[442] Physiognomik (gr. physognômonikê sc. sophia, v. physis = Natur, gnômikê sc. sophia = Erkenntnis) heißt die Kunst, aus den Gesichtszügen eines Menschen einen Schluß auf seinen Charakter zu machen. Die ersten Versuche der Physiognomik fallen ins Altertum. Im Mittelalter beschäftigten sich Albertus Magnus, Battista della Porta und Campanella mit Physiognomik; doch erst Lavater trat 1775 mit großen Ansprüchen an diese vorgebliche Wissenschaft heran. G. Chr. Lichtenberg verspottete ihn 1778, Gall bildete die Physiognomik zur Phrenologie um. – Die Voraussetzung der Physiognomik, daß das Geistige im Körperlichen zum Ausdruck komme, glaubte man schon an der Tierwelt erkennen zu können: dem Löwen legte man nach seinen Zügen Stärke und Großmut, dem Fuchs Verschlagenheit, dem Wolf räuberische Wildheit bei, und Battista della Porta ( 1615) verglich gewisse Menschengesichter mit Tierköpfen. Auch wird man kaum bestreiten, daß es kluge und dumme, verschmitzte und offene Gesichter gibt, daß die Gefühle, Neigungen, Denkweisen, Affekte und Leidenschaften stets in der Physiognomie irgendwie ausgeprägt werden. Dazu aber, um die Physiognomik[442] zu einer Wissenschaft zu erheben, gehört, wie Lichtenberg zuerst erkannte, das Studium der an die Affekte geknüpften Ausdrucksbewegungen (s. d.). Dies Ziel haben J. J. Engel (Ideen zu einer Mimik. 2 Teile. Berlin 1785-1786), Charles Bell (Essays on anatomy of expression. 1806), Huschke (Mimices et physiognomices fragmenta. 1821), Harless (Lehrbuch der plastischen Anatomie), Piderit (System der Mimik und Physiognomik. 2. Aufl. 1886), Ch. Darwin (The expression of emotions. 1871) ins Auge gefaßt. Zuletzt hat Wundt (Grundz. d. phys. Psych. II S. 504 ff.) für die Ausdrucksbewegungen drei Prinzipien, das der direkten Innervationsveränderung, das der Assoziation analoger Empfindungen und das der Beziehung der Bewegung zu Sinnesvorstellungen, aufgestellt. Hiermit ist die Physiognomik auf wissenschaftliche Grundlage gestellt. Aber freilich fehlt noch viel daran, daß auch die letzten Erklärungsgründe für die Ausdrucksbewegungen gefunden und der Kausalnexus zwischen den einzelnen Seelenzuständen und den Einzelheiten des äußeren Habitus nachgewiesen wäre. Die Physiognomik ist also keineswegs eine vollendete und ausgebildete Wissenschaft, sondern nur eine werdende zu nennen. Vgl. Lavater, Physiogn. Fragmente. 1776. C. G. Carus, Symbolik der menschl. Gestalt. 1863. Mehring, Philos. krit. Gesch. der Selbsterkenntnis. III. 1857.