[1796] ORESTES, æ & is, Gr. Ὀρέστης, ου, (⇒ Tab. XXX.)
1 §. Aeltern. Sein Vater war Agamemnon, König zu Mycene, und oberster Feldherr der Griechen vor Troja, seine Mutter aber Klytämnestra, des Tyndareus, Königs zu Sparta, Tochter. Hygin. Fab. 119. & 117.
2 §. Auferziehung. Als Agamemnon vor Troja gieng, war er noch sehr klein, und hatte zu seiner Amme oder doch Wärterinn die Arsinoe, Pindar. Pyth. Od XI. v. 26. oder, wie sie andere nennen, die Laodamia. Pherecyd. ap. Nat. Com. l. VIII. c. 2. Allein, als seine Mutter mit dem Aegisthus ihre Ehebrecherey anfieng, so wollte dieser solchen Orestes vor allen Dingen aus dem Wege geräumet wissen; seine Wärterinn aber, sie sey nun Arsinoe, oder Laodamia, brachte ihn in Sicherheit, wogegen Aegisthus ihren eigenen Sohn hinrichtete. Pindar. l. c. Pherecyd. l. c. Andere wollen, es habe ihn seine eigene Schwester, Elektra, gerettet, und insonderheit dem Strophius anvertrauet, auch nicht verrathen, ungeachtet sie, nachdem ihr der Tod mehr als einmal gedrohet worden, deshalber in ein enges Gefängniß gehen mußte. Seneca Agamemn. v. 922. So wollen auch einige, es habe ihn Talthybius weggebracht, und dem Idomeneus übergeben, welcher sich damals zu Korinth aufgehalten. Dict. Cret. l. VI. c. 2. Am sichersten scheint es zu seyn, daß er nach Phocis zu dem Strophius, welcher Agamemnons Schwester zur Ehe hatte, gebracht, und bey solcher vollends auferzogen worden. Hygin. Fab. 117.
3 §. Thaten. Wie das Glück ihn und den Pylades, des Strophius und seines Vaters Schwester Sohn, zusammen geführet, und ihn an solchem einen Freund gegeben, der den Alten zu einem besondern Exempel dießfalls dienen müssen: Cicer. de Amic. c. 7. [1796] p. 1320. & ae Fin. B. & M. l. II. c. 24. p. 1069. so bewerkstelligte er mit solchem zuförderst seine Rache an dem Aegisthus. Er gab sich für einen Bothen aus, der die Nachricht nach Mycene überbrachte, daß Orestes gestorben sey; und kurz hernach kam Pylades, und brachte einen Todtenkrug mit Asche, unter dem Vorgeben, daß solche von dem verbrannten Orestes sey. Wie nun dem Aegisthus nichts liebers seyn konnte, als daß dieser sein so gefährlicher Feind todt sey: also nahm er beyde mit größten Freuden auf, sie aber ersahen in der Nacht ihre Gelegenheit, und richteten sowohl den Aegisthus, als die Klytämnestra, hin. Hygin Fab. 119. & Serv. ad Virgil. Aen. IV. v. 471. Nach einigen hatte sich Klytämnestra mit ihrem Aegisthus in den Tempel der Pallas, außerhalb der Stadt begeden, um den Göttern für diese gute Post zu danken, und sie wurden daselbst vom Orestes überfallen und niedergemacht. Nat. Com. l. IX. c. 2. Od er nun wohl diesen Mord selbst auf des Orakels Befehl begieng: Eurip. Orest. 28. & 416. so plageten ihn doch die Furien dergestalt deswegen, daß er sich nirgends zu lassen wußte. Ej. Iphigen. in Taur. 79. Er sah überall seine mit Fackeln und schwarzen Schlangen bewaffnete Mutter; und da er auf Zurathen des Pylades in den Tempel des Apollo gehen wollte, so befanden sich die Furien auf den Schwellen des selben, und trieben ihn zurück. Virg. Aen. IV. 471. & Serv. ad h. l. In solchem Zustande gieng er nach Athen. Allein, hieselbst verklagten ihn, nach einigen, selbst die Furien, nach andern Tyndareus, der Klytämnestra Vater, und, nach den dritten, Erigone, des Aegisthus und der Klytämnestra Tochter, vor dem Areopagus. Als nun die Richter über ihn votirten, so waren die Stimmen gleich, und er kam also mit dem Leben davon. Indessen hörten doch die Furien nicht auf, ihm zuzusetzen; und als er deshalber wieder das Orakel zu Delph fragte, so hieß ihn solches bey der taurischen Diana Rath suchen. Er machte sich also mit dem Pylades dahin: allein, die Hirten ergriffen [1797] ihn alsofort und führeten ihn vor den König Thoas, welcher ihn der Priesterinn besagter Göttinn, der Iphigenia, überschickte, daß er sollte geopfert werden. Tzetz. ad Lycophr. v. 1374. Hier erängele sich nun der großmüthige Streit unter ihm und dem Pylades, daß sich dieser für den Orestes angab, da solcher nur allein sterben sollte. jener aber es ihm mit Rechte streitig machete und behauptete, daß er, als der wirkliche Orestes, sterben müßte. Cic. de amicit. c. 7. Ovid. de Pont. l. III. ep. II. 58. sqq. Inzwischen gab er sich der Iphigenia als ihren Bruder zu erkennen; und sie giengen darauf insgesammt mit der Bildsäule der Diana durch. So bald sie an den Berg Melantium kamen, so verlor sich des Orestes Unsinnigkeit; daher denn solcher Berg den Namen Amanus bekam. Tzetz. l. c. Einige wollen, dieß sey nicht weit von Gytheum in Lakonien geschehen. Daselbst setzete er sich auf einem rohen Steine nieder und empfand Linderung; daher denn solcher Stein in der dorischen Sprache Jupiter Kappotas, oder besser Kappautas, der beruhigende, der zur Ruhe bringende Jupiter genannt wird. Pausan. Lacon. c. 22. p. 204. Doch wollen einige daselbst lieber λευς παυσωλᾶς, der Ruhestein, der Lindrungsstein lesen. Meziriac sur les Ep. d'Ovid. T. II. p. 284. Nach andern erängele sich dieses erst, als ihm die Furien in schwarzer Gestalt begegneten, und er sich selbst den einen Finger weg biß, welche denn dadurch versöhnet wurden, eine weiße Gestalt annahmen, und also machten, daß er wieder zu sich selbst kam. Serv. ad Virg. Aen. III. v. 331. & Nat. Com. l. c. Er soll nebst beyden erwähnten Personen, auch deren Tochter, Helena, hingerichtet haben: Ptol. Hephæst. l. IV. p. 319. und es soll ihn Minerva selbst, durch Beylegung ihrer Stimme in dem Areopagus, losgesprochen haben. Aeschyl. Eumen. v. 743. & Stanlej. ad il. Zur Dankbarkeit dafür errichtetete er hernach der Minerva Area einen Altar. Pausan. Att. c. 28. p. 52. Hierauf wurde er denn von den Trözeniern vollends [1798] mit den Göttern ausgesöhnet. Pausan. Cor. c. 31. p. 144. Daß ihnen seine That nicht misfallen, haben einige aus dem hohen Alter, das er erreichet, folgern wollen. Velleius l. I. c. 1. Er konnte aber nach des Aegisthus Hinrichtung nicht sofort Besitz von dem Königreiche Mycene nehmen, sondern mußte zufrieden seyn, daß man ihn mit der Flucht entwischen ließ. Hygin. l. c. Indessen bekam er doch das Königreich zu Argos, und bemächtigte sich auch mit einem zusammen gebrachten Heere von Phocensern und Arkadiern, des Königreichs Sparta, woselbst man sich ihm, als einem Enkel des Tyndareus, dennoch lieber, als des Menelaus unechten Kindern, unterwarf. Pausan. Cor. c. 18. p. 117. So soll er auch Achaia besessen, sich aber auf des Orakels Befehl nach Arkadien begeben, Id. Arcad. c. 5. p. 461. und endlich den Aletes, des Aegisthus Sohn, zu Mycene überfallen und niedergemacht haben, wobey er der Erigone ein gleiches thun wollen, die ihm aber Diana aus den Händen entrücket Hygin. Fab. 122. Er gab darauf dem Pylades seine Schwester Elektra zur Gemahlinn. Tzetz l. c. Paus. Cor. c. 16. p. 114. Weil ihm indessen Pyrrhus, des Achilles Sohn, die ihm versprochene Hermione, des Menelaus Tochter, weggenommen hatte, so fand er Gelegenheit, diesen selbst in dem Tempel des Apollo zu Delph dafür hinzurichten. Velleius & Tzetz ll. cc. Hygin. Fab. 122. 123. & alii. Er soll auch die Stadt Orestias gebauet und sie das orestische Argos genannt haben, wovon denn das ganze Land umher den Namen Orestias bekommen. Strabo l. VII. p. 326. Solin. c. 9.
4 §. Gemahlinn und Kinder. Erstere war nur erwähnte Hermione, mit welcher er den Tisamenus zeugete. Pausan. Cor. c. 18. p. 117. Andere nennen denselben nach ihm Orestes, unter welchem die molossischen Volker, die mit seinem Vater nach Macedonien gekommen, sich Oresten nannten. Steph. Byz. in Ὀρεσται. Jedoch soll er auch selbst des Aegisthus und der Klytämnestra [1799] Tochter, Erigone, so fern zur Gemahlinn gehabt haben, daß er mit ihr wenigstens den Penthilus gezeuget. Cinæthon æp. Pausan. l. c. cf. Tzetz. ad Lycophr. v. 1374.
5 §. Tod und Begräbniß. Er starb im neunzigsten Jahre seines Alters, nachdem er siebenzig Jahre regieret hatte. Petav. Ration. Temp. l. I. c. 11. P. I. bœcler. & Voss. ad Vellej. l. I. c. 1. Nach einigen stach ihn eine Schlange zu Orestia, in Arkadien, daß er starb; Tzetz. ad Lycophr. v. 1374. & Steph. Byz. in Ὀρέσται. Nach andern aber nahm er unvermuthet seinen Abschied aus der Welt, da er, nach dem Orakel, mit einer Colonie Aeolier in die Insel Lesbos übergegangen war. Eurip. ap. eumd. l. c. Er wurde darauf nach einigenbey Thyrea, Pausan. Arcad. c. 54. p. 542. nach andern aber zu Tegea begraben, dessen Gebeine die Spartaner sodann von dar nach Lacedämon brachten, woselbst sie unsern von dem Tempel der Parcen wieder begraben wurden. Id. Lacon. c. 11. p. 181. Denn als gedachte Spartaner in dem Kriege mit den Tegeaten allezeit zu kurz kamen, so fragten sie das Orakel um Rath, welches ihnen des Orestes Gebeine holen hieß. Sie wußten aber nicht, wo sie diese finden sollten, und fragten das Orakel abermal um Rath, welches ihnen denn wiederum eine dunkele Antwort ertheilete. Inzwischen kam einer, mit Namen Lichas, nach Tegea, und kehrete bey einem Schmidte ein. Dieser erzählete ihm unter andern, daß er in seinem Hofe einen Sarg und Körper von sieben Schuhen lang gefunden. Weil nun solchen Lichas andere Umstände des Orakels mehr auf die Gedanken brachten, daß solcher Körper des Orestes seiner sey, so ließ er sich zum Scheine von den Lacedämoniern ins Elend jagen, miethete besagtem Schmidte sein Haus ab, und brachte die Gebeine des Orestes glücklich davon, worauf denn die Lacedämonier allemal der Tegeaten Meister blieben. Herodot Clio. I. 67 sqq. Paus. Lacon. c. 3. p. 162.
6 §. Verehrung. Die Trözenier sollen [1800] ihn nach der Zeit göttlich verehret haben. Nat. Com. l. IX. c. 2. Von seinen Begebenheiten waren ehemals alle Schaubühnen voll. Virgil. Aen. IV. v. 471. & ad eum Taubmann. & Emmeness l. c. Aeschylus schrieb eine Tragödie von ihm, die aber verloren gegangen: Fabric. Bibl. Gr. l. II. c. 16. §. 7. doch gehören noch dessen Eumenides zu seiner Geschichte, die eine Folge von den Choephoren sind, welche eben dieselbe betreffen. Brumoy. Theat. des Grecs. T. III. p. 257. Des Euripides Trauerspiel von ihm aber ist noch vorhanden. Fabric. l. c. c. 18. §. 3.
7 §. Eigentliche Historie und anderweitige Deutung. Er war wirklich ein König zu Mycene, und führete auch an verschiedenen andern Orten, wenn gleich vieleicht nur auf kurze Zeit, die Regierung. Meziriac comment. sur les Epit. d'Ovide T. II. p. 254. sqq. Die Furien, von denen er geplaget wurde, waren nichts, als das böse Gewissen, welches ihn wegen seiner Mutter Hinrichtung peinigte. Nat. Com. l. IX. c. 2. & Omeis Mythol in Orestes, p. 182. Seine Freundschaft mit dem Pylades hat Gelegenheit zu dem Sprichworte gegeben, daß Pylades & Orestes, ein Paar höchst treue und beständige Freunde bedeuten. Martial. l. VI Epigr. II.
Buchempfehlung
Der junge Königssohn Philotas gerät während seines ersten militärischen Einsatzes in Gefangenschaft und befürchtet, dass er als Geisel seinen Vater erpressbar machen wird und der Krieg damit verloren wäre. Als er erfährt, dass umgekehrt auch Polytimet, der Sohn des feindlichen Königs Aridäus, gefangen genommen wurde, nimmt Philotas sich das Leben, um einen Austausch zu verhindern und seinem Vater den Kriegsgewinn zu ermöglichen. Lessing veröffentlichte das Trauerspiel um den unreifen Helden 1759 anonym.
32 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro