Enthymem

[179] Enthymem (enthymêma) heißt eigentlich das im Gemüte Befindliche, das Zurückbehaltene. Man nennt so einen verkürzten Schluß, bei dem etwas unterdrückt ist und unausgesprochen bleibt, z.B. Heute geht der Mond nm Sonnenuntergang auf; denn es ist Vollmond. Entweder wird der [179] Obersatz im Sinne (en thymô) behalten: Epimenides ist ein Kreter, also ein Lügner; oder der Untersatz: Alle Kreter sind Lügner, also auch Epimenides; oder man zieht das Enthymem sogar in einen Satz zusammen: Als Kreter ist Epimenides ein Lügner. Enthymeme sind aber ferner noch folgende Klassen: 1. Entgegensetzungsschlüsse (ratiocinia oppositionis), durch die ein Satz aus dem ändern vermöge des Gegensatzes beider gefolgert wird, und zwar a) Widerspruchsschlüsse (ratiocinia contradictionis): Diese Linien schneiden sich rechtwinklig, also nicht schiefwinklig; b) Widerstreitsschlüsse (ratioc. contrarietatis): Dieser Winkel ist ein rechter, also ist er kein stumpfer; 2. Gleichheitsschlüsse (rat. aequipollentiae), worin ein Satz aus dem anderen gefolgert wird, der nur den Worten nach verschieden ist, z.B.: Gottes Kraft ist unendlich; also ist Gott allvermögend; 3. Umkehrungsschlüsse (conclusiones ad conversam), worin ein Satz durch Umkehrung des ersten gefolgert wird: Kein Mensch ist vernunftlos, also ist kein vernunftloses Wesen ein Mensch; 4. Unterordnungsschlüsse (ratiocinia subalternationis), welche einen Satz aus dem anderen vermöge der Unterordnung folgern, z.B. Alle Wissenschaften bilden den Geist, folglich auch die mathematischen.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 179-180.
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