Naturphilosophie

[386] Naturphilosophie ist die Wissenschaft, welche sich mit dem Wesen und Werden der Welt beschäftigt. Die Alten nannten sie Physik, die Neueren zum Teil Kosmologie; jener Name bezeichnet jetzt die exakte Naturforschung, dieser nur einen Teil der philosophischen Naturforschung, die Lehre von der Entstehung und Beschaffenheit der Weltkörper. Der[386] verbreitetste Name für das Gesamtgebiet der philosophischen Forschung ist jetzt Naturphilosophie. Sie schließt sich eng an die Metaphysik an. In England, wo im allgemeinen die Möglichkeit der Metaphysik geleugnet wird, versteht man dagegen unter Natural Philosophy nur Physik und Chemie. – Die Naturphilosophie als metaphysische Naturlehre hat die Resultate der Naturforschung zu prüfen und zu verwenden und sie zu den Tatsachen unseres Bewußtseins in Beziehung zu setzen; sie hat ferner die Grundbegriffe und Grundsätze, welche die Naturwissenschaft anwendet, zu kritisieren, auch das Naturwissen in letzten Hypothesen abzuschließen. Eine ihrer Hauptfragen ist, was als metaphysisches Grundprinzip des Weltprozesses anzunehmen sei. Die Alten waren bezüglich dieses Grundprinzips zum Teil Dualisten, d.h. sie setzten der Materie den Geist entgegen, so Pythagoras, Anaxagoras und Aristoteles und in neuerer Zeit Cartesius. Die meisten Philosophen dagegen nehmen nur ein Prinzip an, sind also Monisten. Das eine Prinzip kann als stoffliche Vielheit (die Atome des Demokritos und Epikuros) oder als stoffliche Einheit (Hylozoisten und Materialisten) oder als geistige Vielheit (die Ideen Platons, die Monaden des Leibniz und Realen Herbarts) oder als geistige Einheit (die Idee Hegels, die Phantasie Frohschammers, der Wille Schopenhauers) oder endlich als Einheit von Geist und Materie (Spinoza, Schelling) gedacht werden. Infolge der phantastischen Spekulationen der Schellingschen Schule ist die Naturphilosophie selbst lange Zeit in Mißkredit gekommen; besonders die exakten Naturforscher haben sie im 19. Jahrhundert ganz fallen lassen. Aber richtig und in den ihr gesteckten Grenzen betrieben, ist sie zur Begründung einer Weltanschauung unentbehrlich; ja die Gegner derselben treiben selbst, sobald sie anfangen, ihre exakten Kenntnisse in Zusammenhang zu setzen, Naturphilosophie. Die Prozesse des organischen Lebens, die Existenz chemischer und physischer Kräfte, der Kristallisationsprozeß, die räumliche und zeitliche Existenz der Naturdinge zwingt zur Lösung von Problemen, die über die exakte Forschung hinausreichen. Der Einzelforscher kann für sich die Behandlung dieser Probleme abweisen; aber die Wissenschaft im ganzen stellt diese Probleme auf und muß auch an ihrer Lösung arbeiten. Vg. Schaller, Gesch. d. Naturphilos. von Bacon bis auf unsere Zeit. 1831-1846. F. A. Lange, Gesch. d. Materialismus. 5. Aufl. 1896. E. Dubois-Reymond,[387] Über d. Grenzen d. Naturerkennens. 1872. Derselbe, Die sieben Welträtsel. 1883. A. v. Humboldt, Kosmos. 1845. Helmholtz, Popul. wissenschaftl. Vorträge. 1855. Haeckel, Natürl. Schöpfungsgesch. 1868. W. Ostwald, Vorlesungen über Naturphilosophie. 3. Aufl. Leipzig 1905.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 386-388.
Lizenz:
Faksimiles:
386 | 387 | 388
Kategorien: