Attes

[474] ATTES, æ, Gr. Ἄττης, ου, Bor.

1 §. Namen. Dieser wird sehr unterschieden ausgesprochen. Einige schreiben ihn, wie er hier steht; Nicand. ap. Nat. Com. lib. II. c. 1. andere hingegen schreiben dafür Attis, Diod. Sicul. lib. III. c. 59. p. 134. die dritten Atys, Catull. Carm. 64. die vierten Attin, ini, die fünften Attys, yos, u.s.f. Scaliger ad Catull. l. c. und zwar soll solcher Namen, nach einigen, von dem phrygischen Worte Aagos, eine Ziege, herkommen, weil man geglaubet, daß ihn dergleichen anfangs gesäuget, Banier Entret. VIII. ou P. I. p. 217. oder vielmehr, weil man ihn, als weggesetzet, gefunden und mit Ziegenmilch auferzogen. Timoth. ap. Arnob. lib. V. Dagegen wollen andere, daß er einerley mit ἅδης, sey, beyde aber von dem ebräischen Worte Adam herkommen. Voss. Theol. gentil. lib. II. c. 60. Er wurde hiernächst auch Papa genannt, Diod. Sic. lib. III. c. 58. p. 184. wovon aber, wenn solches ein phrygischer Namen ist, keine Ursache zu geben steht.

2 §. Herkommen. Seine Mutterwar Nana, des Königes Sarganus Tochter, welche einen schönen Granatapfel fand, und in den Busen steckete, allein davon auch diesen Attis bekam, weil solcher Apfel von dem Blute erwachsen war, welches auf die Erde floß, als Bacchus den Agdistis im Schlafe entmannete. Voss. Theol. gentil. lib. I. c. 29. ex Arnobio & aliis. Doch geben ihn auch einige für des Calaus, Königes in Phrygien, Sohn an, der als ein Verschnittener von Mutterleibe gekommen sey. Pausan. Achaic. c. 17. Und noch andere wollen gar nicht wissen, woher er entsprossen sey.

