Barlaam und Josaphat

[47] Barlaam und Josaphat heisst eine im Mittelalter weit verbreitete Legende, die bei uns namentlich durch ein ausgedehntes um 1220 verfasstes Gedicht des Rudolf von Ems bekannt geworden ist. In Indien, erzählt die Legende, herrscht der grausame christenverfolgende König Avenier; nach langer kinderloser Ehe wird ihm ein Sohn, Josaphat, geboren, den er, siebenjährig, in einen herrlichen Palast einschliesst; denn ein Sternseher hatte phrophezeit, der Sohn werde sich einst taufen, um ewigen Besitz das Königreich hinter sich lassen und ein herrliches Reich erwerben. In dem Palaste nun ist der Knabe umgeben von allem was Lust und Freude bereiten kann, und man trägt Sorge, dass jegliche Kenntnis von Alter, Krankheit und Tod ihm fern bleibt. Nach einiger Zeit gestattet ihm sein Vater auszufahren, und da sieht er zwei Männer, einen Lahmen und einen Blinden. Er fragt, was das für Menschen seien, und erfährt, dass sie an Krankheit litten. Alsdann fragt er weiter, ob alle Menschen den Krankheiten ausgesetzt seien, und ob man voraus wisse, wer von Krankheiten leiden und wer davon frei bleiben werde, und da er die Wahrheit hört, wird er traurig und kehrt nach Hause. Bei einer zweiten Ausfahrt begegnet er einem Greise mit runzlichem Angesicht und schlotternden Beinen, gebückten Ganges, zahnlos und stotternd. Wiederum frägt er, was das alles bedeute? und vernimmt, dass dies das Loos aller Menschen sei, dass niemand dem Alter entgehen könne und am Ende alle Menschen sterben müssen. Er kehrt alsdann nach Hause zurück, um über den Tod nachzudenken, bis zuletzt, als Kaufmann verkleidet, der alte fromme Einsiedler Barlaam erscheint und ihn in der Lehre Christi unterrichtet. Josaphat lässt sich von Barlaam taufen. Nachdem der Vater vergebens versucht hat, durch eine Disputation mit Gelehrten und durch sinnliche Wollust den Sohn vom Christentum abzubringen, entschliesst er sich, ihm die Hälfte des Reiches zu übergeben; ja es gelingt dem Sohn zuletzt, den Vater ganz zu belehren. Nach dessen Tode verzichtet er selbst auf das Reich, scheidet in die Wüste, wo er teuflischen Anfechtungen mannhaft widersteht, auch seinen Lehrer Barlaam wiederfindet. Nachdem er mit diesem fastend und betend eine Zeit lang in der Wüste gelebt, stirbt zuerst Barlaam, später nach 35jährigem Wüstenaufenthalt auch Josaphat.

Die Erzählung von Barlaam und Josaphat war von Johannes Damascenus um 700 griechisch bearbeitet worden und ging durch zahlreiche Uebersetzungen ms Syrische, Arabische, Äthiopische, Armenische, Hebräische, Lateinische, Französische, Italienische, Altnordische, Englische, Böhmische und Polnische über. Als Quelle der Legende hat man aber die sagenhafte Lebensbeschreibung des Buddha, die sog. Lalita-Vistara nachgewiesen: ohne Zweifel eine der merkwürdigsten Uebergänge auf dem Gebiete des Religionswesens, dass das Leben des Begründers des Buddhismus, sowie das durch ihn vervollkommnete Asketenleben und Mönchstum mit den sich daran knüpfenden Lehren der Armut, Bezwingung der Sinne und Keuschheit zu einer der verbreitetsten Heiligen-Geschichten der ganzen morgen- und abendländischen Christenheit werden[47] konnte. Felix Liebrecht in Eberts Jahrb. f. roman. und engl. Literatur II. – P. Cassel, Literatur und Symbolik, S. 152–228. Leipzig 1884. Das Gedicht Rudolfs herausgegeben von Pfeiffer, Leipzig 1843, die französische Bearbeitung des Gui de Cambrai in Bd. 75 der Bibliothek d. Tit. Vereins zu Stuttgart.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 47-48.
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