Pseudoisidorische Dekretalien

[813] Pseudoisidorische Dekretalien. Um das Jahr 850, also etwa um die Zeit des Vertrages von Verdun, entstand, wahrscheinlich in Mainz oder in Reims, eine unter dem Namen des heiligen Isidorus gehende verfälschte Dekretaliensammlung (siehe den Art. Kanonisches Rechtsbuch), zu dem Zwecke, anscheinend aus den ältesten Quellen des Kirchenwesens alle die Befugnisse herzuleiten und als schon verliehen darzustellen, nach deren Besitz die Kirche trachtete, um Selbständigkeit und eine ihrer hohen Aufgabe würdigere Stellung dem Staate gegenüber zu erlangen. Die Form dieses trügerisch erfundenen Machwerkes sind Schreiben der römischen Bischöfe aus den ersten Jahrhunderten des Christentums; die Hauptabsicht der Sammlung aber ist, die Kirche durch engeres Zusammenschliessen derselben unter dem Primate Petri unabhängiger vom Staate und seinen hemmenden Einrichtungen zu machen und sie dadurch aus dem Zustande der Unsicherheit und Erniedrigung zu retten, in welche sie ihre Unterordnung[813] unter dem Staat und die Leiden des Bürgerkrieges unter Ludwig dem Frommen und seinen Söhnen gestürzt hatten. Neben dieser Hauptabsicht scheint die Nebenabsicht gewaltet zu haben, auf die Erhöhung einer gewissen Metropole im fränkischen Reiche – Mains oder Reims – zu einer erhabeneren Stellung hinzuwirken. Die Pseudoisidorische Sammlung bietet eine Art Gegenstück zu dem Vertrage von Verdun; während dieser ohne jede Rücksicht auf die Interessen der Kirche den Metropolitanverband an mehreren Stellen durchschnitt, die Besitzungen der Bistümer und Klöster willkürlich für die Kosten des Bürgerkrieges in Anspruch nahm, Bischöfe und Äbte durch einseitige Verfügung der weltlichen Gewalt von ihren Sitzen verjagte, so erklärte die Dekretalien-Sammlung die Besitzrechte der Kirche für heilig und unantastbar, eximierte die Geistlichen vom weltlichen Gerichte und liess sie in letzter Instanz nur von dem selbst unabsetzbaren Papste gerichtet werden. Erwähnt wird die Sammlung zum erstenmal im Jahre 857 auf dem Reichstage von Chiersy und bald darauf ihre Gültigkeit von Papst Nicolaus I. ausdrücklich den französischen Bischöfen gegenüber behauptet. Im 15. Jahrhundert erwachte die Ahnung des Betruges, im 16. Jahrhundert wurde dieser durch protestantische Gelehrte zur Gewissheit gebracht.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 813-814.
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