Totentanz

Fig. 155. Aus Holbeins Totentanz.
Fig. 155. Aus Holbeins Totentanz.

[986] Totentanz. Unter die humoristisch-allegorischen Lieblingsfiguren des ausgehenden Mittelalters zählt nächst dem Narren und dem Teufel namentlich der Tod. Schon früh war die Personifizierung des Todes nichts ungewöhnliches: man stellte ihn, einem biblischen Bilde[986] folgend, dar als Ackermann, der den Garten des Lebens jätet und die Blumen bricht, der über das Schlachtfeld schreitet und es mit Blut düngt, mit Schwertern furcht und mit Leichen ansät; oder als König, der durch die Lande fahrend seine Heerscharen, die Sterbenden, sammelt, der seinen Feinden, den Menschen, Krieg ankündigt, gewappnet auszieht und sie gefangen nimmt, der sie in sein gastliches Haus oder als Richter vor seinen Gerichtsstuhl ladet; Krankheiten sind seine Boten, Zweikämpfe und Schlachten seine Prozesse. Seit dem 14. Jahrhundert nimmt man die Bilder des Todes mit Vorliebe aus dem niedern Alltagsleben, nennt den Kampf ein Beichtehören, ein Ablass und Segen-Erteilen, den Tod ein Feierabend machen, oder man setzte den Tod ans Schachbrett, wo er den Figuren desselben, als Päpsten, Kaisern, Königen, Schach oder Matt bietet, oder man dachte sich, der Tod gebe den Menschen ein Gastmahl, einen Trunk, mit Musik und Tanz, überhaupt einen Tanz, zu welchem der Tod den Menschen aufspiele. Dieser musizierende und mit den Menschen davon tanzende Tod wurde nun im Beginn des 14. Jahrhunderts zum Gegenstand dramatischer Dichtung und Schaustellung gemacht, so zwar, dass der Tod eine Reihe von Menschen verschiedener Art und Stände musizierend und tanzend entführte, wobei sich der Dialog auf kurze Worte und Gegenworte beschränkte; ohne Zweifel sind solche Spiele von Geistlichen aufgeführt worden; aus Paris ist eine derartige Aufführung aus dem Jahre 1424 bekannt. In Frankreich begann man auch an demselben Ort, wo man die Totentänze zu spielen pflegte, auf die Mauer des Kirchhofs die Bilder des Tanzes zu malen. Dasselbe geschah in Deutschland, und zwar ist das älteste Beispiel ein Gemälde in der Marienkirche zu Lübeck; es weist, gleich dem alten Spiele, bloss 24 Personen auf, und zwar Papst, Kaiser, Kaiserin, Kardinal, König, Bischof, Herzog, Abt, Ritter, Karthäuser, Bürgermeister, Domherr, Edelmann, Arzt, Wucherer, Kapellan, Amtmann, Küster, Kaufmann, Klausner, Bauer, Jüngling, Jungfrau und Kind. Diese tanzen in langer Reihe, je eine Todesgestalt und eine menschliche nebeneinander, also einen Reigen; der Tod ist hier nirgends ein gänzlich entfleischtes Gerippe, welches er im 16. Jahrhundert wird, sondern nur eine eingefallene zusammengeschrumpfte Leiche, ein vielfältig um den Leib sich schlingendes und ihn grossenteils verdeckendes Grabtuch tragend; der letzte Tod des Lübecker Totentanzes führt, in Erinnerung an jenen Ackermann, den Schnitter Tod, eine Sense. Der Lübecker Totentanz war lange ein Ruhm der Stadt und erweckte vielerlei Nachahmung. Die ältesten oberdeutschen Totentänze sind in Bücherhandschriften oder in Holzschnitten erhalten; sie unterscheiden sich von der niederdeutschen Gruppe durch eine etwas andere Auswahl der Personen, dann dadurch, dass eine kurze, einem Prediger in den Mund gelegte gereimte Vermahnung voraus und nach geht, und dass endlich die Bilder den zusammenhängenden Reigen in einzelne Tanzgruppen auflösen. Sowohl von der Lübecker als von der soeben genannten Holzschnitt-Auffassung abhängig ist der Totentanz im Basler Klingenthal, einem Frauenkloster des Dominikaner-Ordens; er nimmt die Personen der beiden genannten Gruppen zusammen und vermehrt sie durch einige neue bis zu 39; der Tanz ist ebenfalls in lauter einzelne Paare aufgelöst.

In den genannten Gemälden waren die Bilder den Worten untergeordnet, diese das ältere, jene das spätere daraus abgeleitete Element; seit man das Spiel des eigentlichen Totentanzes nicht mehr aufführte,[987] änderte sich das Verhältnis, und die Bilder wurden zur Hauptsache, die Worte traten zurück; die Bilder wanderten jetzt von Ort zu Ort, während die Verse sich änderten oder ganz verschwanden. Muster für alle spätern Totentänze blieb der Klingenthaler von Basel, der zuerst in einem Totentanz des Basler Predigerklosters nachgeahmt, künstlerisch aber von ihm übertroffen wurde. Erst dieser »Tod von Basel« wurde das aufgesuchte Wahrzeichen der Stadt und ein Sprichwort des Volkes und das nähere Vorbild aller folgenden Darstellungen, so in den Predigerklöstern zu Strassburg und zu Bern, die letztere von Nikolaus Manuel, welcher Maler, Dichter, Staatsmann zugleich war und seine geniale Laune in den Linien und Versen seines Totentanzes gleich originell spielen zu lassen verstand. So ist der Basler Tod auch Veranlassung geworden zu den Holzschnitten Holbeins, die als lmagines mortis seit 1530 erschienen. Hier sind nun eine beliebige Zahl von Personen zu einer Gruppe vereinigt und als geschlossene Bilder komponiert, auch ist der Tanz aufgegeben und der Tod schreitet und greift sonst wie auf die jedesmal angemessene Weise in das Treiben der Menschen hinein. Erst hier ist auch der Tod als vollkommenes Gerippe aufgefasst. Dazu Fig. 155 (Kunsthist. Bilderbogen). Die beigegebenen Verse verfasste zuerst auf Französisch Corroret, dann, sie übersetzend, auf Lateinisch Georgius Aemilius. Dass Holbein auch den Grossbasler Totentanz gemalt habe, war eine grundlose Sage. Wackernagel, kl. Schriften, I, 302–375. Vgl. J.C. Wessely, die Gestalten des Todes und des Teufels in der darstellenden Kunst. Leipzig 1876.

Quelle:
Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 986-988.
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