eines badischen Majors im Gedächtnis geblieben ist, der in breitestem Dialekt an der Wirtstafel seine Weisheit zum besten gab.
In Heidelberg sah und hörte ich Zeller und Treitschke zum erstenmal, mit denen mich später in Berlin der Beruf täglich zusammenführen sollte. Zeller diktierte seine Psychologie einer kleinen schläfrigen Schar in die Feder, es war freilich bei ausgehendem Semester; Treitschke riß seine Zuhörer durch das wuchtige Pathos seines Vortrags zu leidenschaftlicher Teilnahme hin, dem, der zum erstenmal seine monoton-hohle Stimme hörte, fast zum Erstaunen. Ich hab ihn nur noch einmal eine Reihe von Jahren später in Berlin gehört: unglücklicherweise behandelte die Vorlesung gerade englische Verhältnisse; mir wurden die Invektiven, mit denen er in blindem Haß englische Philosophie und Denkweise überschüttete, so unerträglich, daß ich den Hörsaal verließ. Sein unbändiges Temperament machte ihn für historische Gerechtigkeit in einem ganz ungewöhnlichen Maße unfähig; es gab für ihn nur zwei Kategorien: für und gegen die gute Sache; und gegen das, was gegen die gute Sache d.h. nur die preußische Sache war, war alles erlaubt. Womit eigentlich England seinen inbrünstigen Haß sich zugezogen hatte, ich weiß es nicht: er kannte keine Grenzen. Ich höre noch, wie er bei der Kunde von dem Fall Chartums und dem Tode Gordons im Sprechzimmer der Berliner Universität in laute Jubeltöne ausbrach: so sei es recht und so müsse es jedem ergehen! Da er taub war, war es unmöglich,[157] ihm zu erwidern: er hörte immer nur sich selbst, und das steigerte die Maßlosigkeit seiner Affekte.
Auf der Rückreise nach Hause besuchte ich noch Düsseldorf, wo ich in einer bescheidensten Herberge, das Geld ging zur Neige, mit einem Handwerksgesellen das Zimmer teilte, und Elberfel-Barmen, wo eben die Wuppertalfestversammlung stattfand, von der ich freilich keine Erinnerung mitgebracht habe als die, daß mir die dortige Beredsamkeit einen recht fatalen Eindruck machte. Durch die Nacht zwischen feurig rauchenden Schornsteinen im Land der deutschen Großindustrie hinfahrend, kam ich endlich erschöpft in Altona an, von wo ich am folgenden Tage nach langweiliger Eisenbahn- und Postfahrt die Heimat erreichte. So endigte mein Bonner Semester.
An die Ferien hab ich keine deutliche Erinnerung; doch weiß ich, daß ich darin die Platonische Republik, die ich im Sommer nicht mehr bewältigt hatte, mit großem Interesse las, ich habe die Exzerpte noch, in denen ich mir den Inhalt befestigte, und des Lucretius 6 Bücher De rerum natura: ich war in Bonn nicht dazu gekommen. Ferner die Ethik des Aristoteles, die für Trendelenburgs Übungen auf dem Programm stand. Auch Bernhardys Literaturgeschichte, die ich mir mit zahlreichen andern Büchern auf der Welckerschen Auktion gekauft hatte, war in meinen Händen.
Im Wintersemester 69/70 war ich wieder in Berlin. Unter den Vorlesungen, die ich hörte, ist mir am meisten die von Bonitz über Aristoteles von Wert gewesen: sie war mir wegweisend für ein ausgedehntes Studium von dessen Schriften wie früher die Vorlesung über Plato. Seine Darstellung des Lebens und der Schriften des Philosophen war ebenso orientierend wie seine gelegentliche Kritik scharf und anregend; Bonitz war keineswegs wie Trendelenburg ein unbedingter Bewunderer des Aristoteles; er hatte zuviel moderne Gedanken, namentlich auch mathematisch-naturwissenschaftliche, in sich aufgenommen, um mit den Begriffen von Wirklichkeit und Möglichkeit alle Dinge konstruieren zu können. Steinthals Vorlesung über Enzyklopädie der Philologie war eine in mancher Hinsicht belehrende, wenn sie auch an anregender, suggestiver Wirkung hinter der Einleitung zurückblieb. Droysens neueste Geschichte erreichte nach meiner Empfindung nicht die letzten bewegenden Triebkräfte; mit viel schauspielerischem Pathos vor getragen, schauspielerisch auch darin, daß er sich den Schein gab, frei zu sprechen, tatsächlich aber von kleinen Blättern ablas, war es in der Hauptsache eine[158] Zusammenstellung der Haupt- und Staatsaktionen aus der trübseligen Zeit der heiligen Alliance. Die jüngste, zukunftsreiche Entwicklung, die mit Cavour-Bismarck eingesetzt hatte, kam überhaupt, soviel ich mich erinnere, nicht mehr zur Darstellung. Mehr befriedigte mich ein Publikum bei Erdmannsdörffer über die französische Revolution durch seinen schlichten Ton und seine sachlich eindringende Analysis. Die Übungen bei Trendelenburg, die Ethik wurde behandelt, wurden wieder aufgenommen, ich fühlte mich jetzt recht sicher darin. Auch an Übungen über Kants Kritik bei Harms habe ich mich beteiligt; sie waren wenig ersprießlich, die Abschnitte wurden verteilt an Referenten, die in der Stunde dann ein schriftliches Referat vom Katheder herab vorlasen; eine Verhandlung darüber war schon wegen der Schwerhörigkeit des Professors so gut wie ausgeschlossen. In diesen Übungen habe ich, wenn ich mich nicht irre, G.E. Müller, jetzt seit langem Professor in Göttingen, zuerst kennen gelernt.