3 §. Stand und Schicksal. Weil ihn einige Hirten gefunden, so zogen sie ihn auch mit auf, und er wurde ein Mensch von einem sehr guten Ansehen. Da aber des Möonis, Königes in Phrygien Tochter, Cybele, auch weggesetzet, und unter die Hirten gerathen war, so warf sie ihre Augen auf solchen Attis; [474] sie wurden auch endlich so gute Freunde mit einander, daß sie darüber aus einer Jungfer zur Frau wurde. Indessen trug es sich zu, daß sie für des Königes Prinzeßinn erkannt und wieder zu ihrem Vater genommen wurde, der aber, als er ihr Verbrechen erfuhr, den Attis dafür hinrichten und unbegraben liegen ließ, worüber Cybele dergestalt außer sich kam, daß sie, als rasend, im Lande herum schweifete. Wie nun das Land mit einer großen Unfruchtbarkeit und die Menschen mit einer schweren Krankheit befallen wurden, so wurde das Orakel um Rath gefraget, welches denn befahl, die Cybele göttlich zu verehren, und den Attis geziemend zu begraben. Allein, es hatte die Länge der Zeit diesen Körper so sehr verzehret, daß man nichts mehr von solchem fand, daher denn die Phrygier ein dem Attis ganz gleiches Bild machen ließen, und solchem die anbefohlene Ehre erwiesen. Diod. Sicul. lib. IV. c. 59. p. 134. Andere erzählen jedoch die Sache ganz anders, und melden, daß er von der Cybele sehr werth gehalten worden, weil er deren Verehrung zuerst eingeführet: solches aber habe den Jupiter so verdrossen, daß er ein großes wildes Schwein abgeschicket, welches die Aecker verwüstet, und, als unter andern auch Attes solchem mit wehren helfen, sey er von demselben umgebracht worden. Hermesianax ap. Nat. Com. lib. II. c. 1. p. 95. Noch andere hingegen melden, er sey zu Schiffe aus Phrygien mit einem Haufen seines Gleichen ungefähr in einen geheiligten Wald der Cybele gekommen, aber darinnen mit den andern so unsinnig geworden, daß sie sich insgesammt das weggeschnitten, was sie zu Mannsvolke gemacht. Als er aber nach einem tiefen Schlafe wieder zu sich selbst gekommen, so habe er seinen Zustand aufs heftigste bejammert. Indem er sich nun wieder zurück nach Hause begeben wollen, so habe die Cybele ihm einen großen Löwen entgegen gestellet, der ihn gezwungen, in den Wald zurück zu kehren, in welchem er so dann seine übrige Zeit vollends zugebracht. Catull. de Aty s. Carm. 64. & [475] adid. Muret. Jedoch soll dieser ein ganz anderer Attis gewesen seyn. Is. Voss. ad h. Carm. Noch andere geben vor, es habe sich Cybele in ihn verliebt, da sie bereits ziemlich alt gewesen. Er verachtete sie aber, ob sie gleich eine Königinn war. Dieses verursachete, daß ihm Midas, König zu Pessinus, seine Tochter zur Gemahlinn geben wollen. Weil er sich aber vor der Cybele tollen Liebe fürchtete, so ließ er am Tage des Beylagers die Stadt wohl verschließen. Nichts destoweniger hob doch Cybele die Mauren selbst in die Höhe, und kam also mit zur Hochzeit, da denn alles wie rasend wurde. Weil sich nun Attes unter eine Fichte niedergeleget hatte, so ließ sie ihn daselbst entmannen. Voss. Theol. gent. lib. I. c. 30. Dieses schmerzete seine Geliebte dergestalt, daß sie sich selbst aus Verzweifelung umbrachte. Arnob. adv. Gent. L. V. p. 159. Indessen soll ihn doch Cybele hernach auf ihrem Wagen mit herum geführet haben, und ungeachtet sie bereits eine alte Vettel, er aber auf besagte Art verschnitten gewesen, ihren geilen Willen gegen ihn nicht haben bergen können. Minut. Felix Octav. c. 21. §. 11. Einige wollen, er sey schon ihr Priester gewesen und habe ihr eine ewige Keuschheit gelobet. Weil er aber durch die Reizungen einer schönen Nymphe Saugaritis sich habe verleiten lassen, sein Gelübde zu brechen, so habe er sich hernach dafür auf solche Art bestrafet. Ovid. Fast. L. IV. 225. sq. Woraus man muthmaßen könne, daß ihm Cybele, die sich in ihrem hohen Alter in ihn verliebet, ihm einen Liebestrank eingegeben, welcher zu stark gewesen und ihn also zu der Thorheit verleitet, sich zu entmannen, wie Bannier Erl. der Götterl. III B. 621 S. will, finde ich nirgend. In einer andern Erzählung kommt von der Liebe der Cybele gar nichts vor; sondern es heißt, da er als ein schöner junger Mensch ihrem Gottesdienste vorstund, so verliebete sich der König seiner Stadt in ihn. Weil er nun merkete, daß ihm von demselben Gewalt geschehen möchte, so entfloh er in einen Wald. Er wurde aber ausgekundschaftet; und da [476] er sich sonst nicht weiter zu retten wußte, so schnitt er seinem Schänder das männliche Glied ab. Dieser rächete sich sterbend auf gleiche Art an ihm, da ihn denn die andern Priester der Cybele halb todt unter einer Fichte fanden. Sie trugen ihn in ihren Tempel und sucheten, ihn wieder zu erquicken, aber vergebens. Er starb, und man begieng sein Leichenbegängniß mit großen Wehklagen, welches jährlich zu seinem Andenken wiederholet, und die Fichte der Cybele geweihet wurde. Ja, um ihn noch desto mehr zu ehren, mußten künftig alle Diener der Cybele verschnitten seyn. Serv. ad Virg. Aen. IX. 116.

4 §. Verehrung. Diese genoß er insonderheit in Phrygien, Suidas in Ἄττις, s. Tom. I. p. 370. und wurde er daher der Gott aus Pessinuns genannt. Tertullian. Apologet. c. 15. p. 152. Es soll sie noch die Cybele selbst eingeführet haben. Voss. Theol gent. lib. I. c. 20. Da er auch von dieser Göttinn endlich in eine Eiche soll seyn verwandelt worden, so wurde daher eben solcher Baum demselben für heilig gehalten. Banier Entret. VIII. on P. I. p. 219. Man will ihn noch in einer kleinen Bildsäule aus Erze wahrnehmen, welche einen jungen Menschen mit einer phrygischen Mütze auf dem Kopfe vorstellet, der in der rechten Hand eine von Schilfröhren verfertigte Pfeife und in der linken einen Hirtenstab oder eine etwas krumme Keule trägt. Sein Gewand ist mit engen Aermeln unter einem kurzen Ueberwurfe und öffnet sich unter dem Gürtel über dem Bauche, so daß man denselben ganz bloß sieht, schließt sich aber über der Scham wieder zusammen, und trägt er mit Heften zugemachte Beinkleider. Beger. Thes. Brand. T. III. p. 312. Man glaubet ihn nebst der Cybele auch auf einer thönernen Lampe zu finden, wo er mit einem kurzgeschürzten Hirtenkleide angethan ist, eine phrygische Mütze aufhat und eine Handpauke zu schlagen scheint, wobey er sitzt und den Kopf nach der hinter ihm stehenden Cybele umwendet und sie ansieht. Borioni Collect. antiq. Roman. tab. XC. p. 64.

[477] 5 §. Eigentliche Historie. Wie die Cybele allerdings für eine wahre Person zu halten ist: so ist auch nicht zu zweifeln, daß Attes nicht dergleichen gewesen. Es hindert dabey nichts, daß man nicht glauben könne, was Diodorus von beyden erzählet. Will man aber doch solchen Attis auch für einen Priester der Cybele halten, welcher sich nicht keusch genug erwiesen, und dafür entmannet worden sey. Banier. Entret. VIII. ou. P. I. pag. 219. Ebend. Erl. der Götterl. III B. 620 S. so wird es auch frey stehen. Jedoch, da die Erzählungen von ihm einander sehr entgegen sind: Voss. Theol. gent. lib. I. c. 20. so muß man zufrieden seyn, daß man nicht errathen kann, welchem am ersten zu glauben sey, wo man nicht dafür halten will, daß mehr als ein Attes gewesen, und sie also auf ihre Art alle Recht haben können.

6 §. Anderweitige Deutung. Da Cybele nach gemeiner Deutung die Erde ist, so verstehen einige durch solchen Attis die Feldfrüchte, welche die Erde liebet; und da besagter Attes verschnitten worden, so soll es bedeuten, daß solche Früchte in der Aernde abgeschnitten werden; daß er begraben worden, soll der Früchte Aufheben in den Scheuren bemerken; wenn er aber auch nach einigen wieder lebendig geworden, so wird es auf die Wiederaussäung des Getraides gedeutet. Iul. Fermicus ap. Voss. Theol. gent. lib. II. c. 54. Andere verstehen durch ihn die Sonne, und da er als ein Hirt seine Pfeife und seinen Hirtenstecken führet, so deuten sie erstere auf die Winde, welche ihr Wesen von der Sonne haben sollen, den andern auf der Sonne Gewalt und Macht, womit sie alles regiere, wobey sie denn solchen Attis auch für einerley mit dem Adonis. Osiris. Apollo und so ferner halten. Macrob. Sat. lib. I. c. 21. Daher er denn auch auf einigen alten Aufschriften ein Regierer des Jahres und Herr der Monate Menotyrannus genennet wird. Salmas. ad Lamprid. Heliogab. sect. 7. Dieser Meynung scheinen auch die gewesen zu seyn, welche wollen, daß Attes alles in der ganzen Welt wisse, [478] weil die Sonne alles in derselben sieht und beleuchtet. Ap. Voss. l. c.

Quelle:
Hederich, Benjamin: Gründliches mythologisches Lexikon. Leipzig 1770., Sp. 474-479.
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