Martinsgans, Martinslied

[640] Martinsgans, Martinslied. Auf den heiligen Martin, der Legende nach ein Kriegsmann, der dem in Bettlergestalt umherwandelnden Heiland ein Stück seines Mantels mit dem Schwerte abschnitt und schenkte, sind früh Züge des Wodanskultus übertragen worden; so der Schimmel, auf dem er reitet; ihm zu Ehren wird ein Backwerk in Form eines Hornes, sogenannte Martinshörner, gebacken, das sich auf die dem Wodan geopferten Böcke zu beziehen scheint. Ganz besonders ist aber das dem Wodan zu Ehren gefeierte Erntefest auf die Feier es Martinstages, 11. November, übertragen worden, an welchem der Erntebraten, meist eine Gans, vorgesetzt wird. Auch Martinsfeuer giebt es, wozu Kinder sich Scheite ansammeln, indem sie zugleich Birnen, Äpfel und Nüsse als Ernteopfer unter Absingung von Liedern zusammenbetteln. Sebastian Frank schreibt von den Franken: »Sant Martins und Sant Niclas Fest celebriert diss volk wunder ehrlich, doch unterschidlich, Sant Martin im hauss ob tisch, Sant Niclas in der kirchen. Erslich loben sie S. Martin mit guotem wein, gänsen, biss sie voll werden, unselig ist das hauss, das nit auf dise nacht ein ganss zuessen hat; da zäpfen sie ire neuwe wein an, die sie bissher behalten haben, da gibt man zuo Würtzburg und andersswa auf disen Tag den armen ein guote notturft. Zwei eberschwein schleusst man in ein zirkel oder ring auf disen tag zuosamen, die einander zerreissen, das fleisch teilet man auss unters volk, das best schickt man der oberkeit«. In Gegenden, wo die Gänse seltener sind, werden sie durch andere Gerichte vertreten, am Niederrhein durch frische Wurst mit Reisbrei, an der Aar durch »kalte Milch und Wecksupp«, in Westflandern durch Waffeln, in Norwegen tritt zur Gans oft ein Ferkel. An vielen Orten war am Martinstage Austeilung eines gewissen Quantums Wein oder Most seitens der Obrigkeit an die Dienerschaft, Beamten, Lehnsinhaber, Bürger gebräuchlich. Das 15. und 16. Jahrhundert hat eine ganze Anzahl Martinslieder hervorgebracht, die sich bald mehr an die Gans, bald mehr an den Martinstrunk anlehnen; sie sind zum Teil studentischen Charakters, da eines derselben sogar die Messformel oder andere geistliche Hymnen parodiert, ein anderes gemischten lateinisch-deutschen[640] Text aufweist, während andere wiederum mehr volksmässige Trinklieder sind. Eines der kürzeren Lieder lautet:


Praesulem sanctissimum veneremur, Gaudeamus!

Wöllen wir nach Gras gan, hollereio,

So singen uns die Vögelein, hollereio,

In hoc solemni festo

Zir zir passer.

Des Gutzgauch frei Sein Melodei

Helt über Berg und tiefe Thal.

Der Müller auf der Obermühl,

Der hat ein feiste Gans,

Die hat ein feisten dicken langen waidelichen Kragen.

Die wöll wir mit uns tragen.

Drussla drussla drussla drussla, drussla gickgack gickgack

Dulci resonemus melodia.


Andere Lieder u.a. in Hoffmanns von Fallersleben Deutschen Gesellschattsliedern, Nr. 256–265. Über Martinsgebräuche: Reinsberg-Düringsfeld, Das festliche Jahr.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 640-641.
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