Tierfabel

[975] Tierfabel. Die Tierfabel, welche im Kleide einer scheinbar der Tierwelt entnommenen Szene eine für die Menschenwelt berechnete Lehre, eine Erfahrung oder Warnung enthält, stammt aus dem Orient; bei den Indiern ist sie vertreten durch die Pantschatantra und die aus dieser Sammlung hervorgegangenen Bearbeitungen Hitopadesa und Bidpai, bei den Griechen durch Äsop und bei den Römern namentlich durch Phaedrus. Das Mittelalter überkam die Fabeln des Altertums vornehmlich aus einer prosaischen Fabelsammlung eines gewissen Romulus, der auf Äsop beruht; es gibt aber daneben noch einige andere, teils in Prosa, teils in Versen verfasste Fabelsammlungen des Mittelalters. Mit ihnen mischten sich orientalische Tierfabeln, die man aus den Novellenbüchern kennen lernte, aus der Disciplina clericalis, den Gesta Romanorum, den sieben weisen Meistern (vgl. den Artikel Novellen). Die deutsche Litteratur zeigt für diese Dichtungsart erst Geschmack, nachdem gegen die Mitte des 13. Jahrhunderts die Blüte der höfischen Dichtung vorbei war und die frei schaffende Phantasie die Leitung der Poesie an den Verstand abgegeben hatte. Der älteste Fabeldichter ist der Stricker; ihm folgt mit einer Edelstein genannten, um 1330 gedichteten Sammlung von 100 Fabeln der Berner Predigermönch Ulrich Boner, es ist das erste in deutscher Spruche gedruckte Buch; Bamberg 1461; dann Heinrich von Müglin, der seine Fabeln in lyrischer Strophenform dichtete, während die übrigen Fabeldichter das gewohnte Reimpaar anwendeten; auch in den Renner des Hugo von Trimberg sind vielfach Fabeln eingeschoben. Der ahd. Name für diese lehrhaften, ohne Zweifel von den Tierepen beeinflussten Tierfabeln, denen meist die Lehre gesondert beigefügt ist, ist bîspel, zu ahd. und mhd. das spei = Rede, Erzählung, Sage, woraus erst nhd. Beispiel wurde. Erst im 15. Jahrhundert kehrte man zu der ursprünglichen Form der Fabel zurück, zur Prosa, und zwar übersetzte der Ulmer Arzt Heinrich Steinhöwel sowohl die Fabeln des Äsop als den indischen Bidpai, den letztern unter dem Titel Buch der Beispiele der alten Weisen, und zwar aus einer lateinischen Bearbeitung,[975] welche im 13. Jahrhundert Johann von Capua unter dem Titel directorium humanae vitae verfasst hatte. Steinhöwel's Äsop erschien vor 1480, das Buch der Beispiele 1483. Beide Bücher bewiesen durch die zahlreichen Neudrucke, die sie durch mehr als ein Jahrhundert hindurch erlebten, wie sehr jetzt die Zeit der Fabel geneigt war. Durch die Vorliebe und Empfehlung Luther's, der selber äsopische Fabeln übersetzte und veröffentlichte, gewann die Gattung noch mehr Einfluss, so dass nun im 16. Jahrhundert die Zahl der gereimten und ungereimten, kurzen und ausführlichen Fabelsammlungen sehr gross wird. So schrieb Sebastian Brant Fabeln in Prosa, Hans Sachs als Meistergesänge und in Spruchform. Weit verbreitet waren die Fabeln des Erasmus Alberus, gest. 1553, der auch geistliche Lieder dichtete; ihr Name ist »das Buch von der Tugend und Weisheit«; ebenso der »Esopus, ganz neu gemacht und in Reimen verfasst, mit sampt hundert neuer Fabeln« von Burkhardt Waldis; noch andere Sammlungen haben Hartmann Schopper, Nathan Chyträus, Daniel Holtzmann, Huldrich Wolgemut veranstaltet. Mit dem Aufleben des Opitzischen Geschmackes verschwindet die Fabel für längere Zeit fast ganz aus dem Gesichtskreise der deutschen Litteratur, und erst im 18. Jahrhundert erhielt sie durch den Vorgang La Fontaines' und durch das Gewicht, das die Zürcher Kritiker Bodmer und Breitinger auf diese Gattung legten, erneuerte Teilnahme.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 975-976.
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