Das Hauptgericht auf der Tafel dieses Semesters war Aristoteles. Ich hab eine beträchtliche Zahl seiner Schriften durchgearbeitet und exzerpiert, sehr genau die Ethik in den drei Überlieferungen, von der ich eine bis ins einzelste gehende Disposition in lateinischer Sprache anfertigte, die ich noch besitze: ich dachte daran, einmal eine kommentierte Ausgabe zu machen, die sich neben Trendelenburgs Psychologie und Bonitz Metaphysik stellen sollte; ich achtete daher auch auf Lesarten, sammelte fremde und eigene Verbesserungen des Textes, machte Observationen über den Sprachgebrauch usw. Ich bin nicht dazu gekommen, die Sachen zu verwerten, aber die intensive Beschäftigung mit der Aristotelischen Ethik ist nicht vergeblich gewesen: sie hat mich eine der großen Grundformen der Konstruktion der sittlichen Welt kennen gelehrt, die Form, die ich schließlich für die einzig wahre halte: die einer teleologischen Lebenslehre. Außer der Ethik hab ich die Politik und die Rhetorik und Poetik genau durchgearbeitet, ich meine auch die Psychologie und die Analytik; die Metaphysik hab ich in den folgenden Osterferien studiert. Während des Semesters hatte ich mir längere Zeit aufgegeben: täglich ein Buch; ich habe öfter bis tief in die Nacht hinein über meinem Pensum gesessen, in erkalteter Stube, mit allen Mitteln der Umhüllung mir die notwendige Wärme erhaltend. Außer dem Aristoteles las ich Kants Kritiken und Schleiermachers Ethik. Auf letztere führte wohl Bonitz, der auf Schleiermachers Kritik der Sittenlehre mit Nachdruck hinwies; an die Ethik schloß sich die Dialektik,[159] die mir von Überweg her empfohlen war. Kants Werke hab ich mit heißem Bemühen durchgearbeitet; aber, ohne rechte Hilfe gelassen, habe ich es über ein nächstes und äußeres Verständnis nicht hinausgebracht; ich erinnere mich noch, wie ich in den Übungen das Kapitel vom Schematismus behandelte, zur Zufriedenheit des Lehrers, aber nicht zu meiner eigenen: ich hatte die sicherste Empfindung, keineswegs einzusehen, worauf denn diese Formeln eigentlich abzielten. Auch mit der Kritik der praktischen Vernunft ging es mir nicht besser; ich verstand wohl die Worte, aber der Sinn in seinem großen Zusammenhang wollte sich mir nicht ergeben.
Als ich im April 70 aus den Ferien, die noch dem Aristoteles wesentlich gehört hatten, nach Berlin zurückkehrte, harrten meiner große Enttäuschungen: Trendelenburg und Steinthal, auf welche beiden ich vorzugsweise gerechnet hatte, waren beide erkrankt und abwesend. Unter diesen Umständen hielt ich den Sommeraufenthalt in Berlin, der mir ohnehin nicht verlockend vor Augen stand, für unmotiviert. Ich packte, auch von meinem Zimmer nicht eben befriedigt, meine Siebensachen zusammen und ging, es wird im Mai gewesen sein, nach Kiel. Was den Ausschlag für Kiel gab, war nicht die Universität, sondern vielmehr ein Freund, der dort am Gymnasium als Lehrer angestellt war, mein Freund Reuter, von dem zu reden schon längst Anlaß gewesen wäre. Es war bei der Rückkehr von meinem ersten Erlanger Semester, im Herbst 66, nachdem eben der Krieg sein Ende gefunden hatte: ich kam von Kassel, wo das verschlossene und leerstehende Wilhelmshöhe von der Umwälzung in Deutschland erzählt hatte. Man hatte mir in Erlangen gesagt: in Altona halte sich ein Philister Reuter vom Jahrgang vor meiner Ankunft auf, den ich unbedingt aufsuchen müsse. Ich hab ihn zum erstenmal im Hause von Reinkes in der Palmaille gesehen, wir sind dann ein paar Abende im Wirtshaus zusammen gewesen, zum Teil mit alten Mitschülern von mir, die noch auf die Schule gingen und die er sehr kurz und schneidig behandelte. Einem, der, etwas angetrunken, wiederholt darauf drang, ihm vorgestellt zu werden, sagte er z.B.: Herr, lassen Sie sich lieber etwas zurückstellen. Mir imponierte seine Art, die den alten, seiner selbst sicheren Studenten überall noch durchblicken ließ, und die doch zugleich den Studenten schon abgestreift und männliches Wesen angenommen hatte. Er war damals als junger Lehrer an einer Privatschule mit Internat, die vor allem auch von Ausländern oder im Ausland geborenen jungen Leuten besucht wurde:[160] die Bändigung der Wildlinge war eine ebenso interessante als übende Aufgabe für einen jungen Lehrer, sie gelang ihm vortrefflich.
Für mich ist diese Begegnung von ungemeiner Bedeutung geworden. In jeder Hinsicht mir überlegen, ist mir Reuter, den, ich weiß nicht, was von Anfang an zu mir hinzog und mich festzuhalten bestimmte, zu einem wahren Mentor geworden, dem ich unschätzbar viel verdanke. Er dämpfte einerseits durch seine sichere Überlegenheit als Charakter und als Gelehrter mein noch von der Schule herstammendes Selbstbewußtsein, indem er mir, ohne es zu wollen, meine Blöße als Student überall zur Empfindung brachte, ich wäre ihm manchmal gern ausgewichen, um des Gefühls der Scham ledig zu sein; andererseits wußte er wieder mein Pflichtgefühl zu wecken und mein Selbstvertrauen zu heben: es hatte zeitweilig einen sehr bedenklichen Tiefstand erreicht; ich hab wohl einmal, ehe ich in Berlin festen Boden gewann, daran gedacht, das Studium, da es doch zu nichts führe, aufzugeben und in das elterliche Haus als Bauer zurückzukehren. Es ist daher auf alle Weise gerechtfertigt, von diesem meinem ersten und nächsten Freunde hier ein wenig eingehender zu handeln.
Friedrich Reuter ist im Jahre 1843 in einem fränkischen Pfarrhaus, zu Martinsheim, nicht weit vom Main, wo dieser auf seiner ersten großen Schleife nach Süden Marktbreit erreicht, geboren. Sein Vater war früh gestorben; die tapfere Mutter hat es doch möglich zu machen gewußt, ihre zwei Söhne studieren zu lassen. Den älteren, meinen Freund, nahm das Alumneum zu Ansbach auf; unter dem Rektor Elsperger, der sich seiner besonders annahm, hatte er eine tüchtige Schulbildung erlangt. Im Jahre 1861 bezog er die Universität Erlangen, wo auch die Mutter ihren Wohnsitz nahm. Er trat in die Burschenschaft ein, wurde nach einem Semester konsiliiert, weil er einem unverschämten Studenten eine nach Aller Ansicht, auch der Richter, wohlverdiente Maulschelle gegeben hatte, ging mit einem Stipendium nach München und setzte hier ein Jahr lang das Studium der Philologie und Geschichte fort. Nach Erlangen zurückgekehrt, gewann er in der Verbindung bald eine bedeutende Stellung neben einem anderen Franken, dem Baireuther Renaud, dem Abkömmling einer Emigrantenfamilie, der später als Schulrat seine beste Kraft an die geistige Wiedereroberung des Elsaß gesetzt hat. Reuter und Renaud, das waren die beiden Namen, die mir, als ich in die Verbindung eintrat, wohl am häufigsten ins Ohr klangen, die beiden letzten »heroischen« Gestalten der Bubenruthia.[161] Zugleich Freunde und Konkurrenten, hatten sie immer um die erste Stelle gerungen, ohne daß je einer den Wert des andern zu verkennen oder herabzusetzen gedacht hätte. Renaud, der Poet, wurde mehr geliebt, Reuter, der Fechter, mehr gefürchtet, auch um der scharfen Zunge willen. Beide waren übrigens arm und verdienten sich den Unterhalt durch eigene Arbeit.
Nach bestandenem Examen entschloß sich Reuter, die Heimat zu verlassen; die bayrischen Verhältnisse waren ihm zu eng geworden; er suchte das größere und freiere Leben des Nordens. Nachdem er in Altona sich die pädagogischen Sporen verdient hatte, wurde er durch L. Wieses Vermittlung in den preußischen Schuldienst übernommen. Er ist allmählich in Holstein völlig heimisch geworden: an drei Gymnasien, in Kiel, Glückstadt und Altona, hat er nacheinander gewirkt und viel Liebe ausgesäet. Als er, fast erblindet, seine letzte Stellung im Jahre 1901 aufgeben mußte, haben dankbare Schüler aus allen Orten des Landes und allen Jahrgängen sich zusammengetan, ihm ein Abschiedsgeschenk zu stiften. Er hat manchem armen Jungen die Vollendung der Schule und des Universitätsstudiums möglich gemacht; er hatte immer den einen und andern, dessen er sich mit besonderer Hilfe und Unterweisung annahm. Und auch sein Einkommen, er blieb unverheiratet, ging zu einem guten Teil denselben Weg. Reichte es nicht, so hielt er es auch nicht unter seiner Würde, bei wohlhabenden Leuten anzuklopfen und ihnen den Weg zu förderlicher Verwendung ihres Überflusses zu weisen. Und auch nach Absolvierung der Schule hörte seine Sorge nicht auf, ja man kann sagen: mit besonderer Freude nahm er sich seiner Studenten an; er beriet sie hinsichtlich der Studien und der Universität, er gab ihnen Briefe an die Professoren mit, jeden dem zuführend, bei dem er für ihn besondere Teilnahme und Förderung erwarten konnte. Seine Fäden waren dabei fast über alle deutschen Universitäten ausgespannt; er ließ nicht leicht eine Gelegenheit vorübergehen, eine Bekanntschaft zu machen, die in dieser Absicht einmal eine Anknüpfung zu verheißen schien. Und noch über die Universität hinaus ging diese hilfreiche Teilnahme: dem jungen Lehrer, der seine ersten Versuche machte, stand er mit Rat und Tat zur Seite; viele wendeten sich persönlich oder brieflich an ihn, um in ihren Nöten seine Stimme zu hören. Und für jede Schwierigkeit, für jede Verlegenheit war er zu haben: ich glaube, es hat wenig Menschen gegeben, denen es ein so intimstes Bedürfnis war, andern zu helfen und den Weg zu[162] weisen. Es wurde geradezu zur herrschenden Leidenschaft seines Lebens, einer Leidenschaft, die denn, wie alle Leidenschaften, auch einmal unbequem werden konnte.
Die Kehrseite seiner Aufopferungsfähigkeit war die Strenge seiner Forderungen. Er gehörte durchaus nicht zu jenen weichlich-liebenswürdigen Naturen, die nicht weh tun können. Er konnte scharf und hart, ja, wenn er einmal Mißtrauen gefaßt hatte, unbarmherzig und selbst ungerecht werden. So zartfühlend und fein er in seinem Wohlwollen war, so rücksichtslos war er in seinem Zorn. Wo ihm Unwahrhaftigkeit oder Rücksichtslosigkeit oder gemeine Gesinnung entgegentrat, da haßte er mit der ganzen Leidenschaft seiner Seele. So war er als Kollege nicht gerade bequem. Zu jeder Hilfe, zu jeder billigen Verständigung bereit, lehnte er es doch durchaus ab, auf dem Fuß des: veniam damus petimusque vicissim, auf dem Fuß des Nachsehens und Gehenlassens, zu leben. Auch der Untergebene war nicht bequem, er hat seine ersten Direktoren, Bartelmann und Niemeyer, leidenschaftlich verehrt; er hat anderen schwere Stunden gemacht durch die entschiedene Weigerung, durch Leisetreten und Schweigen Ärgernis verhüten zu helfen. Und ähnlich mit den Schulräten: L. Wiese ist er bis ans Ende anhänglich geblieben, er wußte die ruhige Sicherheit, die mitis sapientia des Mannes, wie sie ihm im Verkehr mit den Schülern entgegengetreten war, nicht genug zu rühmen. Wo er aufgeblasener Amtsmiene, hohlem Besserwissenwollen begegnete, da regte sich in ihm der alte Burschenschafter, und er wog die Worte nicht aufs ängstlichste ab. Hat er doch noch als Oberlehrer ein paarmal Leute, die ihm quer kamen, vor die Klinge gefordert.
