[495] Kirchenlied. Von einem eigentlichen Kirchengesange des Volkes kann im Mittelalter die Rede nicht sein, da die Kirche ausdrücklich den Gebrauch der einheimischen Sprache für die liturgische Handlung untersagt hatte; das Volk sollte schweigend beten und nur im Herzen singen; den Geistlichen allein kam es zu, heilige Gesänge anzustimmen und so die Herzen des umherstehenden Volkes zu erheben. Das einzige was man Jahrhunderte lang dem Volke beim Gottesdienst zu singen gestattete, war der Ruf Kyrie eleison, Herr, erbarme Dich unser! Dieser wurde, und zwar oft wiederholt bei Leichenbegängnissen, nach der Predigt, bei der Vesper, ja, wie es in den Kapitularien heisst, auch bei den Geschäften des Lebens, beim Aus- und Eintreiben des Viehes gesungen oder gerufen. Ludwig der Fromme pflegte am Karfreitage in seinem Palaste zu Aachen seine ganze Hofhaltung mit neuen Kleidern zu beschenken, vom Vornehmsten an bis auf den Geringsten, und wenn nun jeder hatte, was er bedurfte und auch die Armen gekleidet waren, dann riefen sie ihm durch die weiten Hallen zu: Kyrie eleison! Derselbe Ruf ertönte auch in der Schlacht, wie es z.B. im Ludwigslied heisst:
Ther kuning reit kuono,
Sang lioth frôno,
Joh allê saman sungun
Kyriê leison.
Anfänglich tönte der Ruf ungeschlacht aus dem Munde des Volkes, sodass ein Beschluss erging, das Volk solle Kyrie eleison rufen lernen und nicht mehr so rustice, dörperlîch, schreien wie bisher. Ein einziges, dem 9. Jahrhundert angehöriges deutsches Lied ist erhalten, das nicht bloss den Refrain enthält, sondern zugleich einen strophischen Text, das Lied vom heiligen Petrus.
Die mit dem 11. Jahrhundert zuerst in Frankreich beginnende[495] religiös-kirchliche Erregung wäre an sich einer Ausbildung des geistlichen Gesanges nicht ungünstig gewesen, wenn die Kirche nicht nach wie vor jeglicher Einmischung nationaler Gesänge in den lateinisch gehaltenen Gottesdienst sich widersetzt hätte. So bewegte sich auch die im 12. und 13. Jahrhundert zur Blüte gelangte weltlich-höfische Lyrik auf anderen Bahnen als auf solchen eines geistlichen Volksgesanges, und wenn zwar religiöser Stoff, namentlich der Mariendienst, der Lyrik der Minnesänger nicht fremd blieb, so war es doch mehr die subjektive individuelle Stimmung des frommen Dichters, die sich aussprach, als das gemeinsam dichtende und religiös empfindende Volksgemüt. So begegnet man denn im 12. und 13. Jahrhundert nur sehr wenigen an die höfische Lyrik sich anlehnenden geistlich volkstümlichen Liedern; was die Zeit an solcher Lyrik wirklich besass und benutzte, waren vielmehr Liederstrophen, die, vielleicht noch aus früherer Zeit herrührend, echtes Eigentum der sonst in dieser Periode so wenig vertretenen Volksdichtung sind. Dass aber das Volk wirklich geistliche Lieder besass und im Gegensatz zu den Franzosen, von denen ausdrücklich bezeugt wird, dass sie keine solche gehabt hätten, sang, davon sind mehrfache Zeugnisse erhalten; so z.B. als der heilige Bernhard von Clairveaux 1146 an den Ufern des Rheins das Kreuz predigte, sang das Volk wiederholt:
Christ uns genâde,
Die heiligen alle helfen uns!
Man sang bei den Wallfahrten, während des Kampfes, besonders auf den Kreuzzügen, auf der See, während und nach der Fahrt.
In der Schlacht auf dem Marsfelde zwischen Ottokar und Rudolf von Habsburg sang das deutsche Heer:
Sant Mari, muoter unde meit,
al unsriu nôt sî dir gekleit (geklagt).
Dasselbe Lied sangen deutsche Kreuzfahrer vor der Schlacht bei Acca 1291 und bei der Schlacht am Hasenbühel 1298.
Man nannte diese Lieder, ob nun der Kehrvers Kyrie eleison noch dabei war, oder nicht, Leisen, eine Benennung, die bis ins 15. Jahrhundert dauerte.
Die verbreitetsten Leise waren aber:
Christ ist erstanden
von der marter allen,
des söllen wir alle fro sein,
Christ will unser trost sein,
kyrieleison.
Waer er nicht erstanden,
so waer die welt zergangen,
seit dass er erstanden ist,
so frewet sich alles das da ist
kyrieleison.
Christ fur gen himel,
was sant er uns wider?
er sendet uns den heilgen geist
zu trost der armen christenheit,
kyrieleison.
Christ für mit schalle
von seinen jüngern alle,
macht ein kreuz mit seiner hant,
und tet den segn übr all lant,
kyrieleison.
Alleluia, alleluia alleluia!
des soln wir alle fro sein,
Christ sol unser trost sein,
kyrieleison!
Nu bitten wir den heiligen geist
um den rehten glauben allermeist,
dass er uns behüete an unserm ende,
so wir heim suln varn uss disem ellende,
kyrieleis.
Wahrscheinlich schon in dieser Periode wurde zu Schiffe das Lied gesungen, das später bei Pilgerfahrten[496] und Bittgängen häufig angewendet wurde:
In gotes namen varen wir,
siner gnaden geren wir,
nu helfe uns diu gotes kraft,
und daz heilige grap,
da got selber inne lac,
kyrieleis etc.
Wurden die genannten Lieder und nicht wenige andere erst im 14. und 15. Jahrhundert entstandene geistliche Volkslieder in den folgenden Jahrhunderten bei ähnlichen Gelegenheiten fortgesungen und kamen sie teilweise sogar im Gottesdienst zur Anwendung, so brachte nunmehr das 14. und 15. Jahrhundert noch infolge anderer Vorgänge einen deutschen Kirchengesang mehr und mehr in Fluss. Schon früher vernimmt man, dass Ketzer öffentlich geistliche Lieder sangen; von solchen sind zwar keine Beispiele erhalten, jedoch aus anderen Kreisen, die im Gegensatz zur nüchternen Scholastik und Dogmatik der Kirche ein lebendiges religiöses Empfindungsleben hervorriefen. Dahin gehören die Mystiker, in deren Kreisen, namentlich in Frauenklöstern das mystische Lebensprinzip, die Liebe zu Gott und in Gott, das sehnsüchtige Verlangen nach Christo, dem Bräutigam, in zahlreichen Liedern sich aussprach.
Ebenfalls an die Lieder der Häretiker erinnern die von den Geisslern gesungenen Gesänge, welche wahrscheinlich schon aus früheren Geisselfahrten des 13. Jahrhunderts stammen (siehe den bes. Artikel).
Nicht minder zeigt sich die neuerwachte Lust am geistlich-deutschen Liede in zahlreichen Übersetzungen lateinischer Kirchenhymnen. Sie beginnen schon im 13. Jahrhundert mit Kum, schepfaer, heiliger geist, Veni creator spiritus; Nie wart gesungen süezer gesanc, Jesus dulcis memoria und Gote sage wir gnâde unde êren danc, Hymnum dicamus Domino. Gegen Ende des 14. und zu Anfang des 15. Jahrhunderts mehren sich diese Arbeiten, namentlich hat der Benediktiner Hermann von Salzburg zahlreiche lateinische Hymnen deutsch bearbeitet und zwar auf Begehren seines Erzbischofs Pilgrim, gest. 1396; ebenfalls als Übersetzer und zugleich als fruchtbarer, frommer und begabter selbständiger Dichter hat sich Heinrich von Laufenberg, Priester zu Freiburg im Breisgau, ausgezeichnet; er trat 1445 zu Strassburg in ein Kloster. Schon sang an einigen Orten das Volk abwechselnd mit der Geistlichkeit solche Hymnen, je die lateinische und die derselben entsprechende deutsche Strophe. Auch an gedruckten deutschen Hymnensammlungen fehlte es vor der Reformation keineswegs.
Eine weitere Quelle geistlicher Lieder gewann man durch Umdichtungen weltlicher Gesänge. Schon die fahrenden Kleriker oder Goliarden hatten im 13. Jahrhundert kirchliche Hymnen weltlich parodiert, z.B. aus dem Verbum bonum et suave ein Lied gemacht Vinum bonum et suave und sich nicht gescheut, solche Verse in den Kirchen beim Gottesdienste abzusingen. Jetzt geschah das Umgekehrte, man parodierte weltliche Lieder in geistlichen Text. Weltgeistliche, Mönche, Nonnen, nahmen an dieser Arbeit teil, wodurch man sich in den Besitz geistlicher Texte zu schönen längstbekannten Singweisen setzte. So wurde das bekannte Lied:
Ich stuond an einem morgen
heimlich an einem ort,
da het ich mich verborgen,
ich hort klegliche wort
von einem frewlein hübsch und fein,
das stuond bei seinem buolen,
es muost gescheiden sein.
in dieser ersten Strophe folgendermassen umgewandelt:[497]
Ich stuont an einem morgen
heimlich auf einem ort,
da het ich mich verborgen,
ich hort klegliche wort,
wan sel und leip in grozer pein;
die sel sprach zuo dem leibe:
es muoz gescheiden sein.
So wurde aus:
der liebste buolen den ich han,
der leit beim wirt in keller,
er hat ein hölzin röcklin an
und heisst der muskateller,
der Anfang des geistlichen Liedes:
den liebsten herren den ich han,
der ist mit lieb gebunden,
er lüchtet in dem herzen min
und freut mich zallen stunden.
Nur gering ist der Anteil, den die Meistersänger am kirchlich sangbaren Liederschatze hatten. Die besondern Gelegenheiten, bei welchen schon vor der Reformation deutsche Lieder in der Kirche gesungen wurden, sind nach Meister und Bäumker das katholische deutsche Kirchenlied in seinen Singweisen von den frühesten Zeiten bis Ende des 17. Jahrh. 2 Bde. Freiburg. 1862 und 1883, folgende: 1) an hohen Festen bei dramatischen Aufführungen in der Kirche; 2) in Verbindung mit den Sequenzen, welche an gewissen Festen, Weihnachten, Ostern, Pfingsten, Himmelfahrt, Dreifaltigkeitsfest, Fronleichnam, im Hochamt zwischen Epistel und Evangelium zum Halleluja gesungen werden, so zwar, dass das Kirchenlied der Gemeinde bald nach der Sequenz, bald antiphonisch innerhalb derselben gesungen wurde; 3) vor und nach der Predigt, ein Gebrauch, der im 15. Jahrh. wenigstens einzeln nachweisbar und im 16. Jahrh. ziemlich verbreitet gewesen ist; 4) beim Lehramt, d.h. unter der stillen Messe; 5) bei Prozessionen.
Dagegen trat nun Luther gleich im Beginn der Reformation ganz und voll für das Recht des kirchlichen Gemeindegesanges ein und unterstützte das Prinzip desselben durch eigene Dichtungen, die er teils aus der Bibel, teils aus den alten lateinischen Hymnen schöpfte, teils sind es alte Liederstrophen, die er fortdichtend benutzte, einige, besonders die polemischen, sind frei gedichtet. Das erste von Luther herausgegebene Gesangbuch erschien zu Wittenberg 1524 unter dem Titel: »Etlich Christlich Lider, Lobgesang und Psalm, dem reinen Wort Gottes gemess, aus der Heyligen schrifft, durch mancherley hochgelehrter gemacht, in der Kirchen zuo singen, wie es dann zum tayl berayt zuo Wittenberg in üebung ist.« Es enthält acht Lieder, nämlich von Luther selbst vier (Nu freut euch lieben Christen gemein, Ach Gott vom himel sieh darein, Es spricht der unweisen mund wol, und Aus tiefer not schrei ich zu dir.), sodann drei Lieder von Paulus Speratus: Es ist das heil uns kumen her, In Gott gelaub ich das er hat, Hilf Gott wie ist der menschen not, und das Lied eines unbekannten Verfassers: In Jesus Namen heben wir an. In demselben Jahre 1524 erschien zu Erfurt schon eine auf 25 Lieder vermehrte Sammlung, das Enchiridion oder Handbüchlein, mit 18 Lutherischen Stücken, und so hatte es nun längere Zeit mit zahlreichen neuen Liedern und Sammlungen seinen Fortgang, wobei die letzteren bald mehr dem gemeinsamen Gebrauch der evangelischen Kirche, bald mehr einer besonderen städtischen oder Landes-Kirche dienten. Die Hauptnamen der Liederdichter (ausführliches Verzeichnis bei Goedeke, Grundriss, I. § 127 ff.) sind Paul Speratus, Nicolaus Decius, Erasmus Alberus, Burkhard Waldis, Justus Jonas, Nikolaus Hermann, Wolfgang Musculus, Johann Mathesius, Paul Eber, Nicolaus Selnecker, Johann Fischart, Bartholomäus Ringwaldt,[498] Philipp Nicolai, Johann Valentin Andreä und Hans Sachs. Die Lieder dieser Dichter lassen es sich angelegen sein, den objektiven Inhalt der evangelischen Lehre, namentlich an die Bibel angelehnt, in echter volkstümlicher bündiger, allgemein wirksamer Sprache wiederzugeben; sie wollen aber nicht eigentlich lehren, sondern sie sind der Reflex des evangelischen Glaubens auf das Gemüt der evangelischen Gemeinde und meist mehr kindlich naiv als verständig nüchtern gehalten. Sind die meisten dieser Lieder noch in der roheren Verstechnik des 16. Jahrhunderts verfasst, so werden sie gegen Ende des Jahrhunderts in der Form eleganter, glatter, zum Teil künstlich spielend, und der Auffassung nach subjektiver; diese letztere Gattung, deren Hauptrepräsentant Philipp Nicolai ist, führt dann hinüber zu den Liederdichtern des 17. Jahrhunderts, welche unter dem Einflusse der Opitzischen Verskunst und unter dem Drang des 30jährigen Krieges eine edle Subjektivität des religiösen Gefühles zur Darstellung bringen.
Anders und minder günstig für das Kirchenlied entwickelte sich der Gottesdienst der Reformierten. Zwingli wollte für Zürich, namentlich abgeschreckt durch bisher waltenden Missbrauch des kirchlichen Gesanges, keinen deutschen Gemeindegesang dulden; was von reformierten Dichtern dennoch an Kirchenliedern gedichtet wurde, war wenig erheblich und schloss sich an die Dichtung der Lutheraner an, deren Lieder anfangs auch in die reformierten Gesangbücher Aufnahme fanden. Doch verschwanden diese Sammlungen allmählich aus dem kirchlichen Gebrauche und machten, bedingt durch die Forderung eines einzig auf die Schrift gegründeten Kirchengesanges, blossen Psalmenübersetzungen Platz. Es geschah das namentlich unter dem Einflusse der von Goudimel nach französischen Volksweisen in Musik gesetzten Psalmen Marots und Bezas; diese französische Psalmensammlung wurde nun, um die Melodien zu erhalten, von Ambrosius Lobwasser, Professor zu Königsberg, 1515 bis 1585, Silbe für Silbe ins Deutsche übersetzt und blieb bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts das in unzähligen Ausgaben gedruckte Psalm- und Kirchenliederbuch der reformierten Gemeinden.
Auch die katholische Kirche Deutschlands blieb zuletzt nicht ganz ohne Anteil an der auf dem Gebiete des Kirchenliedes entstandenen Bewegung. Wenn zwar das Prinzip der Nichtteilnahme des Volkes am kirchlichen Gesang nie von der Kirche selber zurückgenommen wurde, so wurde doch hier und da kirchlich deutscher Gesang geduldet und gepflegt, man sammelte alte Lieder aus der Volksüberlieferung, auch alte Übersetzungen der Hymnen, vermehrte sie mit neuen Übersetzungen und Liedern und erhielt dadurch einen nicht unbeträchtlichen Liederschatz. Der erste, der das that, war Michael Vese, Predigermönch und Propst zu Halle an der Saale, mit: »Ein New Gesangbüchlein Geystlicher Lieder, vor alle gutthe Christen nach ordnung Christlicher Kirchen. Leipzig, 1537.« Es enthält 45 Lieder und wurde benutzt von Georg Witzel, Domdechant von Olmütz, der 1567 ein grosses Gesangbuch mit 199 deutschen und 22 lateinischen Liedern herausgab. Noch umfangreicher ist das durch David Gregorius Corner, Abt zu Götweig, im Jahre 1625 veranstaltete »Gross Catholisch Gesangbuch« mit 422 Liedern. Hoffmann von Fallersleben, Gesch. d. deutschen Kirchenliedes bis auf Luthers Zeit.
Buchempfehlung
Der junge Chevalier des Grieux schlägt die vom Vater eingefädelte Karriere als Malteserritter aus und flüchtet mit Manon Lescaut, deren Eltern sie in ein Kloster verbannt hatten, kurzerhand nach Paris. Das junge Paar lebt von Luft und Liebe bis Manon Gefallen an einem anderen findet. Grieux kehrt reumütig in die Obhut seiner Eltern zurück und nimmt das Studium der Theologie auf. Bis er Manon wiedertrifft, ihr verzeiht, und erneut mit ihr durchbrennt. Geldsorgen und Manons Lebenswandel lassen Grieux zum Falschspieler werden, er wird verhaftet, Manon wieder untreu. Schließlich landen beide in Amerika und bauen sich ein neues Leben auf. Bis Manon... »Liebe! Liebe! wirst du es denn nie lernen, mit der Vernunft zusammenzugehen?« schüttelt der Polizist den Kopf, als er Grieux festnimmt und beschreibt damit das zentrale Motiv des berühmten Romans von Antoine François Prévost d'Exiles.
142 Seiten, 8.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro