[474] Kanoniker hiess ursprünglich jeder Geistliche, der in den Kanon oder die Matrikel einer Kirche eingetragen und zu Einkünften daraus berechtigt war, zum Unterschiede von solchen Geistlichen, die nur an Kapellen fungierten. Schon zu Augustins Zeiten lebten viele Geistliche, ohne gerade in eine klösterliche Vereinigung zu treten, nach einer allgemeinen, vor den Weltgeistlichen sie auszeichnenden Norm, Canon; ihr Name war Canonici, ihre Lebensweise Vita canonica. Sie lebten nach geistlichen Regeln, legten kein Mönchsgelübde ab, kamen täglich in ihrem Münster zusammen, hielten Kapitel, Capitula, unter dem Vorsitze ihres Bischofs, beschäftigten sich mit wissenschaftlichem Unterrichte, assen und schliefen zusammen. Dieses Institut der Vita canonica neu eingeführt und damit der zerfallenen geistlichen Zucht aufgeholfen zu haben, ist das Verdienst Chrodegangs, Bischofs von Metz, gest. 765 oder 766. In seiner aus 32 Kapiteln bestehenden Regel gebot er das gemeinsame Leben unter der unmittelbaren Aufsicht des Bischofs, verordnete die drei gewöhnlichen Klostergelübde der Armut, Keuschheit und des Gehorsams, befahl fromme Übungen selbst in der Nacht nach der Folge der kanonischen Stunden, wies jeden Geistlichen an, täglich zum Kapitel zu kommen, in welchem ein Abschnitt der Ordensregel, Capitulum regulae, vorgelesen werden sollte, legte die Beobachtung des Stillschweigens auf, das nur im Falle der Notwendigkeit zu unterbrechen gestattet war, und überliess dem Bischof oder Ordensobern die Bestimmung für den Unterhalt der Ordensbrüder aus einem Teile der Stiftsgüter und Zehnten, gestattete jedoch dem einzelnen Eigentum zu besitzen.
Karl der Gr. bestätigte die Regel Chrodegangs auf dem Konzil zu Aachen 789, und Ludwig der Fromme vermehrte und erweiterte sie auf dem Konzil zu Aachen 816. Die Kanoniker bildeten nun eine geistliche Korporation, und namentlich entstanden an den Dom- uud Kollegiat- d.h. den nicht bischöflichen Kirchen Monasteria Canonicorum; jene hiessen Canonici cathedrales, Domherren, mhd. tuomherren, diese Canonici collegiales. Die Domherrn, auch Stiftsherren oder Kapitularen genannt, bildeten als geistliches Kollegium das Domkapitel.
Seit dem 10. Jahrhundert fing wie in den grossen Klöstern auch in den Domkapiteln, welche nun regelmässig dem höfischen oder adeligen Stand angehörten, das gemeinsame Leben an aufzuhören; die für das Münster bestimmten Einkünfte der Kirche, Zehnten, Pfarreien und ein Teil der Einnahmen des Bischofs wurden, zuerst in Köln 853, den Kanonikern als Stiftsgut überwiesen und dienten nur zum Teil noch für Zwecke der Gemeinschaft, sonst aber wurden sie auf die einzelnen Kapitelstellen als selbständige Pfründen repartiert. Seit dem 12. Jahrhundert fügten sich hier und da nach dem Befehle der Kirche einzelne Domkapitel der Wiedereinführung des gemeinsamen Lebens und kehrten zu des heil. Augustinus Stiftung (Augustinerregel) zurück, nahmen auch etwa Mönchsregeln, namentlich die Prämonstratenser-Regel an, welche selber aus einer Verschärfung der Augustinerregel hervorgegangen war, und hiessen dann regulierte Chorherren[474] oder Canonici regulares, im Gegensatz zu den der Regel der Weltgeistlichen angehörenden Canonici seculares. Die letzteren waren nicht einmal stets Kleriker. Immer mehr gelang es ihnen, den Bischöfen gegenüber eine unabhängige Stellung zu erringen, sie lebten von ihren reichen Pfründen als Herren und überliessen die geistlichen Funktionen gemieteten Vikaren. Es nützte wenig, dass die Kirche gegen diesen Missbrauch auftrat, und z.B. das Basler Konzil verlangte, dass die Hälfte der Domherrenstellen Männern von wissenschaftlichen und kirchlichen Verdiensten zugewiesen würde. In vielen Domkapiteln wurde es gesetzliche Bestimmung, dass nur solche Adelige als Domherren aufgenommen werden sollten, die acht bis sechzehn Ahnen nachzuweisen hätten; auch wurde allmählich seit dem 16. Jahrhundert die Zahl der Domherren fest bestimmt, die Kapitel wurden Capitula clausa. Im Gegensatz zu den eigentlichen Domherren oder den Canonici majores nannte man jetzt die Exspektanten Canonici minores oder Domicellares; man forderte von ihnen ausser dem Adelsnachweise ein Alter von mindestens 14 Jahren, die Fertigkeit lateinisch zu lesen und zu singen und die Abhaltung eines Probejahres im Kirchendienst. An der Spitze der Kongregation stand, der Klosterverfassung entlehnt, ein Praepositus, dem ein besonderer Aufseher der Schule, Scholasticus, ein Dirigent des Chorgesanges, Primicerius oder Cantor, der Custos, der Thesaurar oder Sacrista, der Cellarius und der Portarius untergeben waren; später trat noch ein Decanus dazu. »Schwartz röck und ein schepler tragen sy umb den arm gemeinklich geschlagen und seind halb Münch halb Pfaffen,« sagt Sebastian Frank.
In das 8. oder 9. Jahrhundert verlegt man den Ursprung der Canonissae, welche, im Gegensatz zu den eigentlichen Nonnen, zur freieren Verbindung der vita canonica zusammentraten. Auch diese Institute sind mit der Zeit adelige Stiftungen geworden.