Überhaupt: sein ganzes Wesen war Entschiedenheit; für oder wider, nicht das schwächliche Mittelmaß, warm oder kalt, nicht fade Lauheit. So der Charakter dieses Mannes. Von seiner geistigen Bedeutung empfing jeder, der ihm persönlich begegnete, einen starken Eindruck. Er war in der Unterhaltung, wenn er seinen guten Tag hatte, geistsprühend, voll treffender und eigentümlicher Wendungen, seine Sprache ungemein gedrängt und besonders, so daß es nicht immer leicht war, ihn zu verstehen. Er war ein ungemein scharfer Beobachter fremder Eigentümlichkeit, auch ihrer Schwächen, deren denn der Witz nicht immer schonte. Ein erstaunliches Gedächtnis stellte ihm Erinnerungen, Erlebnisse, Geschichten, Anekdoten, besonders auf Personen und Persönliches sich beziehende, in lebendigster Frische vor Augen, er erzählte,[163] wie wenn er jetzt Gegenwärtiges beschriebe. Dabei hatte er eine wahre Unersättlichkeit des Lernens; wo er jemand begegnete, der etwas Besonderes hatte oder wußte, es mochte ein Gelehrter oder ein Handwerker, ein Bauer oder ein Matrose, ein Einheimischer oder ein Fremder sein, da begann er alsbald, ihn zu befragen nach beruflichen und gesellschaftlichen, nach allgemeinen und persönlichen Verhältnissen. So hatte er in Kiel als junger Lehrer alle möglichen Vorlesungen gehört, philologische und historische, juristische und philosophische, um die Lücken seines Wissens, wegen deren er oft in leidenschaftlichen Ausdrücken seine verlorene Studienzeit anklagte, auszufüllen. In der Tat war er auf erstaunlich vielen Gebieten versiert, und sein ausgezeichnetes Gedächtnis stellte ihm den reichen Schatz des Erworbenen mühelos zur Verfügung. Seine Fähigkeit der Auffassung des Persönlichen und sein unermüdlicher Spürsinn hätten ihn zu einem hervorragenden literar-historischen Forscher gemacht, wenn ihm mehr Freiheit und die Gabe der Konzentration gegeben gewesen wäre. Seine Arbeiten zur Geschichte der Burschenschaft, über Rückert und Platen lassen die Eigenschaften des Schriftstellers erkennen, noch mehr seine Erstlingsschrift über Bartelmann (in 3 Kieler Programmen): die Freude am Sehen und Suchen, die Neigung, an jedem Punkt bis ans Ende zu gehen, immer wird er von einem zum andern und so weitergeführt, und der damit zusammenhangende Mangel an Beschränkung und Abrundung. Er kam auch in seiner leidenschaftlichen Liebhaberei für Bücher- und Briefesammeln zutage. Er selbst pflegte sich über den Mangel methodischer Schulung des Denkens und Arbeitens von der Universität her zu beklagen. Es war aber kein zufälliger Mangel; er hing mit dem Sprunghaften seiner Natur eng zusammen; er konnte nicht, in spanische Stiefel eingeschnürt, gelassen die Gedankenbahn hinschreiten. Das rasche, divinatorische, die Mittelglieder überspringende Kombinieren war seine Stärke. Es war zugleich seine Schwäche: aus geringfügigsten, zufälligsten Symptomen liebte er weitgehendste Schlüsse zu ziehen; die entferntesten Gegenstände wurden in Beziehung gebracht. Es fehlte seinem Denken nicht an Scharfsinn und Energie, aber an Nüchternheit, an Fähigkeit, die Dinge einfach zu nehmen wie sie sind; er trug nicht selten die wunderlichsten Phantasmen hinein. In der Verbindung hatte er den Spitznamen: Don Quichote. Und seltsam, seine Schüler in Kiel kamen bald auf denselben Namen. Die lange, hagere Gestalt, der Spitzbart, die aufgerissenen Augen mochten darauf führen.[164] Ebenso sichtbar war aber die innere Verwandtschaft: die Neigung zu phantastischer Interpretation, der heldenhafte Idealismus, der, unbekümmert um die eigenen Interessen, allein die großen Dinge für würdige Ziele des Willens hält. Endlich teilte er mit ihm auch die Eigenschaft, die nach Ablegung des Rittertums und der Abenteuerlust als das eigentliche innerste Wesen des sinnreichen Junkers übrigbleibt: nennt mich nicht mehr Don Quichote de la Mancha; nennt mich Don Alonzo der Gute.
Ich kehre zu dem Anfang unserer Beziehungen zurück. Wann wir nach jener ersten Begegnung uns wiedergesehen haben, weiß ich nicht bestimmt, vermutlich in den Osterferien 68, wo eines Abends Reuter und ein zweiter Erlanger in Langenhorn ankamen, um mich zu besuchen. Der unvermutete Besuch brachte im Elternhaus nicht wenig Unruhe und Unbequemlichkeit hervor; auf Nachtgäste war das Haus überhaupt nicht eingerichtet. Aber es mußte gehen. Am folgenden Tage entschlossen wir uns rasch zu einer Exkursion nach Föhr; wir fuhren am Abend nach Dagebüll, tranken, da die Flut noch nicht da war, viel Teepunsch und kamen endlich in langer nächtlicher Fahrt im offenen Ruderboot nach Wyck, durch Kälte und Nässe von der Wirkung des im Krug zu Dagebüll getrunkenen Punsches befreit. Es war auch meine erste Meerfahrt, obwohl wir nur eine Stunde von der See wohnten und der Vater von den Halligen stammte. Im Winter 68/69 begann unsere Korrespondenz, die bis auf diesen Tag keine Unterbrechung erfahren hat. Ich mußte ihm jetzt von meinen Vorlesungen erzählen, auch wohl meine Nachschrift von Steinthals Vortrag schicken, der ihn nicht weniger als mich interessierte. Ostern 69 waren wir in Langenhorn wieder beisammen und lasen Platos Timäus, ebenso Ostern 70, wo wir den Prometheus des Äschylos lasen. Wann ich ihn in Kiel zuerst besucht habe, weiß ich nicht mehr, vermutlich Herbst 69; später war es Regel, daß ich, wenn ich von Berlin in die Heimat kam, erst ein paar Tage in Kiel blieb: ich ging nie ohne das Gefühl der Förderung in der einen oder anderen Hinsicht von ihm.
So war es denn natürlich, daß ich auch im Mai 1870, als ich Berlin verließ, meine Schritte nach Kiel lenkte. Ich bin dort bis in den Herbst geblieben; es ist wohl kaum ein Tag vergangen, wo wir uns nicht sahen, meist schon bei Tisch, im Landhaus, wo ein kleiner Kreis jüngerer Lehrer und Studierender speiste, sonst auf kleineren oder größeren Spaziergängen, die meist über die Koppeln in der Richtung auf Düsternbrook,[165] Holtenau oder Knoop gemacht wurden, wir haben hier manche Stunde im Grase gelegen, geplaudert und in die blaue Ostsee hinausgeblickt; oder endlich am Abend im Seebad bei Düsternbrook. Und so wird es nicht viel Gegenstände im Himmel und auf Erden gegeben haben, die damals nicht unsere immer rege Gesprächslust gestreift hätte. Ich fing allmählich an, in der Philosophie ein Gebiet zu gewinnen, wo ich ihm auch etwas bieten konnte; er blieb in der Geschichte und Philologie der Gebende, wo mir auch seine schon damals rasch wachsende Büchersammlung zur Verfügung stand.
Von der Universität hatte ich nicht viel, wie ich es denn auch nicht erwartete. Ich ließ mich gar nicht erst immatrikulieren, sondern besuchte so gelegentlich diese oder jene Vorlesung. So z.B. bei dem alten Hegelianer Thaulow; er galt als komische Figur, und er war es. In einer Aristotelesvorlesung (oder war es die Pädagogik, die ihn auf Aristoteles führte?), behandelte er mit breiter Zustimmung die Lehre des Philosophen über das richtige Alter bei der Heirat. Ich hatte wohl ein wenig die Empfindung, daß wir eigentlich die Plätze tauschen sollten: er auf die Bank und ich auf das Katheder. Seine Kenntnis der griechischen Sprache reichte nicht zur sicheren Unterscheidung von αὐτου und ἑαυτου aus.
An Dilthey, der eben von Basel nach Kiel gekommen war, hatte ich eine Empfehlung von Harms. Ich besuchte ihn in seiner Wohnung am kleinen Kiel und wurde freundlich empfangen. Er lud mich ein, an seinen Übungen über Spinoza teilzunehmen, was ich auch einige Wochen hindurch getan habe. Wir kamen zu viert in seiner Junggesellenwohnung zusammen, es wurde eine Tasse Tee gereicht und dazu gelesen, in der Form, daß einer nach dem andern ein paar Lehrsätze las und übersetzte und den Beweis dazu gab. Ich hab nicht viel Förderung davon gehabt; freilich waren die Teilnehmer zu einem Mehreren kaum imstande; eine umfassende, auf den Gehalt und Zusammenhang im großen gerichtete Lektüre wäre über die Kräfte gegangen. Auch die Vorlesung Diltheys über Geschichte der neueren Philosophie besuchte ich ein paar Wochen lang, ohne rechte Befriedigung zu finden; es schien mir an energischer Hervorhebung der großen und dauernden Gedanken zu fehlen, wogegen gern auf Widersprüche im einzelnen hingewiesen wurde; ich erinnere mich, wie in Spinozas amor intellectualis Dei ein »ganzes Nest von Widersprüchen« aufgedeckt wurde. Ich hab mich nie davon überzeugen können, daß dabei für den Hörer oder[166] angehenden Jünger der Philosophie etwas herauskommt, so wenig als bei Überwegs kritischen Anmerkungen.
Meine Hauptarbeit in Kiel galt Lotze; daneben hab ich Herbarts Ethik und Psychologie gelesen. Auf Lotze bin ich vielleicht durch G.E. Müller hingeführt worden, jedenfalls war dieser von Berlin nach Göttingen gegangen, um Lotze zu hören. Ich hab den Mikrokosmos mit großem Eifer durchstudiert und exzerpiert; in einem dicken Oktavheft, das ich beständig in der Tasche trug, habe ich noch die Auszüge; ein solches Heft wurde mir jetzt zur Gewohnheit, es nahm alles Bemerkenswerte, Fremdes und Eigenes auf. Lotze hat einen nicht unerheblichen Einfluß auf meine Denkweise geübt; die idealistische Metaphysik ist mir durch ihn erst aus einem möglichen Denken zu einer wirklichen Überzeugung geworden, der »Glaube«, in dem Humeschen Sinne des Wortes, kam zu der bloß logischen Ansicht hinzu. Herbart, den ich daneben las, hat für mich immer etwas Abstoßendes behalten; ich fand bei Lotze in so viel höherem Maße Einheit und sinnvollen Zusammenhang. Herbarts gewalttätige Zweifelsucht war mir ebenso peinlich als der dann unvermittelt eintretende, ebenso gewalttätige Dogmatismus der Lehre von dem Realen.
Außer den philosophischen Studien hab ich in dem Kieler Sommer nationalökonomische und sozialwissenschaftliche begonnen. Mit Roschers Werk fing ich an; vor allem hat mich der zweite Band, die Nationalökonomik des Ackerbaus, interessiert; hier brachte ich lebendige Anschauungen in Fülle mit. Schleiermachers Politik führte auf die moderne Staatslehre. Zugleich versuchte ich, mir von der Verfassung und Verwaltung des preußischen Staats einige Anschauung zu verschaffen, welche Bemühung ohne rechte Hilfen freilich ohne rechten Erfolg blieb. Auf der Universitätsbibliothek, die mir der alte Ratjen in liberalster Weise öffnete, hab ich in den Büchersälen manche Stunde zugebracht, um mir unmittelbar von den Büchern literarische Orientierung zu holen: ein umständliches und nicht recht zum Ziel führendes Verfahren. Daneben wurde das Neue Testament und die neutestamentliche Zeitgeschichte von Hausrath fleißig studiert. Auch die Nibelungen hab ich damals zuerst gelesen.
Ich halte es doch der Anmerkung für wert, daß ich in Kiel mir alsbald das Rauchen abgewöhnte. Da ich keine Vorlesungen besuchte, saß ich den ganzen Vormittag von früh an bei der Arbeit; und da ich nach alter Gewohnheit zu Hause Pfeife oder Zigarre rauchte, so war das[167] Zimmer bald voll Rauch. Als ich davon ein gewisses Unbehagen und eine Verminderung der Schärfe des Aufmerkens spürte, sagte ich mir, an Aristoteles Ethik und die der Vernunft gebührende Herrschaft denkend: dem muß ein Ende gemacht werden. Und da ein vollständiges Ende wahrscheinlich leichter durchzusetzen ist als eine Beschränkung im Genuß, so ist das vorzuziehen. Ich kaufte mir nun ein Dutzend Zigarren, stellte sie auf den Tisch und sagte mir: die nächsten acht Tage wirst du keine rauchen; ist's dann nicht mehr auszuhalten, so stehen sie bereit. Nach 8 Tagen verlängerte ich den Termin wieder um 8 Tage, dann nochmals, und nun fühlte ich mich hinlänglich Herr der Situation, um den Tabak dauernd zu entlassen. Später hab ich als Einjähriger wieder zu rauchen angefangen, die Kaserne und die Wachstube ist eine sehr dringende Aufforderung dazu; dann wurde es wieder abgeschafft. Als für meinen Freund die Schulferien kamen, ließen wir Kiel und die Bücher und zogen nordwärts; wir wanderten über Sehestedt an den Wittensee; am folgenden Tage weiter über Ascheffel und die Hüttener Berge auf Schleswig zu. Von der Höhe bei Oberselk übersahen wir am Spätnachmittag das Gelände, wo vor sechs Jahren die ersten Kämpfe zwischen Österreichern und Dänen stattgefunden hatten. Unten an der Schlei lag vor uns die erinnerungsreiche Hauptstadt des Landes mit dem Schloß Gottorp und dem Dom und rechts die alte Kirche von Haddeby. Von Flensburg zogen wir am anderen Nachmittag nach Glücksburg und weiter nach Holnis, wo wir im Fährhaus übernachteten, am Abend mit den Matrosen des Zollkutters Grog zechend und uns an den renommistischen Erzählungen eines unter ihnen, eines pommerschen Pastorensohns, ergötzend. Nachdem ein Frühbad in der heiligen Salzflut die Spuren des Abends weggeschwemmt hatte, gingen wir über Broacker nach Düppel hinauf, wo an der zwischen den Schanzen hinlaufenden Chaussee zahlreiche Gräber auf beiden Seiten ernste Erinnerungen an das Jahr 1864 wachriefen. Wir stiegen nach Sonderburg hinunter und saßen am Abend lange Zeit am Alssund, der Vergangenheit und der Zukunft gedenkend: denn hier erreichten uns die ersten Mitteilungen, daß die politischen Verhältnisse, die wir ganz friedlich glaubten, plötzlich sehr gespannte geworden seien. Am anderen Tage kamen wir nach langer, einsamer Wanderung durch die Insel, wir hatten eigentlich nach Apenrade fahren wollen, spät abends nach Sonderburg zurück, alle Welt sprach vom Krieg. Am frühen Morgen wurden wir durch lebhaftes Treiben auf der Straße[168] geweckt: von Frankreich sei der Krieg erklärt. Es war an meinem Geburtstag. Am Nachmittag ging ein Schiff nach Kiel; wir machten den Vormittag noch einen Gang nach den Düppeler Schanzen: in der Tat begannen die Armierungsarbeiten. Für unsere Ungeduld viel zu langsam, wir erwarteten, jeden Augenblick dänische Schiffe in den Sund einfahren zu sehen. Die fieberhafte Spannung der dänisch gesinnten Bevölkerung wirkte ansteckend.
Am Nachmittag hörten wir auf dem Dampfer, der uns nach Kiel zurückbrachte, zum erstenmal die Wacht am Rhein: ein Reservist, der zum Regiment ging, sang die bisher nach Text und Melodie uns unbekannte Weise.
Am nächsten Tage fuhr ich nach Langenhorn, meine Militärpapiere zu holen, um sie auf dem Bezirksamt Bordesholm zu produzieren. Es war ein bewegter Abschied von den Eltern: wir erwarteten natürlich, wenn auch kaum davon gesprochen wurde, die Einberufung. Da sie nicht kam, ging ich an einem der nächsten Tage mit einem Bekannten von Jena her (Jeß) auf das Bureau des 36. Regiments, das damals in Kiel in Garnison lag, um mich zum freiwilligen Eintritt zu melden. Auf die Frage des Arztes: ob ich einen Fehler hätte, erwiderte ich: daß ich nicht wüßte, abgesehen von einer Neigung zum Wundwerden der Füße, die mir beim Wandern oft peinvolle Stunden gemacht hatte. Der Arzt riet: dann möge ich lieber verzichten; auf dem Kriegsschauplatz, wohin wir nach kürzester Ausbildung abgehen würden, sei dem Heere mit Marschunfähigen nicht gedient. Vielleicht könne ich bei der Kavallerie Verwendung finden. Mein Freund wurde eingestellt und begegnete mir am folgenden Morgen schon in Uniform, das Gewehr über der Schulter, nach dem Exerzierplatz eilend. An einem der nächsten Tage machte ich mich nach Schleswig auf, wo Dragoner lagen; ich wanderte früh nach Eckernföhrde hinüber, an der von 49 her berühmten Bucht nach dänischen Kriegsschiffen vergeblich Ausschau haltend. In Schleswig angekommen, wurde ich nach Schloß Gottorp gewiesen, das jetzt Kaserne der Dragoner sei. Ich brachte mein Anliegen auf dem Bureau vor; der Feldwebel fragte kurz: »Haben Sie ein Pferd?« Ich sagte: »Nein.« »Dann können Sie nicht eintreten, jetzt müssen die Freiwilligen ein Pferd mitbringen.« Ich zog verzagt ab: jetzt ein Pferd beschaffen, erschien so gut wie unmöglich, wo überall die kriegstüchtigen Pferde ausgehoben wurden. Und woher das Geld im Augenblick nehmen? Nach Hause fahren und den Eltern sagen: Ich will mich als Freiwilliger[169] stellen; gebt mir das Geld zur Anschaffung eines Pferdes, das kam mir auch kaum möglich und auch dem Erfolg nach zweifelhaft vor. Sie würden vermutlich gesagt haben: Du kannst es auch abwarten, bis sie dich rufen.
So geschah es, daß ich den Krieg, in dem so viele meiner Erlanger Freunde mitgefochten haben, nicht mitmachte. Ich blieb in Kiel mit gemischten Empfindungen: einerseits verdroß es mich, daß ich nicht dabei sein sollte, andererseits war es mir doch ein die Sache erleichternder Gedanke, daß ich nun die Studien, die ich in kurzem zu einem Abschluß zu bringen hoffte, nicht abzubrechen brauchte. Als der Luxemburger Handel den Frieden ernstlich bedrohte, hätte ich viel darum gegeben, daß es zum Kriege gekommen und ich dadurch einstweilen aus den Nöten der Studienmüdigkeit oder -verzweiflung herausgehoben worden wäre: es war in der Zeit jener tiefen Depression, die auf die verlorenen Erlanger Semester folgte. Jetzt war mir die Unterbrechung mit zweifelhafter Aussicht auf Wiederaufnahme und Vollendung an sich höchst unerwünscht, um der Eltern willen, denen ich ein Zeugnis schuldig zu sein empfand, und um meiner selbst willen: mir war inzwischen der Glaube wiedergekehrt, daß ich noch eine Aufgabe in der Welt zu erfüllen habe.
Bis in den Oktober blieb ich in Kiel. In den Herbstferien machte ich mit Freund Reuter noch eine kleine Wanderung über Gremsmühlen, das ich damals zum erstenmal gesehen habe, es hat uns später noch oft gastlich aufgenommen, nach Neustadt, dann auf langer mühsamer Wanderung immer dicht am Strand hin um die Bucht nach Niendorf, wo wir am Spätnachmittag erschöpft ankamen: wir hatten den ganzen Tag nichts gegessen außer einigen Eicheln, die wir unter einigen herrlichen alten Eichen am Strande liegend aufgelesen und zerkaut hatten. Nachdem wir uns erfrischt, gingen wir nach Travemünde und, da uns das Gasthaus dort nicht zusagte, in der Nacht noch weiter nach Lübeck, das wir erst um Mitternacht erreichten. Ich bewahre eine Erinnerung an diesen Tag: einige Eicheln, die ich unter jenen Bäumen in die Tasche gesteckt hatte, brachte ich mit nach Langenhorn und steckte sie dort in die Erde. Eine von den aufgegangenen Pflanzen hat sich erhalten: ich hab sie später aus dem Garten an den Brunnen verpflanzt, wo sie noch heute steht, als ein mächtiger Baum längst über Haushöhe emporgewachsen.
Als ich nach Kiel zurückgekehrt war und auf einem Spaziergange[170] meinem Freunde sagte, ich sei nur gekommen, Abschied zu nehmen, nicht zu bleiben, da faßte er mich bei der Hand und erwiderte: »Ich wußte es ja, du mußt nach Berlin; mir ist es sehr schmerzlich, aber ich kann dich nicht halten.« In Berlin machte ich mich nun entschlossen an meine Dissertation. Trendelenburg hatte im Winter 69/70 unter anderen Aufgaben zur Aristotelischen Ethik auch die gestellt: Die Methode der Aristotelischen Ethik. Die Frage hatte mich schon länger beschäftigt, ich hatte die Form und Methode der Herbartischen, Kantischen, Schleiermacherschen Ethik in vergleichende Erwägung gezogen, und so begann ich die Ausarbeitung. Alle Freuden der ersten Konzeption sind mir aus dieser Aufgabe erblüht, ich hatte das Gefühl, daß ich der Sache mächtig sei. Und so brachte ich in der kurzen Zeit etwa eines Vierteljahres eine Arbeit zustande die ich, wenn ich mich nicht irre: de forma ac principiis systematum ethicorum überschrieben hatte. Trendelenburg schlug mir, nachdem er die Arbeit gelesen, als Titel vor: Symbolae ad systemata ethica historicae et criticae, welchen Titel ich, wenn auch nicht ohne einiges innere Widerstreben, annahm. Er war übrigens mit der Arbeit nicht ganz zufrieden; er hätte lieber eine Abhandlung über ein begrenzteres Thema in mehr philologisch-historischer Form gehabt, ließ mich aber die kleine Enttäuschung nicht entgelten. Als ich nach der mündlichen Prüfung, in der ich magna cum laude bestanden hatte, zu ihm kam und ihm sagte: das idoneum doctrinae et intelligentiae documentum der Dissertation scheine mir eine niedere Schätzung anzudeuten, widersprach er lebhaft, holte das lateinische Lexikon herbei und bewies mir daraus, daß das idoneum eine sehr anständige Wertung ausdrücke und einem »genügend« keineswegs gleichzustellen sei, vielmehr einem tauglich, tüchtig, zweckdienlich.
Die Prüfung, sie wird im Februar stattgefunden haben, hat mir nur angenehme Eindrücke hinterlassen. Vor allem verständigte ich mich mit Trendelenburg vortrefflich. Er fragte mich nach dem Grundunterschied philosophischer Systeme; da ich nicht lange zuvor seine gleichnamige Abhandlung in den gesammelten Aufsätzen gelesen hatte, so befriedigte ihn meine Antwort gleich vollständig; wir gingen dann behaglich einige Hauptsysteme durch, sie nach jenen Prinzipien charakterisierend. Harms fragte nach Schleiermacher, den ich gut kannte, übrigens wurde die Sache durch seine Schwerhörigkeit sehr gehemmt. Ich hatte dann noch Geschichte und Griechisch: Droysen fragte mich hauptsächlich nach politischen Theorien der Griechen, die mir vertraut genug waren; ich war[171] auf viel mehr vorbereitet: ich hatte den Winter Curtius' griechische und Mommsens römische Geschichte, Rankes Reformation und Sybels Revolution gelesen und dazu den Pütz fleißig repetiert. Kirchhoff legte einige Verse aus der Odyssee vor, die ich glatt übersetzte. Als ich auf eine Vexierfrage: worin der Unterschied zwischen den Partikeln ἀν und κεν bei Homer bestehe, antwortete: ich weiß es nicht, ich habe nie darauf geachtet oder darüber nachgedacht, sagte er mit Lächeln: »Trösten Sie sich, ich weiß es auch nicht.« Die öffentliche Promotion fand erst am 27. Mai statt, in den Ferien war ich zu Hause gewesen, wo große Freude über den glücklichen Ausgang des Studiums war: es hatte also richtig doch gelangt, wie P. Thomsen es ihnen vorausgesagt hatte.
Von den übrigen Erlebnissen des letzten Studiensemesters ist mir eines in deutlicher Erinnerung geblieben: die Begründung eines philosophischen Vereins der Studierenden. Am Anfang des Winters fand sich eines Tages am schwarzen Brett eine Einladung zu einer Versammlung, die sich die Begründung besagten Vereins zur Aufgabe machen solle. Ich ging hin und fand schon eine ansehnliche Zahl von Kommilitonen beisammen. Als zur Konstituierung der Versammlung geschritten wurde, stellte sich als Einberufer ein junger Studiosus im ersten oder zweiten Semester vor, namens Erdmann, derselbe, der sich nachmals als philosophischer Lehrer und Schriftsteller einen Namen gemacht hat und jetzt als Professor der Philosophie in Bonn wirkt. Er begründete in sehr gewandter Rede das dringende Bedürfnis eines engeren Zusammenschlusses und regelmäßigen Austausches zwischen den Studierenden der Philosophie. Seine Worte fanden Beifall: der Verein wurde gegründet. Er hat, meine ich, etwa drei Jahre Bestand gehabt. Wöchentlich fand eine Sitzung mit Vortrag und nachfolgender Besprechung statt. Ich habe in einer der ersten Zusammenkünfte einen Vortrag, wenn ich nicht irre, über den Begriff der Wahrheit gehalten, woran sich später noch weitere Vorträge anschlossen. Unter den ersten Mitgliedern war ein Dr. Mayet, ich glaube zugleich der erste Vorsitzende; später war es Erdmann. Gelegentlich muß auch Dr. Avenarius, der spätere Züricher Professor der Philosophie, anwesend gewesen sein, ich meine, seine eigentümliche sächsisch-singende, näselnde Stimme noch zu hören. Unter den Mitgliedern, denen ich näher trat, war auch H. Jakobi, jetzt Professor des Sanskrit in Bonn. Ich kannte ihn schon länger, vielleicht aus dem Kolleg oder Konversatorium Steinthals. Wir[172] sahen uns in jener Zeit recht häufig und wurden gute Freunde; er hatte eine entzückende Kindlichkeit und Offenheit wie des äußeren, so auch des inneren Wesens. Er hat mir bei der Promotion opponiert zusammen mit Fritz Rehorn, dem alten Erlanger Freunde, und Z. Bruns, dem alten Seebären, mit dem ich in Altona auf der Schulbank zusammen gesessen hatte, er studierte damals in Berlin Medizin. Das freundschaftliche Verhältnis zu Jakobi hat sich noch lange in einem Briefwechsel und gelegentlichen Besuchen fortgesetzt. Auch mit Erdmann wurde ich bald näher bekannt, und es entspann sich ein Verhältnis philosophischen Gedankenaustausches, das uns manche Förderung gebracht hat. Bis zu seiner Berufung nach Kiel 1878 fand zwischen uns ein häufiger persönlicher Verkehr statt.
Buchempfehlung
Demea, ein orthodox Gläubiger, der Skeptiker Philo und der Deist Cleanthes diskutieren den physiko-teleologischen Gottesbeweis, also die Frage, ob aus der Existenz von Ordnung und Zweck in der Welt auf einen intelligenten Schöpfer oder Baumeister zu schließen ist.
88 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro